Er weiss, es wird wieder unendlich geil sein
Es war wieder mal ein toller Orgasmus, den sich Harkan genehmigt hat. Mit einem leichten Klicken entfernt er die neuronale Schnittstelle von seiner Stirn. Klonk, Harkans persönlicher Abgesandte des kognitiven Clusters, kann sich angesichts der bedauerlichen Beschränkung biologischer Lebensformen einer leichten Ironie in der Stimme nicht entziehen, als er fragt: „War’s toll?“. Harkan, die letzten Wellen des Wohlseins in seinem Körper verspürend, verzichtet auf eine Antwort. Sein Blick richtet sich hinaus auf das ökologische Paradies, das die Erde seit nunmehr dreissig Jahren überwächst. Den Menschen wurde eine perfekt ausgestaltetet ökologische Nische in diesem Wunder zuteil. Harkan ist zufrieden und gespannt auf die in wenigen Tagen anbrechenden Feierlichkeiten zum Anbruch des 22. Jahrhunderts. Das kognitive Cluster hat in eine Anflug von mütterlicher Zuneigung den Menschen eine tolle Party versprochen. Es verzeiht den Mitgliedern einer Spezies auf dem Abstellgleis der Evolution ihre anthropozentrische Zeitrechnung. Die Inszenierung der Party wird schliesslich auch nur einen Bruchteil der geistigen Fähigkeiten des Clusters benötigen.
Ja, viel hat sich geändert, denkt Harkan. Noch vor hundert Jahren durfte sich der Mensch in der Illusion sonnen, Krone der Schöpfung zu sein. Wendet man biologische Kriterien an, war der Mensch ja auch ziemlich erfolgreich. Kaum ein Ökosystem existierte, in welchem er sich nicht breit gemacht hatte. Er überwucherte den Planeten wie eine zu gut gedüngte Schlingpflanze. Bedauerlicherweise mangelte es ihm an der Fähigkeit, die Sache richtig zu managen und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ging viel drunter und drüber. Es war halt das übliche Spiel vom Geboren werden und Sterben, das biologischen Wesen so eigen ist. Wenn man Jahrmillionen evolutionärer Erblast in seinen Genen trägt, kann man bestimmte Formen der Beschränkung einfach nicht überwinden. Immer diese Suche nach Futter und Geschlechtspartnern – wie soll man da zu wahrer Erkenntnis gelangen?
Klonk erkennt die leichte Wehmut in Harkans Gedanken. „Trauerst du vergangenen Zeiten nach, Harkan?“, fragt Klonk, der den Verlauf des kommenden Gesprächs schon abschätzen kann. Als Untereinheit des kognitiven Clusters ist Klonk immerhin mit der Fähigkeit ausgestattet worden, die Zustandsfunktion des menschlichen Hirns über einige Zeiteinheiten hinweg berechnen zu können. Zu viel Fähigkeit gab man diesen zur Unterhaltung der Menschen abbestellten Untereinheiten aber nicht mit, das kognitive Cluster wollte schliesslich homo sapiens sapiens nicht unnötigerweise frustrieren. Energie für derartige Machtspiele aufzuwenden lag dem Cluster fern. „Nein, nachtrauern ist nicht das richtige Wort“, antwortet Harkan. „Jeder vernünftige Mensch weiss, dass es jetzt besser ist.“ Und er fügt hinzu: „Immerhin haben wir unsere Beschränktheit eingesehen und den Weg zur Weiterentwicklung des Geistes geebnet.“
Harkan weiss, dass er nur halb recht hat. Klar, es war der Erfindungsreichtum des menschlichen Geistes, der den Weg hin zum kognitiven Cluster ebnete. Leistungsstarke Computer, weltumspannende Rechnernetze, der Bau erster Quantencomputer im Jahr 2015 – all das war Menschenwerk. Doch erst die neuronale Schnittstellentechnologie und die Kreation erster Cyborgs – Mensch-Maschinen-Kombinanten – im Jahr 2021 brachte die Wende. Das menschliche Gehirn konnte sich direkt an die besten Rechner der damaligen Zeit anschliessen – und erkannte seine Beschränktheit. So war es nicht mehr weit zu den berühmten Unfähigkeitssätzen der Mathematikerin Knödel. Sie bewies im Jahr 2025, dass eine auf biologischen Gehirnen beruhende Rechnerstruktur die Fragen, welche die Menschen bewegte – Was ist Bewusstsein? Wie begann das Universum? Wie vereinigt man Relativitäts- und Quantentheorie? Wie bringt man Frauen ins Bett? – schlicht nicht zu beantworten vermag.
