Wolf: Was soll eine Jugend ohne Drogen tun?
Zur Person: Jean-Claude Wolf hat seit 1993 den Lehrstuhl für Ethik und politische Philosophie der Universität Freiburg inne. In bisher mehreren Publikationen äusserte sich Wolf zu den grundsätzlichen Fragen, die durch die Drogendiskussion aufgeworfen werden.
Dürfen so vernünftige Menschen wie Philosophen überhaupt Drogen nehmen?
Jean-Claude Wolf: Ich würde meinen: Ja. Doch man muss sicher sehen, dass man als Philosoph, der den Rausch oder sogar die Betäubung als mögliche Quelle des Glücks bejaht, eine Aussenseiterposition einnimmt.
Kann man also sagen, dass der Gegensatz von Rausch und Vernunft Drogen gerade dem Philosophen suspekt machen?
Wolf: Da muss man differenzieren. Heutzutage ist deutlich geworden, dass es nicht nur einen Begriff von Vernunft gibt. Doch es gibt einen dominierenden Begriff von Vernunft in der Tradition und dieser läuft auf absolute Selbstkontrolle hinaus. Und Klarheit ist Voraussetzung von Selbstkontrolle, so dass Substanzen, welche diese Klarheit unterminieren, abgelehnt werden.
Es gibt also Beispiele von „drogenfeindlichen“ Philosophen?
Wolf: Sicher. So ist einmal Immanuel Kant zu nennen, der von diesem traditionellen Vernunftbegriff ausgeht und Drogen konsequenterweise ablehnt. Sich berauschen ist dann gleichbedeuten mit dem Wegwerfen der eigenen Menschenwürde. Diese Sichtweise hat eine lange Geschichte und wurzelt nicht zuletzt in der christlichen Tradition und der Vorstellung des Askese.
War „Drogenfeindlichkeit“ demnach Bestandteil einer „lustfeindlichen Philosophie“?
Wolf: Diese Zusammenhänge sind sicher vorhanden. Jene Philosophen, angefangen mit Epikur, die offen Lust befürwortet haben, wurden oft als „Schweinephilosophen“ bezeichnet.
Gibt es nicht auch Philosophen, die Drogenkonsum als Form der Bewusstseinserweiterung auffassten und demnach den Drogen positives abgewinnen konnten?
Wolf: Diese Auffassung findet sich vor allem in den 60er Jahren und ist sehr zeitgebunden. Man hat damals den Drogen sogar eine gewisse emanzipatorische Funktion zugebilligt und in diese Substanzen ähnliche Erwartungen gesteckt wie in die Befreiung der Sexualität, die sogenannte „sexuellen Revolution“. Beides erwies sich als Illusion, denn es zeigte sich, dass man diese Erfahrung der Ekstase weitgehend kommerzialisieren und damit in die Gesellschaft integrieren konnte. Eine sozialkritische Funktion kann man pauschal weder den Drogen noch dem Sex zuschreiben.
Haben gewisse Philosophen auch selbst mit Drogen experimentiert?
Wolf: Ja sicher. Bekannt sind etwa der Psychologe und Religionsphilosoph William James, der um die Jahrhundertwende mit Lachgas experimentierte, oder natürlich Aldous Huxley, der seine entsprechenden Erfahrungen mit Halluzinogenen auch niederschrieb und veröffentlichte. Vor 1850 findet sich eine ganze Reihe weiterer Beispiele. In jener Zeit war Opium das einzige wirksame Schmerzmittel und viele Menschen wurden damals abhängig. Man hat diese Abhängigkeit damals aber nicht als Sucht oder Krankheit verstanden.
Doch ist es nicht gerade diese Abhängigkeit, welche Drogen besonders problematisch macht?
Wolf: Eine Abhängigkeit ist per se nichts schlechtes. Menschen sind von sehr vielen Dingen abhängig. Es ist zudem nicht zwingend, dass man unter Abhängigkeiten leidet. Dazu braucht es einen bestimmten Kontext, der es erst ermöglicht, eine Abhängigkeit als Problem zu verstehen.
