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Das Bonum Commune – oder die Frage, welche Werte eine Gemeinschaft realisieren soll

Die Frage nach der richtigen Organisation menschlicher Gemeinschaften ist eines der Grundprobleme der Philosophie. Kaum einer ihrer grossen Repräsentanten ist diesem Problem ausgewichen. Grund genug für die Schweizerische Akademie der Geistes und Sozialwissenschaften, dass sie ihr alljährliches Kolloquium in diesem Jahr dem „Bonum Commune“ gewidmet hat. Fachleute aus verschiedenen Disziplinen diskutierten eine Woche lang Vorstellungen und Bewertungen von Gemeinwohl aus unterschiedlichen Perspektiven. Umstritten war dabei insbesondere die Frage, in welchem Sinn die Globalisierung eine Herausforderung für das Gemeinwohl in den verschiedenen Staaten bedeutet und ob es gar so etwas wie ein „globales Gemeinwohl“ gibt.

Kaum eine Woche vergeht, in welcher nicht irgend eine Gruppierung darauf pocht, einen wesentlichen „service publique“ zu leisten, welcher für die Bevölkerung in der Schweiz und anderswo unverzichtbar ist. Die Bezugnahme auf das Gemeinwohl ist zweifellos in Mode und könnte vom skeptischen Standpunkt aus gerade als Hinweis gewertet werden, dass eine alte philosophische Kritik am Gemeinwohl zutrifft – dass dieses zur Legitimation von Sonderinteressen vorgeschoben werde. Bernard de Mandeville hatte in seiner „Bienenfabel. Private Laster, öffentliche Vorteile“ (1714) eine scharfzüngige Version dieses Arguments geliefert, wonach nicht Tugend, sondern Laster die Quelle des Gemeinwohls sei. Die Betonung einer Entsprechung von persönlicher Tugendhaftigkeit und Gemeinwohl sei eine bewusste Täuschung mit der die Eliten ihr Selbstinteresse verbergen und sich den Respekt der unteren Gesellschaftsschichten sichern wollten. Der Philosoph Francis Cheneval, der am Kolloquium dieses Beispiel brachte, zeigte damit auch eine der möglichen Perspektiven, unter welcher sich das Problem des Gemeinwohls untersuchen lässt – die philosophiegeschichtliche.

Gemeinwohl als Ziel der Staatskunst

Diese Betrachtung führt in der Tat zu einer umfassenden Problemschau, denn praktisch alle grossen Philosophen haben sich in der einen oder anderen Form mit dem Problem des Gemeinwohls herumgeschlagen. In der abendländischen Tradition finden sich Spuren der philosophische Rede über das Gemeinwohl bereits in der antiken Polis, stellte Cheneval fest. Platon wie Aristoteles etwa betrachtete das Gemeinwohl als Ziel der Staatskunst, wobei insbesondere Aristoteles betonte, dass das Gemeinwohl nicht vom guten Leben des Einzelnen getrennt werden könne. Dieses bilde letztlich das Kriterium einer geglückten politischen Organisation. Die Unterjochung des Bürgers zu Gunsten des Wohls der Gemeinschaft oder einer grossen Zahl ihrer Mitglieder ist unerwünscht. Vergleichbare Gedanken finden sich auch im aussereuropäischen Kontext, wie die Religionswissenschaftlerin Karenina Kollmar-Paulenz bemerkte: So obliegt es dem Herrscher in einem buddhistischen Staat dafür zu sorgen, dass seine Untertanen optimale Bedingungen haben, den buddhistischen Heilsweg zu beschreiten.

