Charles Kleiber: "Basel muss Prioritäten setzen"
Nach der Bewilligung der nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) zeigt sich ein sehr deutliches Bild: Die Medizin, die Naturwissenschaften und die technischen Wissenschaften produzieren offenbar das Wissen, was die Gesellschaft braucht. Die Geisteswissenschaften tun dies nicht und erhalten kein Geld. Warum ist dies so?
Das Hauptproblem ist die derzeitige Situation der Sozial- und Geisteswissenschaften in der Schweiz. Die durch den Wissenschaftsrat vorgenommene Evaluation hat gezeigt, dass sich diese beiden Wissenschaftsgebiete in einer Krise befinden: Sie sind zersplittert und partikulär. Keiner bestreitet das. Dieses Problem beschränkt sich im Übrigen nicht auf die Schweiz.
Aber ist diese Form von Partikularität – oder Vielfalt – nicht gerade ein Wesensmerkmal der Geistes- und Sozialwissenschaften?
Dies ist nicht der Punkt. Es fehlt es den Sozial- und Geisteswissenschaften an gemeinsam getragenen und akzeptierten Kriterien zur Bestimmung des wissenschaftlichen Werts ihrer Aussagen und Theorien. Ohne solche Kriterien zur Qualitätsbestimmung gibt es keine wirkliche Konkurrenz in den verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften.
Trotzdem wird nun ein einziges NFS-Projekt aus dem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften realisiert – und dies erst noch unter dem Vorbehalt der Finanzierung. Setzt man da nicht das falsche forschungspolitische Signal?
Dazu gilt es zuerst einmal zu sagen, dass bereits in den letzten 18 Projekten die Geistes- und Sozialwissenschaften mit lediglich drei Vorschlägen untervertreten waren. Die Voraussetzungen für uns als letztes Auswahlorgan waren also bereits schlecht. Ich bin der Ansicht, dass in einer zweiten Ausschreibung der nationalen Forschungsschwerpunkte die Geistes- und Sozialwissenschaften stärker zum Zug kommen sollten.
Werden dann die von Ihnen angesprochenen Probleme in den Sozial- und Geisteswissenschaften gelöst sein?
Damit diese Probleme gelöst werden können, muss sicher Geld investiert werden. Der Bundesrat hat dies wie folgt formuliert: Investieren, um zu reformieren. Reformieren, um zu investieren. Dies ist unsere Politik. Doch die Forscher in den Geistes- und Sozialwissenschaften müssen zuvor ihren Reformwillen manifestieren.
Also ist die jetzige Auswahl quasi ein Warnschuss an die Sozial- und Geisteswissenschaften: „Ihr müsst reformieren, dann bekommt ihr Geld.“
Nein, wir müssen einen Weg finden, der investieren und reformieren gleichzeitig erlaubt. Es liegt nun sowohl am Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierat wie an der Kommission für Wissenschaft und Bildung, für dieses Problem Lösungen zu finden. Wir können nun nicht einfach sagen, die Sozial- und Geisteswissenschaften seien nicht finanzierungswürdig. Es muss etwas geschehen.
Und warum konkret haben es die beiden geisteswissenschaftlichen Schwerpunkte von Keith Krause und Christian Lalive d’Epinay nicht geschafft?
Diese beiden Projekte sind – wie die anderen 16 auch – ausgezeichnet. Aber es handelt sich hier um keine eigentlichen Forschungsschwerpunkte, denn sie hätten wahrscheinlich nicht zur gewünschten Bildung eines institutionellen Zentrums geführt. Diese Projekte waren eher wie dezentrale nationale Forschungsprogramme organisiert.
Was hat Sie dazu bewogen, das während des Auswahlverfahrens abgelehnte Basler Projekt Gender Studies in Form eines nationalen Forschungsprogramme gewissermassen neu zu lancieren? Politische Gründe?
