Menschenrechte: Ursprünge einer Idee: Die Antwort auf erfahrenes Unrecht
Sie sind wohl die wichtigste Errungenschaft der abendländischen Zivilisation: Die Menschenrechte. Die Diskussion um ihren Ursprung, Begriff und Begründung zeigt auf, auf welche Herausforderungen dieses Fundament der Zivilisation antworten muss.
„Brüder und Schwestern: Wir fordern weder Almosen noch Geschenke, wir fordern das Recht ein, in Würde als menschliche Wesen leben zu können, in Gleichheit und Gerechtigkeit wie unsere Vorfahren.“ Mit diesem Aufruf beginnt der „Brief der Forderungen“, mit dem die Aufständischen von Chiapas am 3. März an die Weltöffentlichkeit gelangten. Die Forderungen der mexikanischen „Zapatisten“ erinnern an die „cahiers de dolérance“, mit welchen sich das französische Volk in den Jahren 1788/89 an die Obrigkeit richtete und damit den Geist sichtbar machten, der zur französischen Reviolution führte - und zur Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789. Offenbar findet die Idee eines universal gültigen Rechtsanspruchs, der alle Menschen umfassen soll, immer wieder seinen Ausdruck, seine Plattform. Dies als Reaktion auf erfahrenes Unrecht. So ist es naheliegend, die Menschenrechte als Antwort der kollektiven Erfahrung mit von Menschen verschuldetem Leid zu verstehen. Die Geschichte des Leids gebiert den Wunsch, einen Minimalstandard an Humanismus zu halten, hinter dem man nicht zurückfallen will. Doch diese Standards sind in ständiger Gefahr: Die Barbarei des Nationalsozialismus war in Europa der bisher letzte umfassende Verrat an der Idee der Menschenrechte und mit ein wichtiger Grund, dass die UNO am 10. Dezember die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verabschiedete - deren 50. Jubiläum wir jetzt feiern.
Die Menschenrechte sind - wie der Name erahnen lässt - Menschenwerk und erst möglich geworden, nachdem sich die europäische Gesellschaft grundlegend geändert hat. Antike wie Mittelalter waren zwar mit dem Problem konfrontiert, Recht und Gesetz einzuführen und durchzusetzen. Grundlage dazu war aber, dass die Gesellschaft in einer göttlichen Ordnung vorgegeben war: Sklaverei oder auch die hierarchische Struktur der Ständegesellschaft wurden nicht hinterfragt, sondern galten als gott- oder naturgegeben. Dazu kamen die spezifisch christlichen Auffassungen, welche das Leben auf der Erde lediglich als - letztlich elendes - Zwischenspiel deklarierten, als Vorbereitung auf das ewige Leben. Die Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit im Jenseits und auf die Bestrafung des Bösen machte eine Regelung im Sinn von Menschenrechten eigentlich unnötig. Ungleichheit wurde akzeptiert, wenn sie als Ausdruck der gegebenen Ordnung gesehen wurde und wenn die einzelnen Parteien - z.B. die Ritter als Verteidiger - ihre Aufgabe erfüllten.
Die damaligen Vorstellunge zeigt sich auch exemplarisch am Problem des Minderheitenschutzes: Prominentestes Beispiel sind die Juden. Man hat während des Mittelalters immer wieder die Frage diskutiert, ob Juden verfolgt werden dürfen oder nicht. In einer Schrift um das Jahr 1300 (das „Quodlibet“) wurden sechs Gründe aufgeführt, die gegen eine Verfolgung votierten: Alle hingen damit zusammen, dass die Juden einen gewissen Zweck im Heilsplan Gottes hätten (z.B. müssten die Juden „aufgespart“ werden, da gemäss der Phrophezeiung des Paulus ganz Israel gerettet werde), kein einziger hatte etwas mit der Idee der Menschenrechte (hieranzuwenden: das gebot der religiösen Toleranz) zu tun.
Der Beginn der Neuzeit vor 500 Jahren und die nachhaltige Erschütterung des damaligen gesellschaftlichen Gefüges änderte die damalige Einstellung grundlegend: Das irdische Leben erlang eine neue Wichtigkeit und die „gottgegebene Ordnung“ wurde zunehmend hinterfragt. Als Meilenstein in dieser Entwicklung gilt das Buch „Leviathan“ (veröffentlicht 1651) des englischen Philosophen Thomas Hobbes. Die in diesem Buch skizzierte Gesellschaft war keinesfalls gottgegeben. Vielmehr galt der Mensch als ein Wesen, dass alles zerstörte, das sich ihm in den Weg stellte. Da dieser Urzustand (keine Ordnung, sondern das Chaos) unerträglich ist, musste sich der Mensch auf Gesetze einigen und Freiheiten abgeben. Der menschliche Selbsterhaltungstrieb und nicht Gottes Wille führte zum Staat, so die damalige Provokation von Hobbes.