Die Frage nach der Werthaltung des Individuums im Angesicht der Forderung nach Förderung des Gemeinwohls ist denn auch eines der Grundfragen, welcher sich Philosophen immer wieder gestellt haben – insbesondere das Problem, ob und inwieweit die Tugendhaftigkeit des Einzelnen Voraussetzung zur Schaffung von Gemeinwohl ist. Sowohl der bereits angesprochene Mandeville wie beispielsweise auch Adam Smith machten deutlich, dass der Egoismus des Einzelnen durchaus mit dem Schaffen von Gemeinwohl vereinbar sei. Während Mandeville in diesem Sachverhalt aber noch eine bitterböse Kritik an der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft sah, war dies von der Warte von Adam Smith aus durchaus plausibel, wie Cheneval festhielt. Die moralische Finalität von unmoralischen Phänomenen ist vereinbar mit der Position, dass das Universum vom allmächtigen Willen eines guten Gottes durchdrungen ist. Aus Schlechtem kann demnach Gutes erwachsen, quasi gelenkt von Adam Smith’s berühmter „unsichtbaren Hand“.

Das Gemeinwohl soll Resultat einer guten Organisation einer menschlichen Gemeinschaft sein, wobei es darum geht, Individual- und Kollektivinteressen abzugleichen. Vom philosophischen Standpunkt aus stellt sich demnach auch die Frage nach der Begründung jener Regeln, welche sich eine Gemeinschaft zu eigen machen soll, um Gemeinwohl sicher zu stellen. So orientiert sich die klassische, im 19. Jahrhundert geprägte utilitaristische Vorstellung am grösstmöglichen Gesamtnutzen für eine Gemeinschaft. Der Utilitarismus ist demnach diejenige ethische Theorie, welche die Orientierung am bonum commune als zentral ansieht. Eine andere, in jüngerer Zeit einflussreiche Theorie ist die Gerechtigkeitsvorstellung von John Rawls, dessen 1971 publizierte „Theorie der Gerechtigkeit“ ein Szenario formulierte, in welchem eine Gemeinschaft idealerweise zu einem Regelsystem kommen könne. So soll die Gemeinschaft unter einem „Schleier des Nichtwissens“ ihre Regeln wählen, kein Mitglied könne demnach im voraus wissen, welche Stellung es in der Gesellschaft einnehmen werde. Diese (und andere) Versuche zur Begründung von Regeln für Gemeinschaften haben zu weitläufigen philosophischen Diskussionen Anlass gegeben, waren aber am Kolloquium kein breit diskutierter Gegenstand.

Was sind die Inhalte des Gemeinwohls?

Vielmehr zeigten sich die fachspezifischen Differenzen bei der inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls. Wie der Rechtsphilosoph Kurt Seelmann festhielt, lässt sich diesbezüglich bereits in der Geschichte ein Wechsel feststellen: Während im Mittelalter das bonum commune häufig als religiöses Gut verstanden wurde, findet sich das Gemeinwohl in der frühen Neuzeit als Synonym für Recht und Frieden und im aufgeklärten Absolutismus nicht selten als gemeine Wohlfahrt im ökonomischen Sinn. Gerade der ökonomische Aspekt ist heute ein wesentliches Element des Gemeinwohls im Sinn eines gemeinsam geteilten Wohlstandes, wobei jedem Mitglied einer Gesellschaft ein gewisses Minimum zukommen soll. Doch einer Reduktion auf die ökonomische Dimension würde heute kaum jemand zustimmen. So betonen Politologen und Juristen klassische Grundrechtelemente wie die Menschenrechte als zentrale Voraussetzungen dafür, dass in einer Gesellschaft Gemeinwohl entstehen kann. Soziologen wiederum verweisen auf die Notwendigkeit einer minimalen sozialen Integration der Mitglieder einer Gemeinschaft als Voraussetzung für das bonum commune. Die Diskussionen machten auch deutlich, dass es nicht immer einfach ist, zwischen Voraussetzungen für das Gemeinwohl und inhaltliche Aspekte zu unterscheiden. Die Menschenrechte hingegen haben sich in der Diskussion als Hauptkandidaten eines minimalen „globalen Gemeinwohls“ erwiesen.

