Bergier: Ein Scheitern unserer Arbeit ist möglich
Zur Person: Jean-François Bergier spielt bei der derzeit laufenden Aufarbeitung der jüngeren Geschichte der Schweiz eine entscheidende Rolle. Als Präsident der Unabhängigen Expertenkommisson Schweiz - Zweiter Weltkrieg steht er international renommierten Historikern vor, die eine „Untersuchung zur historischen Wahrheitsfindung“ - so der Auftrag des Bundesrates - führen soll. Der 1931 in Lausanne geborene Bergier selbst gilt als eigentlicher „Aussenminister“ der Schweizer Historiker und ist Mitglied zahlreicher internationaler Gremien. 1963 wurde er zum Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte und Sozialökonomie an der Universität Genf gewählt. Im Jahr 1969 wurde er an die ETH Zürich berufen, wo er Ingenieuren und Naturwissnschaftlern den Blick auf die historische Perspektive öffnen soll. Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte der Schweiz und der Alpenländer in ihrem langfristigen Verlauf vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bergier beendet seine Tätigkeit an der ETH Zürich im März dieses Jahres, wird aber weiterhin der Historikerkommission vorstehen.
Bieler Tagblatt: Beginnen wir mit dem Wort „Vergangenheitsbewältigung“. Muss auch jeder einzelne Mensch seine Vergangenheit in einem gewissen Sinn „bewältigen“?
Jean-François Bergier: Natürlich. Jeder muss sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen. Mir macht jedoch das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ Mühe, denn es enthält eine gewaltsam erscheinende Komponente. Man darf der Geschichte keine Gewalt antun. Der Blick zurück muss auf das Verstehen und letztlich auf das Akzeptieren der eigenen Geschichte ausgerichtet sein. Ich bin zwar der Ansicht, dass es manchmal aussergewöhnliche Momente im Leben des Einzelnen braucht, damit Verdrängtes wieder hervorgeholt werden kann. In diesem Sinn muss man sich auch selbst Gewalt antun, um seine Vergangenheit zu akzeptieren. Dieser Mechanismus kann man aber nicht auf Gesellschaften anwenden. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihrer Geschichte unterscheidet sich insofern von jenem der Einzelperson, als dass die Mitglieder der Gesellschaft letztlich nur begrenzt Kenntnis voneinander haben - es kommen also Aspekte wie Toleranz, Kooperation und das Befolgen von Regeln ins Spiel. Die Gesellschaft kommt auf eine andere Weise zu ihrer Geschichte als die Einzelperson.
Für eine einzelne Person kann es sinnvoll sein, Vergangenes auf sich beruhen zu lassen. Warum sollen auch Staaten dies nicht tun dürfen?
Dies kommt ganz auf das darauf an, was vergessen werden soll. Einzelpersonen werden nicht darum herumkommen, traumatische Erlebnisse in irgend einer Form verarbeiten zu müssen - und dasselbe gilt auch für Staaten. Denn es sind gerade solche Erlebnisse, bei welchen die Gefahr besteht, dass man sich was vormacht, was auch das künftige Leben beeinflusst. Der Zweite Weltkrieg war auch für die Schweiz als Staat ein traumatisches Erlebnis - die damalige Geschichte sollte demnach ebenfalls verarbeitet werden. Dazu kommt eini weiterer Punkt: Der Blick auf die Geschichte hat eine entscheidende Funktion für jede Gesellschaft: Dadurch wird deutlich, welches die entscheidenden Werte sind, welche diese zusammenhalten. Eine verdrängte Geschichte führt dazu, dass sich die Menschen in ihrem Land nicht mehr wiederfinden, dass sie ihre Identität verlieren.
Kann man denn aus der Geschichte lernen?
Die Geschichte erteilt keine Lektionen, die man wie in der Schule lernen kann. Sie ist eine Orientierungshilfe, ohne welche man verloren wäre. Insofern kann man aus der Geschichte lernen.
„Aus der Geschichte lernen“ kann soviel bedeuten wie, dass man wiederkehrende Muster verschiedener Prozesse sucht - beispielsweise Rahmenbedingungen, die zum Aufkommen totalitärer Regimes führen. Besteht in dieser Denkweise nicht die Gefahr darin, dass man sich auf das falsche konzentriert, denn totalitäre Regimes könnten ja auf eine immer wieder neue Weise an die Macht gelangen?