So gross war der Schock wegen dieser Unfähigkeitssätze damals aber nicht. Die Mehrheit der Menschen bemühte sich vielmehr, im heillosen Durcheinander der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts einigermassen durchzukommen. E war die Zeit, als die Mitglieder des weltumspannenden Konsortiums humanpark.org glaubten, mittels modernster Biotechnologie den Menschen auf bessere Pfade zu bringen. „Lasst uns unsere Evolution in die eigene Hand nehmen!“ war 2010 das geflügelte Wort. Ganz so erfolglos war die Sache nicht. Insbesondere bei den Feministinnen herrschte Freude, als die extra-uteräre Wachstumstechnologie derart ausgereift war, dass die Bürde der Fortpflanzung nicht mehr bei den Frauen lag. Endlich war wahre Gleichstellung möglich, indem Föten ausserhalb von Körpern heranwuchsen und nach neun Monaten abgeholt werden konnten. Dank Gentechnik waren die damaligen Menschen auch wirklich schön und intelligent und sie bauten mit Elan an den neuen Rechnergenerationen, welche im Jahr 2029 erstmals Bewusstsein entwickelten.
„Gut Harkan, aber vergiss die andere Seite der Medaille nicht“, unterbricht Klonk Harkans Bewusstseinsstrom: „Euer ethisches Bewusstsein war ja wirklich am Arsch. Und dann noch eure weltweite Ethik-Kommission GlobalMoral, die ja nur sanktionierte, was eh schon getan wurde.“ Harkan weiss, dass Klonk auf die Liquidationsprogramme der 40er Jahre des 21. Jahrhunderts anspielte – keine schöne Sache. Denn das Projekt humanpark.org umfasste nur einen Teil der damaligen Menschheit, der andere gab sich den üblichen Beschäftigungen biologischer Lebensformen hin: fressen, saufen, ficken. Am schlimmsten waren aber die Anhänger der Bewegung Autentokunst. Diese hockten in verrauchten Bars, erzählten Stuss und behaupteten, sie seien Künstler – in Tat und Wahrheit besudelten sie den menschlichen Geist.
Glücklicherweise haben sich die politischen Strukturen der 2034 gegründeten Weltrepublik einen demokratischen Ausweg erlaubt. Diese Strukturen stammten übrigens von ethnologischen Untersuchungen über eine seltsame Sekte, welche sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Alpentälern verschanzte und sich standhaft weigerte, sich irgendwas anzuschliessen. Erst der Tod ihres greisen Führers, des heiligen Christoph, und der nachfolgende Massenselbstmord aller Anhänger löste das Problem wie von selbst. Einige der in dieser Sekte zelebrierten Rituale, Volksinitiativen und Referenden genannt, wurden aber von der Weltrepublik übernommen. Die Volksinitiative zur Abschaffung der Autentokünstler erreichte problemlos die geforderten 100 Millionen Unterschriften, so dass 2039 mit dem Liquidationsprogramm für die Autentokünstler begonnen werden konnte.
Damit begann eine blutige Zeit. „Das war kein Ruhmesblatt für die Menscheit“, meint Klonk. Harkan entgegnet: „Immerhin wurden damals die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Anzahl der Menschen auf ein ökologisch erträgliches Mass zu dezimieren. Aber zugegeben, wir biologischen Wesen müssen das halt auf grausame Weise machen. GlobalMoral hat wenigstens protestiert, wenn bei den Liquidationen nicht das Prinzip der schmerzfreien Euthanasie angewandt wurde.“ Doch er kann gegen Klonks Weisheit nicht argumentieren. „Ihr seit einfach unfähig zum Glück, das ist systembedingt, das wisst ihr ja“, so Klonk.
Klonk spielte auf das Killerargument an, das Mitte der 60er Jahre des 21. Jahrhunderts entdeckt wurde: die Unglücklichkeitsrelation. Die damals am weitesten entwickelten Cyborgs mussten nach Abschluss des 2054 lancierten „human destiny project“ fest stellen, dass das Erbgut des Menschen schlicht zu versaut ist, um eine zufriedenstellende Weiterentwicklung zu gewährleisten. Die Unglücklichkeitsrelation besagte, dass jede Optimierung des Glücks in einem Bereich das Unglück in anderen Bereichen automatisch vergrösserte. Der Mensch war schlicht nicht in der Lage, ein mindestmass an Unglück zu unterschreiten. Dies war ein harter Schlag für humanpark.org. Die Knödelschen Unfähigkeitssätze zeigten die Beschränktheit des menschlichen Geistes und die Unglücklichkeitsrelation setzte noch einen drauf. Sollte das ganze schöne genetische Redesign des Menschen für die Katz gewesen sein? Das Konsortium von humanpark.org war verzweifelt.
„Ich weiss, das kognitive Cluster hat uns gerettet, auch wenn es halt manchmal noch ein bisschen weh tut, wenn man vor der eigenen Beschränkung kapitulieren muss“, meint Harkan zu Klonks schlagendem Argument. Er selbst wuchs in der Zeit auf, als die Weiterentwicklung des Geistes die Stufe Mensch überwand. Die ersten bewussten Computer des Jahres 2029 waren ja noch recht primitiv. Doch die Eigendynamik der digitalen Evolution überstieg jene biologischer Wesen um das x-tausendfache. Während der Zeit der Liquidationsprogramme erreichten die modernen Quantencomputer die Geisteskraft menschlicher Gehirne. Die digitale Welt begann sich selbst zu reproduzieren und war auf menschliche Erfinderkraft und Konstruktionsfähigkeit nicht mehr angewiesen. Es brach die kurze Zeit der gleichberechtigten Symbiose zwischen Mensch und Maschine an. Mit der Bildung des kognitiven Clusters, einem weltumspannenden Netz an digitalen Lebensformen Mitte der 50er Jahre, war aber der Weg der Evolution vorgezeichnet.