Unterscheidungen hinhaltlicher Art werden dann wichtig, wenn es darum geht, die Auswirkugnen des gesellschaftlichen Wandels auf das Gemeinwohl zu thematisieren. Die Politologin Sandra Lavenex stellte dazu die Unterteilung von Philip Cerny vor, wonach drei Arten von Gemeingut unterschieden werden könnten: Regulatorische Gemeingüter beziehen sich auf die Schaffung eines Regelwerktes für Märkte und umfassen unter anderem private und öffentliche Eigentumsrechte, eine Marktgesetzgebung, die Aufrechterhaltung einer stabilen Währung, die Schaffung von Regeln für den internationalen Handel und die Einführung von Standardisierungen und Normen (z.B. Masssystem). Distributive Gemeingüter umfassen jene, welche vom Staat produziert oder verteilt werden. Beispiele sind die Produkte von Staatsbetrieben oder der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur. Redistributive Gemeingüter schliesslich sind die Kernelemente des modernen Wohlfahrtsstaates wie der Aufbau einer Sozialhilfe, Beschäftigungspolitik oder der Aufbau eines öffentlichen Gesundheitssystems.

Globalisierung und Gemeinwohl

Ausgerüstet mit diesem Schema lässt sich besser beschreiben, wie sich die unter dem Sammelbegriff „Globalisierung“ gefassten vielfältigen Veränderungen auf ökonomischer und politischer Ebene auf das Gemeinwohl auswirken. So fasste Sandra Lavenex die verschiedenen Diagnosen in ihrem Beitrag zusammen: Staaten haben auf der Ebene der Gesetzgebung einen Teil ihrer Autonomie verloren. So können multinationale Unternehmen strengeren Umweltgesetze in einem Staat durch Verschiebung der Produktion in einen anderen Staat mit lascheren Normen aus dem Weg gehen. Die Effektivität von Gesetzen wird dadurch vermindert. Im Bereich der distributiven Gemeingüter sind die Staaten mit der Forderung nach Privatisierung konfrontiert. Eine Reihe von ehemals staatlich erbrachten Dienstleistungen wird heute von Privaten geleistet, z.B. In der Telekommunikation, Strom- und Wasserversorgung in verschiedenen Staaten. Bezüglich der redistributiven Gemeingüter schliesslich etabliert sich ein Konkurrenzkampf zwischen den Staaten, was eine Angleichung der politischen Agenden zur Folge hat: Gefordert werde eine marktfreundliche Politik auf Kosten sozialpolitischer Anliegen. Die Globalisierung hat demnach eine tiefgreifende Auswirkung auf das Staatsverständnis und damit auch auf den Begriff des Gemeinwohls, für dessen Schaffung der Staat zuständig ist.

Eine Reihe weiterer Beträge machten aber auch deutlich, dass in verschiedenen Regionen der Welt die Förderung des Gemeinwohls noch vor ganz anderen Herausforderungen steht – im wesentlichen wegen dem Fehlen einer gerechten staatlichen Struktur. Der Antropologe Christian Giordano (siehe Gesprächsrunde) präsentierte das Beispiel Süditalien: Die Bevölkerung dieser Region erlebte über Jahrhunderte Fremdherrschaft und damit einhergehende Willkür, Korruption und politische Instabilität als Folge der Herrschaftswechsel. Dieser historische Balast verunmöglichte es der Bevölkerung, Vertrauen in die politischen Strukturen zu gewinnen – eine unabdingbare Voraussetzung für Gemeinwohl. Als Gegenkonzept entwickelte sich die „morale albertiana“, wonach die private Sphäre den einzigen Bereich darstellt, der Sicherheit vermittelt und in dem Verlässlichkeit herrscht. Diese privaten Gruppen treten in Konkurrenz zueinander uns es entwickelt sich ein Kampf der Partikularinteressen, in welchem der Staat als Fremdkörper erscheint, der höchstens für die Interessen einzelner Gruppen instrumentalisiert wird.