So entlarvend Hobbes Darstellung auch war, die damals beginnende Menschenrechtsbewegung konnte sich mit einem Gedanken nicht anfreunden: dem negativen Menschenbild. Die Vertreter des Menschenrechtsgedankens waren immer leise Optimisten: Der Mensch ist zwar nicht unschuldig, aber auch nicht völlig verdorben. Sehr optmimistisch war Jean-Jacques Rousseau, der mit seinem 1762 erschienenen Buch „Der Gesellschaftsvertrag“ ebenfalls ein bahnbrechendes Werk der Aufklärung. Dieser „Aufbruch des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (in der Formulierung des deutschen Philosophen Immanuel Kant) brachte wesentliche Bausteine für das Gebäude der Menschenrechte.
Weitere Meilensteine sind (vgl. auch mit Kasten) die Habeas-Corpus-Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689. Beide Gesetzeswerke wurden in England erlassen. Sie waren eine Antwort auf willkürliche Verhaftungen und Machtmissbrauch durch den englischen König. Die Virginia Bill of Rights aus dem Jahr 1776 war dann der eigentliche Vorläufer der Menschenrechtserklärung, die in der französischen Revolution verabschiedet wurde. Dieses Gesetzeswerk war das politische Produkt der Unabhängigkeitsbewegung der 13 nordamerikanischen Kolonien und der Gründerstaaten der USA, knüpfte aber rechtlich noch an die englische Bill of Rights an. Gewaltentrennung, Wahlrecht, Pressefreiheit und Religionsfreiheit sind nur einige Stichworte, welche die Virginia Bill of Rights aufführt.
Am 26. August 1789 folgte dann die eigentliche „Erklärung der Menschenrechte“ im Umfeld der französischen Revolution. Deren Akzent liegt bei den Freiheitsrechten und der Organisation des Staates. Fragen der wirtschaftlichen Gleichheit oder der Chancengleichheit waren hingegen kein Thema. Trotzdem war mit dieser Erklärung ein Keim gesetzt, wo sich die späteren Diskussionen über die Menschenrechte kristallisierte.
Interessant ist der Unterschied, zwischen dem angelsächsischen und französischen Ansatz, Menschenrechte zu formulieren: Die französische „Erklärung der Menschenrechte“ setzt auf allgemeine Prinzipien, aus welchen sich die konkreten Forderungen ableiten lassen sollen. Hier wird der Vorwurf laut, die letzten Prinzipien seien zu abstrakt, um brauchbar zu sein oder dass die Konkretisierung die Prinzipien verrate. Die angelsächsische Linie nimmt die konkreten Missstände wahr und setzt ihnen präzise rechtliche Hindernisse in den Weg. Hier wird eingewendet, diesem Ansatz mangle es an Orientierungshilfen.
Spricht man heute von Menschenrechten, so werden drei Arten unterschieden: So gibt es die Abwehrrechte, welche den Schutz des Einzelnen (z.B. das Folterverbot) oder von Gemeinschaften (z.B. die Forderung nach religiöser Toleranz) bezwecken. Des weiteren gibt es Gestaltungsrechte, die den Anspruch des Menschen auf eine von ihm gestaltete politische Umwelt verwirklichen sollen (z.B. das Wahlrecht). Drittens gibt es Versorgungsrechte, die dem Menschen ein menschenwürdiges Leben überhaupt erst ermöglichen (z.B. das recht auf genügend Nahrung).
Es gibt dabei keine erschöpfende oder zeitlos gültige Liste von Menschenrechten, was auch dadurch deutlich wird, dass immer wieder neue Rechte als „Menschenrechte“ vorgeschlagen werden. In dieser Inflation von Rechten steckt zweifellos auch eine Gefahr. Man kann der Diskussion aber nicht ausweichen, da die Menschenrechte mit der Geschichte der Zivilisation verhängt sind: Neues massives Unrecht ist immer möglich und eine Antwort darauf ist dann eben ein revidierter Katalog von Menschenrechten.
Zwei heute zentrale Probleme verdienen besondere Erwähnung: Zum einen stellt sich das Problem der Universalisierbarkeit. Sind Menschenrechte nur Ausdruck einer spezifisch abendländischen Auffassung und daher kulturrelativ? Inwiefern sind kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen? Gerade asiatische Staaten mit totalitären Zügen verweisen auf dieses Argument. Doch die Tatsache, dass die Menschenrechte zuerst in einem Kulturraum Anerkennung fanden, schliesst deren Universalisierbarkeit nicht aus. Das Einklagen der Menschenrechte hat sich auch in Europa vielfach gegen herrschende kulturelle Vorstellungen gerichtet - und der Verweis auf die Menschenrechte in den Diktaturen der Dritten Welt kommt meist von den dort lebenden Menschen selbst.
Zum anderen stellt sich das Problem der humanitären Intervention: Ist es erlaubt, die staatliche Souveränität von Staaten zu missachten, wenn dort die Menschenrechte mit Füssen getreten werden? Das Eingreifen in die Kriege in Somalia und Bosnien in den letzten Jahren wurde mit solchen Argumenten untermauert. Doch noch zu oft diktier politisches Interessenkalkül, ob eingegriffen wird oder nicht - was den Menschenrechten die Funktion eines Feigenblattes zuweist. Zweifellos sind demnach noch viele Diskussionen auszufechten, um dem Menschenrechtskatalog Durchschlagskraft zu verleihen.