Die nationalen Forschungsprogramme sind ein Förderungsinstrument des Bundes, um Fragen von sozialem und politischem Interesse anzugehen – nicht um solche mit rein wissenschaftlichem Hintergrund. Wir sind der Ansicht, dass im Bereich Gender Studies solche soziale und politischen Fragen anstehen, die mit einem solchen Programm beantwortet werden können. Der Entscheid über dieses Forschungsprogramm sowie über jenes der Gesundheitsökonomie wird der Bundesrat auf Vorschlag von Bundesrätin Ruth Dreifuss treffen. Die Finanzierung der Forschungsprogramme hat aber mit jener der Forschungsschwerpunkte nichts zu tun. Auch sind diese beiden vorgeschlagenen Programme nicht identisch mit dem Public Health Projekt der Universität Zürich oder dem abgelehnten Gender-Projekt der Universität Basel. Die Projekte von Regina Wacker und Felix Gutzwiller sollten zumindest teilweise integriert werden können.
Wie sieht es mit der Finanzierung der zehn ausgewählten Schwerpunkte aus. Ist diese für die gesamte Zeitspanne von zehn Jahren gesichert?
Die Finanzierung dieser zehn Schwerpunkte für den Zeitraum 2001 bis 2004 – also bis zur ersten Evaluation der Forschungsschwerpunkte – ist gesichert. Ich will zudem deutlich machen, dass die Qualität der vier weiteren ausgewählten Schwerpunkte auf jeden Fall gegeben ist. Diese sind genehmigt unter dem Vorbehalt der zu beantragenden Sonderfinanzierung.
Wie genau sieht die Sonderfinanzierung der vier weiteren Projekte aus?
Der Bundesrat wird eine Sonderbotschaft für einen Nachkredit von rund dreissig Millionen Franken ausarbeiten. Über diesen Kredit wird das Parlament in der nächsten Session beraten. Wir erwarten einen schnellen Entscheid, weitere Verzögerungen müssen wir vermeiden.
Offenbar waren ja alle 14 Projekte vom forschungspolitischen Standpunkt aus förderungswürdig. Mit welchen Kriterien hat man zehn aus diesen 14 zur sofortigen Realisierung ausgewählt?
Diese Auswahl geschah aus einer Reihe von Gründen – letztlich durch eine sehr sorgfältige Analyse des Evaluationsberichtes des Nationalfonds. Dies war eine schwierige Auswahl.
Inwiefern spielte eine gleichmässige Berücksichtigung der Regionen eine Rolle?
Es gibt sicher eine gewisse Balance in der Schweiz, welche wir bewahren müssen. Trotzdem ist die Frage, ob nun Basel, Genf oder Zürich stärker gefördert werden soll, falsch. Wir müssen das Problem in einem grösseren Kontext sehen: Weltweit entwickelt sich die Wissensgesellschaft, welche in immer stärkerem Mass von den Wissenschaften abhängt. Welchen Platz wird die Schweiz in dieser globalen neuen Ordnung einnehmen? Dies ist die entscheidende Frage!
Trotzdem ist man in der Region Basel ungehalten über die einseitige Förderung der Regionen Genfersee und Zürich. Was muss die Universität Basel tun, um zu mehr Forschungsgeld zu kommen?
Zentral für jede Universität wird es in den kommenden Jahren sein, auszuwählen: Wo wollen wir stark sein? Dies gilt auch für Basel, wobei sich angesichts der Pharmabranche und des „Biovalley“ am Oberrhein der Schwerpunkt quasi aufdrängt: Biotechnologie. Diese sich grenzüberschreitend bildende Konzentration an Forschungsinstitutionen ist eine grosse Chance für Basel.
Doch das nützt Basel nichts, um in der Schweiz an Forschungsgelder zu kommen...
Wir haben einen Teil der 55 Millionen Franken (NACHFRAGEN, WORAUF BEZIEHT SICH DAS „der“?) für Projekte der grenzüberschreitenden Forschungszusammenarbeit bereitgestellt. Basel wird sicher auch von diesen Beiträgen profitieren können. Somit lassen sich folgende vier Punkte formulieren, welche sich die Region Basel zu Herzen nehmen soll: Erstens, Prioritäten und Posterioritäten (VERSTEHT DAS JEMAND?) setzen. Zweitens, grenzüberschreitende Kooperationen anstreben. Drittens, die Kooperation mit der pharmazeutischen Industrie verstärken. Viertens, die Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen suchen. Die Universität Basel ist diesbezüglich schon stark engagiert. Der Bund wird einen solchen Prozess der Vernetzung fördern.