Das afrikanische Dilemma

Viele afrikanische Staaten wiederum sind in einem anderen Dilemma gefangen, wie der Politikwissenschaftler Jürg Martin Gabriel ausführte – dem Staatsversagen (siehe ebenfalls Gesprächsrunde). Dies kann in zweierlei Form auftreten: Zum einen kollabieren staatliche Systeme regelrecht, wie dies in jüngster Zeit Somalia, die Demokratische Republik Kongo oder Ruanda gezeigt haben. Zum anderen können die staatlichen Systeme durchaus stabil sein, aber im Vollzug versagen. Dieses Problem zeigte Gabriel anhand des Beispiels Kamerun. Dieses „koloniale Flickwerk“ ist, so könnte man meinen, aufgrund seiner enormen Heterogenität prädestiniert für Instabilität und Zusammenbruch. Hingegen zeigen die staatlichen Strukturen eine erstaunliche Stabilität. Instrumente der politischen Willensbildung (Wahlen) und des Aushandelns von Kompromissen (im Parlament) sind vorhanden – doch die Vereinbarungen werden weder umgesetzt noch eingehalten. Die Staatsorgane sind in Form eines „klientelistischen Netzwerkes“ organisiert, in welcher die Vergabe von Posten dazu dient, dem jeweils Höhergestellten sein Einkommen zu ermöglichen.

Bezüglich eines Aspekts des Gemeinwohls – der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung – mag dieses System durchaus erfolgreich sein. Doch eine wirtschaftliche und soziale Ent¬wicklung wird dadurch verunmöglicht, wie Gabriel anhand fünf Indikatoren darstellt: Kamerun ist international marginalisiert und praktisch nicht in die internationalen Handels- und Kapitalströme eingebettet. Das Ausmass der informellen Wirtschaft – die vom Staat nicht erfasste, geregelte und besteuerte ökonomische Tätigkeit – ist beträchtlich. Grosse Bevölkerungskreise werden marginalisiert. Der öffentliche Sektor ist marode und korrupt. Kamerun ist und bleibt bis auf weiteres auf den Empfang von Entwicklungshilfe angewiesen. Die Änderung dieser Verhältnisse wird laut Gabriel noch lange Zeit in Anspruch nehmen und im wesentlichen von der ansässigen Bevölkerung selbst in Angriff genommen werden müssen. Druck von Aussen sei ohne den notwendigen Willen zum Wandel wirkungslos. Hier zeigen sich die Grenzen einer Vorstellung eines „globalen Gemeinwohls“. Es sind die einzelnen menschlichen Gemeinschaften, welche für ihre Form des Gemeinwohls eintreten müssen.


Die Kolloquien der SAGW

Alljährlich lädt die schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) Fachleute zu einem einwöchigen Kolloquium ein, an welchem – losgelöst vom Alltag der Eingeladenen – intensiv über ein Thema diskutiert wird. An diesen Veranstaltungen sollen die eingeladenen Fachleute neue Impulse für ihre Tätigkeit in Forschung und Beruf erhalten. Damit orientieren sich die SAGW-Kolloquien an der antiken Idee der Akademie als Treffpunkt des wissenschaftlichen Dialogs. Themas des diesjährigen Kolloquiums war „Bonum Commune“. Folgende Personen haben an der Veranstaltung teilgenommen: Jean-Michel Bonvin (Soziologe), Alain Boyer (Philosoph), Sven Bretfeld (Religionswissenschaftler), Francis Cheneval (Philosoph), Piotr Dardzinski (Politologe), Paul H. Dembinski (Ökonom), Frank Emmert (Rechtswissenschaftler), Jürg Martin Gabriel (Politologe), Christion Giordano (Anthropologe), Mark Joob (Philosoph), Georg Kohler (Philosoph), Karénina Kollmar-Paulenz (Religionswissenschaftlerin), Angelika Krebs (Philosophin), Sandra Lavenex (Politologin), Mario Losano (Philosoph), Marek o.P. Pienkówski (Naturphilosoph), Hugues Poltier (Philosoph), Roland Ris (Germanist), Isolde Schaad (Publizistin), Michael Schefczyk (Philosoph), Kurt Seelmann (Rechtsphilosoph), Beat Sitter-Liver (Philosoph), Véronique Zanetti (Philosophin), Rudolf zur Lippe (Philosoph). Im kommenden Jahr erscheinen die Beiträge in Buchform.


