Kooperation durch Mobilität
Spieltheoretische Untersuchung von sozialem Verhalten
Kann in einer Welt voller Egoisten Solidarität entstehen? Ja, meinen Zürcher Soziologen. Mit spieltheoretischen Methoden haben sie gezeigt, dass soziale Mobilität kooperatives Verhalten fördert.
In einer Nachbarschaft voller Betrüger wird auch der eingefleischte Gutmensch irgendwann aufhören zu kooperieren – ausser vielleicht er zieht weg und sucht sein Glück in einer neuen Stadt oder einem neuen Land. Dieses Phänomen untersuchten die Soziologen Dirk Helbing und Wenjian Yu von der ETH Zürich mit spieltheoretischen Methoden. Die Forscher haben gezeigt, dass Mobilität selbst in einer von Eigennutz und Untreue regierten Welt zu plötzlichen Ausbrüchen kooperativen Verhaltens führen kann.
Die Grundlage der Untersuchung stellte das sogenannte Gefangenendilemma dar. Seinen Namen verdankt es einem Gedankenexperiment mit zwei verhafteten Komplizen A und B, denen beiden die Optionen «schweigen» oder «den anderen verraten» offenstehen. Verrät beispielsweise A in seinen Aussagen B, während dieser schweigt, wird A freigelassen, B dagegen zu 10 Jahren Haft verurteilt. Wenn beide gegeneinander aussagen, müssen sie mit je 5 Jahren Haft rechnen. Verhalten sich A und B hingegen wechselseitig kooperativ, indem sie nicht aussagen, müssen sie lediglich mit einer einjährigen Haftstrafe rechnen. Dieses Szenario beschreibt das grundlegende soziale Problem, wonach zwei Individuen miteinander interagieren und die Wahl haben, zu kooperieren oder nicht. Am besten für die Gemeinschaft wäre es, wenn beide kooperieren – aber noch besser fährt der Einzelne, wenn der andere kooperiert, aber man selber nicht.
Seit langem wird auf der Basis des Gefangenendilemmas die Entstehung von Kooperation mittels Simulationen untersucht, in denen sogenannte Agenten (Computerprogramme) die Rolle der Individuen einnehmen. Die Zürcher Forscher haben das Szenario nun um ein zusätzliches Element erweitert, die «erfolgsgetriebene Migration». In ihrem Modell interagieren zahlreiche Agenten mit ihren jeweiligen Nachbarn. Auf ihren eigenen Vorteil bedacht, übernehmen sie die einträglichste Strategie (kooperieren oder verraten) ihrer Nachbarn. Gleichzeitig halten sie aber in ihrer weiteren Umgebung nach einem Platz Ausschau, der eine noch grössere Belohnung verspricht. Falls ein solcher Ort existiert, ziehen sie dorthin – ohne zu wissen, wie sich die neue Nachbarschaft in Zukunft entwickeln wird. Zudem werden Strategien und Ort der Agenten gelegentlich zufällig verändert. Dieses Szenario, in dem sich alle egoistisch (also orientiert am eigenen Nutzen) verhalten und der Zufall die sich zaghaft bildenden «Gemeinschaften» immer wieder durcheinander bringt, ist für das Aufkommen von Kooperation denkbar ungeeignet.
Doch die Analyse unterschiedlichster Ausgangslagen zeigt, dass die erfolgsgetriebene Migration im Verbund mit der Imitation des erfolgreichsten Nachbarn der zentrale Faktor für die Bildung stabiler Gemeinschaften von Kooperierenden ist. Sowohl «Migration» als auch «Imitation» müssen dabei erlaubte Strategien für die Agenten sein. So kann selbst dann Kooperation entstehen und sich dauerhaft festsetzen, wenn zu Beginn einer Simulation alle Agenten «Verräter» sind.
Aus früheren Untersuchungen weiss man, dass es neben der Mobilität auch andere Faktoren gibt, die kooperatives Verhalten fördern. Dazu zählt etwa das «altruistic punishment», also die Möglichkeit, «Verräter» unter Hinnahme persönlicher Nachteile zu bestrafen. Das neue Modell könne aber neben der Entstehung von Kooperation auch erklären, wie sich dieses Verhalten räumlich ausbreite und wie sich das soziale Umfeld auf die Individuen auswirke, meint Helbing. Die Ergebnisse der Computersimulation stützen die intuitive Vorstellung, dass räumliche und soziale Mobilität wichtige Voraussetzungen für die Entstehung und Verbreitung sozialen Verhaltens sind, weil Individuen ein kooperatives Umfeld bevorzugen, wenn sie die Wahl haben.