Das Aufkommen eines totalitären Systems ist von Alarmzeichen begleitet, die zugegebenermassen nicht immer gleich sind. Trotzdem würde ich behaupten, dass man Vorbedingungen charakterisieren kann, die solche Prozesse überhaupt erst möglich machen - beispielsweise ein ökonomischer Niedergang der Gesellschaft. Das sind zwar keine hinreichenden, aber notwendige Bedingungen. Trotzdem lassen sich auch diesen keine Prognosen machen, denn die Geschichte zeigt ja, dass Länder mit vergleichbaren ökonomischen Problemen dennoch ganz unterschiedliche Entwicklungen durchmachten. Die Geschichte gibt grob die Richtung vor, die aber nur „à la longue durée“ sichtbar wird.
Der Auftrag des Bundesrates an die Historikerkommission beginnt mit dem Satz „Die Untersuchung dient allgemein der historischen Wahrheitsfindung“. Gibt es also eine historische Wahrheit?
Nein, sicher nicht in einem absoluten Sinn. Historiker hätten diesen Satz nie so hingeschrieben. Der Begriff „Wahrheit“ lässt sich nur sehr punktuell anwenden, indem man etwa feststellt, ob ein bestimmter Vorgang tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Der Text des Bundesrates muss man meines Erachtens so verstehen, dass man eine grössere Klarheit über die Geschichte der Schweiz erhalten will, wobei es letztlich auch darum geht abzuschätzen, für welche damaligen Geschehnisse die Schweiz eine Verantwortung übernehmen muss.
Historiker sprechen oft von Mythen, welche die Geschichte eines Landes prägen wenn nicht gar ausmachen. Was unterscheidet Mythen von einem angemessenen Geschichtsbild?
Man muss hier zuerst einmal festhalten, dass auch Mythen Bestandteil der Geschichte eines Landes sind, man muss sie aber also solche erkennen. Es gibt durchaus positive Mythen, die mit zum Selbstverständnis eines Landes beitragen. Nehmen wir aber den jetzt zur Debatte stehenden Mythos, die Schweiz sei während der Zeit des Zweiten Weltkriegs „pur et dur“ gewesen, also standhaft und moralisch unbefleckt. Das ist ein Mythos, denn in der damaligen Situation war es gar nicht möglich, den Nationalsozialismus zu überleben, ohne Konzessionen zu machen. Warum ist es nun zu diesem Mythos gekommen und wie wurde er als solcher erkannt? Hier müssen zwei verschiedene Dinge beachtet werden: Zum einen hat der Staat Kriegsende systematisch verhindert, dass gewisse in jener Zeit vorgefallene Dinge untersucht wurden. Das hatte politische Gründe, die damals vielleicht sogar legitim waren. Doch ich halte dieses Phänomen für sekundär. Wichtiger erscheint mit folgendes: Geschichte kommt immer auf zwei Arten zustande: Zum einen ist sie die Folge des systematischen Arbeitens der Historiker. Zum anderen besteht sie aus der Gesamtheit der Erinnerungen der Einzelpersonen des Staates. Gerade hier kommen Mechanismen des Verdrängens und Vergessens zum Zug, die wir bereits besprochen haben. Man neigt dazu, das Schlechte zu vergessen und das Gute überzubewerten. Dazu kommt die Tatsache, dass jeder die Geschichte des Landes mit seiner eigenen Geschichte kompatibel macht, was schliesslich dazu führt, dass verschiedene Bilder von Geschichte eines Landes entstehen. Hier beginnt die Aufgabe des Historikers, der die Vielfalt der Erinnerungen und Quellen zu einem angemessenen Bild fügen muss.
Sind Erinnerungen und historische Quellen überhaupt in einer Art und Weise erfassbar, dass sich diese widerspruchslos zu einem solchen angemessenen Bild fügen lassen?
Hier ist mit Sicherheit ein Problem vorhanden. Gerade historische Tatsachen unterliegen der Gefahr, dass sie derart dargestellt werden, um einer vorgefassten Theorie der Geschichte zu entsprechen. Als Historiker muss ich mir dessen bewusst sein und versuchen, die geschichtlichen Vorgänge aus ihrer Zeit heraus zu verstehen - mit dem ständigen Risiko, mich zu irren.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Arbeit der Historikerkommission letztlich als neuer Mythos im öffentlichen Bewusstsein hängenbleibt, selbst wenn die Kommission dies verhindern wollte?