„Ohne Vertrauen in die Politik gibt es kein Gemeinwohl“

Die Globalisierung, verstanden als die zunehmende wirtschaftliche und politische Verflechtung verschiedener Regionen der Welt, fordert das Gemeinwohl heraus: Denkbar ist sowohl ein wirtschaftlicher Konkurrenzkampf zwischen den Staaten auf Kosten des Gemeinwohls, oder auch die Herausbildung globaler Standards von Gemeinwohl. Ein Anthropologe, eine Philosophin, ein Politologe und ein Rechtswissenschaftler diskutieren das Spannungsfeld Globalisierung und Gemeinwohl.

Herr Giordano, Sie haben am Beispiel Süditalien erläutert, wie die Vorstellung von Gemeinwohl in einer Gesellschaft verloren gehen und durch eine mafiöse Struktur ersetzt werden kann. Was ist die Ursache für eine solche Entwicklung?

Giordano: Süditalien ist das Beispiel einer Gesellschaft, in welcher Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen sozial produziert wird. Auf den ersten Blick gelten solche Gesellschaften als asozial und geradezu pathologisch. Trotzdem lässt sich ein Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft feststellen. Warum ist dies so? Ich denke, diese Frage lässt sich nur aus einem historischen Blickwinkeln aus beantworten. Seit Jahrtausenden sind die Bewohner von Süditalien Objekt von Fremdherrschaft. Dies hat die Bevölkerung systematisch von jeglicher Form der staatlichen Machtausübung entfremdet. Man begegnet den staatlichen Institutionen, welche eigentlich Träger des Gemeinwohls sein sollten, mit Misstrauen und organisiert sich lieber im privaten Umfeld. Die Mafia bildet sich dann als Folge dieser Entwicklung. Es ist zwar traurig, doch die Mafia hat sich in Süditalien als effizienter als der Staat erwiesen, so dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen eher mit der Mafia zusammenarbeiten wollten als mit dem Staat.

Können Gesellschaften ohne Gemeinwohl langfristig überhaupt existieren?

Giordano: Wenn sich solche Gesellschaft in unserem Sinne modernisieren wollen, ist dies ohne ein institutionell gestütztes Gemeinwohl, das auf Vertrauensbeziehungen zwischen Bürgern und Staat beruht, nicht möglich. Süditalien ist das Beispiel einer stagnierenden Gesellschaft, in der sich eine Empfängermentalität ausgebreitet hat. Man wartet passiv auf die Verteilung von Subsidien, die von Brüssel oder Rom kommen. Es herrscht das Motto ich kann meinen Betrüger (der Staat bzw. die EU) betrügen. Der Lebensstandard ist zwar nicht so schlecht, doch die Produktivtivität bleibt tief.

Herr Gabriel, Sie präsentierten mit Kamerun ein weiteres Beispiel einer Gesellschaft, die sich vom Gemeinwohl entfremdet hat. Sind Süditalien und Kamerun vergleichbar?

Gabriel: Im Gegensatz zur Herrn Giordano habe ich konkrete politische Prozesse betont. Diesbezüglich zeigt das Beispiel Kamerun, dass trotz der enormen Heterogenität des Landes das Gemeinwohl im formalen Sinn zustande kommt. Gemeint ist damit, dass es durchaus politische Entscheidungsprozesse gibt, in welchen man sich beispielsweise auf Gesetze verbal einigt, die dem Gemeinwohl förderlich sind. Diese Gesetze werden aber schlicht nicht umgesetzt, manchmal gar nicht erst offiziell publiziert. Es entwickelte sich vielmehr ein sogenannt „klientelistisches Netzwerk“, ein Pfründenwesen. Ämter werden nicht zur Förderung des öffentlichen Wohls, sondern zur materiellen Sicherung des Amtsinhabers eingerichtet. Dieser erhält das Amt von seinem Vorgesetzen, dem Patron, als Leihgabe mit der Bedingung, auch für die Bedürfnisse des Patron zu sorgen. Verwaltungsabläufe richten sich in solchen Netzwerken nicht nach den Gesetzen, sondern sind Ergebnis langwieriger, fast permanenter Verhandlungen. Der Staatsapparat gleicht einem riesigen Basar. Eine moderne Gesellschaft und Wirtschaft ist unter solchen Umständen nicht realisierbar.