In Ihren Visionen für eine Hochschule Schweiz spielt die Autonomie und Verantwortung der Hochschulen eine entscheidende Rolle. Wie lässt sich diese Autonomie mit dieser quasi von oben erwünschten Vernetzung vereinbaren?
Ich sehe hier keinen Widerspruch. Die Vernetzung wird sich als Folge der Autonomie ergeben. Nehmen wir als Beispiel die Bioinformatik. Genf und Lausanne haben hier schon früh begonnen, Forschungskapazität aufzubauen. Basel folgte und jetzt auch Zürich – alles autonome Entscheide der Universitäten. Nun werden diese Forschungsaktivitäten im Rahmen des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik unterstützt. Damit erreicht die Schweiz eine starke Position auf dem internationalen Parkett.
Die neuen nationalen Forschungsschwerpunkte sollen durch die Bildung neuer institutioneller Strukturen ebenfalls zu dieser Netzwerkbildung beitragen. Welchen Effekt sollen die NFS sonst noch auf die Schweizer Forschungslandschaft haben?
Wir haben in der Schweiz das Problem einer zu tiefen Kluft zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Wir brauchen eine Kette der Innovation von der Grundlagenforschung hin zu marktreifen Produkten. Die Forschungsschwerpunkte sollen zur Bildung dieser Kette beitragen.
Erreicht man mit den jetzt ausgewählten Projekten dieses Ziel?
Diese Frage wird man sicher erst nach einiger Zeit beantworten können. Ich persönlich bin jetzt nicht ganz zufrieden. Die jetzt realisierten Projekte erreichen die genannte Zielsetzung nicht im erwünschten Umfang.
Der Aufbau der Forschungsschwerpunkte folgt Ihrer Idee der Netzwerkbildung innerhalb der Forschungslandschaft Schweiz. Dieser Gedanke wird aber von einer Reihe von Leuten angegriffen: Durch Netzwerke würde mittelmässige Forschung unterstützt. Stattdessen sollte man konsequent Talente in der Grundlagenforschung unterstützen. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Die Schweiz hat nicht die Finanzmittel für eine derartige Form der Forschungsförderung. Diese Kritiker gehen hier von einer falschen Voraussetzung aus. Uns fehlt es zudem an der kritischen Masse von Forschungsinstitutionen in den jeweiligen Gebieten. Mit der Bildung von Netzwerken erreichen wir diese kritische Masse in den für die Schweiz wichtigen Bereichen. Dann können wir unsere Finanzmittel gezielt einsetzen. Zuvor müssen wir aber unsere Kompetenz gewissermassen markieren – und dazu dienen die nationalen Forschungsschwerpunkte. Damit haben wir erstmals ein Mittel in der Hand, Forschung über acht bis zehn Jahre hinweg zu fördern. Ausserdem sind 70 bis 80 Prozent der Forschungstätigkeit in den neuen Schwerpunkten der Grundlagenforschung zurechenbar. Die Wissenschaftler in den Schwerpunkten werden sich künftig nicht mehr dauernd um die Finanzierung ihrer Projekte kümmern müssen und erhalten damit mehr Freiheit. Insofern verstehe ich die in der scientific community geäusserte Kritik nicht. Die kommenden Herausforderungen verlangen gemeinsame Anstrengungen – auch von den verschiedenen Exponenten der Schweizer Forschungspolitik.
Wird es die einst angekündigte zweite Ausschreibung der nationalen Forschungsschwerpunkte geben?
Voraussichtlich ja: 2002 soll die zweite Ausschreibung lanciert werden. Ende 2003 soll der definitive Entscheid vorliegen – unter dem Vorbehalt, dass das Parlament die Finanzgrundlage geschaffen hat.
Im Laufe des Selektionsprozesses wurde von verschiedener Seite Kritik geübt, beispielsweise weil die Prozedur zu lange dauerte. Wird sich diese Kritik auf die Ausgestaltung der zweiten Ausschreibung auswirken?
Es wird sicherlich zu Änderungen kommen. Im September des kommenden Jahres ist eine Evaluation dieses Prozesses vorgesehen – unter anderem auch unter Einbezug des Nationalfonds und einiger damals beteiligter Wissenschaftler. Vorstellbar ist beispielsweise eine engere thematische Vorgabe.