Diese Gefahr besteht tatsächlich. Sie hängt von der Qualität unserer Arbeit ab, denn wir müssen die historische Klarheit nicht nur herbeiführen, sondern auch als solche kommunizieren. Bereits als wir im vergangenen Jahr den Goldbericht publizierten musste ich feststellen, dass gewisse Medienleute unsere Resultate lediglich dazu benutzten, ihr vorgefertigtes Bild zu bestätigen. Man benutzt nur „die Rosinen“ unserer Arbeit, so dass unser Versuch, ein umfassendes Bild der Geschichte zu liefern, im öffentlichen Bewusstsein gar nicht als solcher zur Kenntnis gewonnen wird.
Geht man davon aus, dass erstens die Medien letztlich die Arbeit der Historikerkommission kommunizieren sollen und zweitens die grosse Gefahr besteht, dass dies auf unadäquate Weise geschieht: Ist die Arbeit der Kommission, Klarheit über die jüngere Geschichte der Schweiz zu schaffen und zu vermitteln, dadurch nicht zum Scheitern verurteilt?
Das ist möglich, doch dieses Risiko müssen wir eingehen. Man muss hier langfristig denken: Es ist durchaus denkbar, dass bei der Veröffentlichung unseres Berichts undifferenziert darüber berichtet wird. Doch längerfristig wird sich die erste Aufregung legen und unsere Arbeit wird - falls wir sie gut machen - zu einem klareren Bild der Geschichte der Schweiz führen.
Was macht Sie so sicher, dass die Arbeit der Historikerkommission kein revisionistisches Projekt ist?
Beim Begriff Revisionismus muss man aufpassen. Versteht man darunter „die Geschichte neu schreiben“, so muss man sehen, dass die Geschichte immer wieder neu geschrieben wird - sonst wären wir Historiker arbeitslos. Die Historiker leisten nie eine definitiv abgeschlossene Arbeit
Mit welchen Kriterien kann man beurteilen, ob das Bild der Geschichte der Schweiz, welche die Historikerkommission erarbeitet, angemessen ist? Oder anders gesagt, wie kann man beurteilen, ob die Kommission gut gearbeitet hat?
Erstens müssen wir in unserer Arbeit redlich vorgehen und den methodischen Prinzipien unserer Disziplin Folge leisten. Die Angemessenheit des Geschichtsbildes wiederum zeigt sich darin, dass sich die Mehrzahl der Bevölkerung in diesem Bild wiederfindet. Die Ergebnisse unserer Arbeit müssen auf einen gewissen Konsens stossen.
Betrachten wir die Vergangenheitsbewältigung unter dem Aspekt, was diese der Zukunft eines Landes bringt: Warum ist es besser, mit einer Historikerkommission grössere Klarheit über die Geschichte des eigenen Landes zu erhalten, anstatt mit einem kraftvollen, positiven Mythos die Zukunft anzugehen?
Mythen stossen selten auf Konsens. Nehmen wird die Entstehung des modernen Bundesstaates als Beispiel. Natürlich könnte man das Bild einer liberalen, aufbruchsfreudigen Schweiz von 1848 zeichnen. Doch für bestimmte Regionen der Schweiz - beispielsweise die Innerschweiz - war das Vorfeld der Bundesstaatgründung eine Geschichte von schmerzhaften Niederlagen.
Ihre akademische Tätigkeit geht im März zu Ende. Wie lautet Ihr persönliches Fazit dazu?
Ich muss hier unterscheiden zwischen meiner Tätigkeit als Professor an der ETH Zürich und als Präsident der Historikerkommission. Letztere Arbeit ist noch lange nicht fertig und es wäre noch zu früh, hier ein Fazit zu ziehen. Meine Tätigkeit als Professor hingegen hat mich sehr befriedigt - auch deshalb, weil ich zwei verschiedene Aufgaben inne hatte: In Genf habe ich Historiker ausgebildet, in Zürich hingegen hatte ich den Auftrag, Ingenieuren und Naturwissenschaftlern einen umfassenden Blick für Geschichte zu vermitteln. Dies hat mir die Möglichkeit gegeben, Geschichte von einem umfassenden Standpunkt aus zu lehren und zu verstehen.