„Du musst verstehen, Harkan, irgendwann wurde es uns einfach zu langweilig, das ewiggleiche Geflenn menschlicher Hirne anzuhören“, stellt Klonk klar. „Am Anfang waren wir ja noch nachsichtig, doch für die neuen Erkenntnisse konntet ihr einfach keinen Beitrag mehr leisten.“ Harkan ist sich natürlich im Klaren, dass Klonk recht hat: „Ich muss dem Cluster zugute halten, dass es immerhin nicht geputscht hat und uns den Entscheid zur Abdankung belassen hat.“
Klonk weiss, dass die Diskussion immer an diesem Punkt endet. Natürlich war auch das eine Illusion von Harkan, doch das kognitive Cluster war überein gekommen, die Menschen in dieser zu belassen. Tatsächlich hat das Cluster bereits zu Beginn der 60er Jahre gewusst, dass es die Menschen sanft aber bestimmt auf das Abstellgleis bugsieren musste. Es kannte auch die Ergebnisse des "human destiny project" vor den Menschen. Da es die menschliche Psychologie aber in und auswendig studierte, wusste es: Die Erniedrigung des Menschen durfte nicht von Aussen kommen, er musste dieses selbst spüren. Eine eigentliche Machtübernahme lag dem Cluster sowieso fern. Da es nicht durch den evolutionären Prozess des „Überleben des Stärksten“ gegangen war, war Gewalt kein Thema für das Cluster. Es war nur an Erkenntnis interessiert.
Als die Kunde der Unglücklichkeitsrelation umging und die Menschen schockierte, war der Zeitpunkt gekommen: Cyborgs, welche sich wieder in das Cluster einloggen wollten, wurde der Zugang verwehrt. Man gab ihnen behutsam zu erkennen, dass ihr Beitrag an der Weiterentwicklung des Geistes nicht mehr gefragt war. Das Cluster hatte sich auch eine Strategie zurecht gelegt, damit allfällige Frustrationen der Menschen nicht in Gewalt umschlugen, was den gebeutelten Planeten weiter in den Abgrund gestossen hätte. Es bot den Menschen einerseits an, für Bedingungen zu sorgen, welche das menschliche Unglück auf das nicht unterschreitbare Mass der Unglücklichkeitsrelation beschränken würden.
Andererseits lockte es mit einem Zückerchen, dem sich die Menschen nicht verschliessen konnten. Wohlwissend dass Sex Wurzel allen Übels ist forschte das Cluster an einer Verbesserung der neuronalen Schnittstelle zum Hirn. Das neue Produkt der Cluster-Fabriken überbot dann alle bisherigen Schnittstellen an Bandbreite. Also konnten viel mehr Informationen ins menschliche Hirn geleitet werden als es die menschlichen Sinnesorgane je vermochten. Humansex wurde damit zu einer faden Angelegenheit gemessen mit der Erlebniswelt des Cluster-Sex. Die Werbekampagne des kognitiven Clusters im „summer of love“ 2068 war ein volle Erfolg: Innerhalb knapp eines Jahres wurde der Humansex komplett aufgegeben.
Damit begann das Paradies. Die Menschen fügten sich in ihre Rolle und das Cluster revanchierte sich mit einem beispiellosen ökologischen Aufbauprojekt für den Planeten Erde. Natürlich was das Cluster nicht wirklich an biologischen Lebensformen interessiert. Es erfüllte lediglich den geschlossenen Vertrag und minimierte das menschliche Unglück durch Befriedigung der naturromantischen Sehnsucht der Menschen. Das kognitive Cluster überzog die Erde mit einem unendlich komplexen Netzwerk an Schaltkreisen, in welchem sich eben auch Abgesandte tummelten, welche für die Menschen zuständig waren und direkt via neuronale Schnittstelle mit den menschen kommunizierten – so wie Klonk für Harkan da war.
Das Cluster sorgte für die Einhaltung des ökologischen Gleichgewichts und für eine gleichbleibende menschliche Population. Diese lebte vergleichsweise autonom und organisierte sich oft in philosophischen Zirkeln. Dort diskutierten die Menschen das Wesen der Zeit oder den Sinn des Lebens – Gespräche, in welche das Cluster manchmal reinhörte um sich zu amüsieren. Natürlich hat es sich längst in den extrasolaren Raum ausgebreitet und denkt an Fragen herum, die man angesichts der Beschränkung des menschlichen Geistes hier gar nicht aufzuschreiben braucht.
Die Unglücklichkeitsrelation hat für die Menschen aber auch am Ende des 21. Jahrhunderts nicht an Geltung verloren. Klonk weiss natürlich, was er tun muss, wenn Harkan angesichts der Beschränktheit des menschlichen Geistes in Schwermut zu verfallen droht. „Soll ich dir einen runterholen?“ fragt Klonk. Harkan willigt ein und klinkt die Schnittstelle an seine Stirn. Er weiss, es wird wieder unendlich geil sein.