Medical humanities – die geisteswissenschaftliche Perspektive in der Medizin
Der in den letzten Jahren laut gewordene Ruf nach einer neue Medizin verlangt nach einer stärkeren Einbindung nichtmedizinischer Perspektiven in die Ausbildung von Ärzten und anderen medizinischen Fachpersonen. Dazu wird jetzt eine neue Weiterbildungsmöglichkeit geboten: Unter federführender Mitwirkung schweizerischer Institutionen beginnt in diesem Jahr der erste europäische Masterkurs in „Medical humanities“.
Eigentlich ist es erstaunlich, dass der Begriff „Heilkunst“ in den heutigen Debatten rund um Perspektiven und Zukunft der Medizin so selten gebraucht wird. Schliesslich schwingt in diesem Wort jene humanistische Perspektive mit, welche von der Medizin heute so oft eingefordert wird: Den enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Medizin mag zwar niemand missen. Trotzdem wünschen sich viele Patientinnen und Patienten mehr von den Ärzten und Pflegekräften als die Beherrschung ihres Handwerkes: Einfühlungsvermögen und Sozialkompetenz. Dies ist nicht nur das Ergebnis verschiedener Umfragen, sondern tritt auch in der ärztlichen Praxis immer wieder als Wunsch auf. „Heilen“ ist in dem Sinn eine Kunst, welche das Eingehen auf den Patienten als ganzen Menschen erfordert.
Die Diskussionen um eine Medizin, welche mehr sein soll als das Management von Krankheiten mittels Wissenschaft und Medizinaltechnologie ist sicher nicht neu. In den USA haben sich diese seit rund 20 Jahren um den Begriff der „medical humanities“ kristallisiert. Grob gesagt wird unter diesem Begriff die Medizin vom Blickwinkel verschiedener sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen aus beleuchtet. Die Philosophie der Medizin (beispielsweise Gesundheits- und Krankheitsbegriffe), medizinethische und medizinjuristische Fragen bis hin zur Darstellung der Medizin in verschiedenen Formen der Kunst sollen gleichermassen unter dem Sammelbegriff der „medical humanities“ fallen. Eine Reihe von Instituten in den USA befassen sich explizit mit medical humanities, das Bekannteste davon ist an der Universität von Galveston/Texas angesiedelt.
Bezüglich der Zielsetzung der „medical humanities“ lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Eine „additive Sichtweise“ wünscht eine Ergänzung der klassischen Medizin mit verschiedenen humanwissenschaftlichen Perspektiven: Durch die Einbindung von geisteswissenschaftlichen Aspekten soll die Medizin an Ganzheitlichkeit gewinnen. Man möchte sicher stellen, dass zumindest einige Experten innerhalb des medizinischen Systems die gewünschten Generalisten sind. Eine „integrative Sichtweise“ wünscht hingegen eine konsequente Einbindung der humanwissenschaftlichen Perspektiven in die Ausbildung aller Medizin-Fachpersonen. Ziel ist eine eigentliche „Humanisierung“ der Medizin, wobei über die konkrete Ausgestaltung dieses doch eher vagen Ziels Differenzen bestehen.
Doch handelt es sich bei den „medical humanities“ wirklich um mehr als um einen blossen Sammelbegriff? Diese Frage stellt sich rasch angesichts der Vielfalt der Aspekte, welche unter den Begriff der „medical humanities“ fallen sollen. Warum soll es nötig sein, bereits recht arrivierte Disziplinen wie die Geschichte der Medizin oder Bioethik quasi unter ein neues begriffliches Dach zu stellen? Der Grund liegt darin, dass sich die Vertreter der „medical humanities“ mit einer reinen Ergänzung der klassischen Medizin mit humanwissenschaftlich geprägten Subdisziplinen nicht zufrieden geben möchten. Vielmehr soll eine Fragmentierung der verschiedenen humanwissenschaftlichen Ansätze in der Medizin verhindert und eine gemeinsame kommunikative Basis geschaffen werden. Beispielsweise der Architekt, der ein Spital baut, der Ökonom, der das Spital später verwaltet und das Pflegepersonal, welche im Spital dereinst arbeitet sollen soweit miteinander reden können, dass Bedürfnisse ausgedrückt und verstanden werden.
Der Einbezug verschiedener humanwissenschaftlicher Perspektiven in die Medizin und das Vermitteln von Wissen um die Vielfalt der Aspekte, welche in der Medizin eine Rolle spielen, ist demnach nicht genug: Eine Ausbildung in „medical humanities“ soll insbesondere auch die Fähigkeit zur Verständigung zwischen den verschiedenen Experten im Gesundheitswesen wie auch zum Patienten fördern. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Erwerb von Kenntnissen, welche audiovisuelle Kunst und Literatur von Krankheit vermitteln, soll dazu beitragen, dass Ärzte und Pflegende einen besseren Zugang zu den „Erzählungen“ ihrer Patienten finden.
Diese ganzheitliche Sicht auf die Medizin kann nun erstmals in Europa in einem Master-Kurs „medical humanities“ erlangt werden. Unter Federführung der Universität der Insubria (Varese/Italien), der Medizinischen Fakultät von der Universität Genf und der Stiftung Sasso Corbaro in Bellinzona (Organisation) wurde dieser zweijährige Nach¬diploms-Studiengang erarbeitet. Insgesamt 12 Module und 2 Sommerschulen beschäftigen sich mit Themen wie „Identität und Darstellungen in der Medizin“, „Pflege und Kultur“, „Körper und Gesundheit“, „Leiden und Krankheit“, „Gesundheitsökonomie und –planung“, „Die Pflege-Beziehung“, „Mensch und Umwelt“, „Biotechnologie“ „sozio-biologische Aspekte von Gesundheit und Krankheit“, „Medizinische Prognose und Schicksal“ sowie „Ethik und Erzählung“. Unterrichtssprachen sind französisch, italienisch und englisch. Der berufsbegleitende Lehrgang richtet sich insbesondere an Kaderpersonen aus sehr verschiedenen Gebieten, welche in einem Zusammenhang mit medizinischen Fragestellungen stehen. Der Aubau einer Kultur der Kommunikation, in welcher jeder Teilnehmer sein Wissen einbringen kann, ohne in Oberflächlichkeit zu verharren, wird eine der grossen Herausforderungen des Master-Lehrganges werden. Auch daran wird der Erfolg der „medical humanities“ gemessen werden.
Weitere Informationen zum „Master européen en medical humanities“ sind erhältlich unter: Fondazione Sasso Corbaro, Pian Laghetto 1, 6500 Bellinzona, fax 091 825 20 03, e-mail: master@medical-humanities.ch