Aber Sucht ist doch ein Problem?
Wolf: Der Suchtbegriff ist keineswegs ein präziser Begriff. Zwar glauben wir, auch in der Alltagserfahrung zwischen durchschnittlichen Gewohnheiten und und weit stärkeren inneren Zwängen unterscheiden zu können, doch handelt es sich dabei lediglich um graduelle Unterschiede. Der Suchtbegriff ist aber auch deshalb suspekt, weil er eher ein Schimpfwort der Alltagssprache als ein klinischer Klassifikationsbegriff darstellt. Wir decken schliesslich mit dem Wort „Sucht“ ein ganzes Spektrum von Abhängigkeiten ab, was den Begriff ebenfalls unpräzis macht.
Tatsache bleibt, dass sich viele Menschen durch ihren Drogenkonsum letztlich in den Ruin treiben. Gibt es ein Recht auf Selbstzerstörung?
Wolf: In dieser Form ist die These zu hart. Es gibt nicht nur das Prinzip, dass man machen kann, was man will - also auch sich selbst zerstören. Es gilt auch das Prinzip der Fürsorge. Mir ist es sicher nicht egal, wenn sich mein bester Freund durch Drogenmissbrauch selbst ruiniert. Auch kann es eine Person sehr unglücklich machen, wenn andere sich nicht im geringsten darum kümmern, was mit ihr geschieht. Man braucht also einen umfassenden Begriff des menschlichen Wohls. Zu diesem gehört die Freiheit, doch Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit allein ist nicht hinreichend zur Erlangung eines guten Lebens.
Das Drogenproblem ist aber nicht nur ein Problem von einzelnen Menschen. Es gibt das Drogenmillieu mit all seinen negativen Begleiterscheinungen?
Wolf: Das ist sicher richtig, doch die schlimmsten Begleiterscheinungen sind in erster Linie ein Folgeproblem der Prohibition und des dadurch erzeugten Schwarzmarktes.
Doch kann die Gesellschaft nicht mit einem Verbot unmissverständlich klar machen, dass gewisse Dinge nicht erwünscht sind?
Wolf: Natürlich gibt es Phänomene, die man nicht will. Doch man muss sich eben fragen, auf welchem Weg man derartige Phänomene wie Drogenmissbrauch bekämpfen will. Um es drastisch zu sagen: Der direkteste Weg wäre: Todesstrafe für Dealer.
Was wohl so mancher richtig fände...
Wolf: Sicher findet man auf der Ebene von Stammtischen Zustimmung. Doch man muss sich ernsthaft fragen, zu welcher Gesellschaft ein solches Vorgehen führen würde. Ausserdem wird die Todesstrafe gegen Dealer beispielsweise in Iran oder in China praktiziert, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einer Prävention einstellt.
Was ist denn eigentlich so falsch an der Utopie einer drogenfreien Gesellschaft?
Wolf: Da muss man die Frage stellen: was gehört denn sonst noch zur drogenfreien Gesellschaft? Jede punktuelle Utopie sieht sich sofort mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert. Was passiert in einer Gesellschaft ohne Drogen mit jenen Menschen ohne Zukunftsaussichten? Warum sollten diese nicht Drogen nehmen dürfen? Ich meine das nicht zynisch, doch man muss klar sehen, dass das Formulieren von Utopien nicht bei einem einfachen Bild stehen bleiben darf. Wenn man jetzt eine Jugend ohne Drogen fordert, so muss man sich auch der Frage stellen, was denn diese Jugend tun soll, welche Optionen man ihr bieten will. Der grundsätzliche Einwand gegen die Utopie einer „Jugend ohne Drogen“ lautet also: Der beste Weg zur Begrenzung des Drogenmissbrauchs sind nicht Verbote, sondern Angebote für ein sinnvolles Leben.