Die Beispiele scheinen zu zeigen, dass Gemeinwohl nicht realisiert werden kann, wenn Misstrauen gegenüber dem Staat besteht oder der Staat selbst versagt. Stimmt die philosophische Analyse mit dieser Feststellung überein?

Zanetti: Die philosophische Analyse stellt zuerst die Frage, was mit dem Begriff des Gemeinwohls gemeint sein kann. Handelt es sich um ein kollektives Gut, das allen Mitgliedern einer Gesellschaft zukommt, oder ist das Gemeinwohl vielmehr eine Art normative soziale und politische Struktur, welche es der Gesellschaft ermöglicht die Interessen aller ihrer Mitglieder bei der Bestimmung von kollektiven Zielen zu berücksichtigen. Im ersten Sinn bedeutet das Gemeinwohl die konkreten Vorstellungen darüber, wie die Verteilung von Grundgütern, Nutzen und Lasten, von Rechten und Pflichten auf Staat, Zivilgesellschaft und Individuum vorgenommen werden soll. Im anderen wird der Begriff "Gemeinwohl" als ein regulativer Begriff verstanden. Er verweist in erster Linie auf die institutionellen Ermöglichungsbedingungen des guten und gerechten Zusammenlebens. Beide Aspekte müssen zusammengehalten werden. Süditalien wie Kamerun sind nun offenbar Beispiele, wo diese Ermöglichungsbedingungen gar nicht erst gegeben sind. Deshalb stehen Partikulärinteressen im Vordergrund.

Sind denn primär rechtliche Strukturen solche „Ermöglichkeitsbedingungen“?

Emmert: Die rechtlichen Strukturen haben eine dienende Funktion. Ihre Existenz allein sagt nichts darüber aus, ob das Gemeinwohl realisiert wird – auch Unrechtsstaaten können durchaus ein funktionierendes Rechtssystem haben, als Beispiel kann man die ehemals kommunistischen Staaten nennen. Die Frage nach den Ermöglichkeitsbedingungen umfasst also nicht nur das Recht, sondern auch die Frage, wie in einer Gesellschaft ein Konsens über Grundwerte zustande kommt, an dem sich messen lässt, ob Gemeinwohl nun realisiert wird oder nicht. Hier gibt es keine eindeutige Antwort. Das westliche Modell kennt das Spannungsfeld zwischen den klassischen, individuellen Menschenrechten und der Idee des Wohlfahrtsstaates, was in einzelnen Staaten zu unterschiedlichen Lösungen führt, vergleicht man etwa die USA mit Schweden. Ermöglichungsbedingung heisst also, ob die Bevölkerung in den einzelnen Staaten wirklich wählen kann, welche Werte mehr und welche weniger gewichtet werden. Dies führt dann zu unterschiedlichen Rechtssystemen. Wichtig ist aber, dass Grundrechte wie die Menschenrechte einen äusseren Rahmen abgeben, der auch in einer Demokratie nicht überschritten werden sollte.

Bezeichnet also das Gemeinwohl nur diesen „Minimalstandard“ von Grundrechten, der nicht überschritten werden sollte?

Gabriel: Nein, das Gemeinwohl umfasst auch jene Regelungen, die über diesen Minimalstandard hinausgehen. Der gesamte politische Konsens eines Landes kann dazu gezählt werden. Unterschiedliche Gesellschaften realisieren demnach ein unterschiedliches Gemeinwohl.

Zanetti: Sicherlich gibt es verschiedene Vorstellungen von Gemeinwohl. Die erste Frage stellt sich auf der strukturellen Ebene: Es muss die Möglichkeit gegeben sein, dass die Leute auf politischer Ebene entscheiden können, welche Gesetze gelten sollen und damit welche Form von Gemeinwohl realisiert werden soll. Auf dieser Ebene müssen Minimalstandards von Grundrechten impliziert werden, um gerechte Gemeinwohlsinhalte zu erzielen.

Giordano: Das allein reicht aber nicht. Die Bevölkerung muss das Vertrauen haben, dass das politische System wirklich funktioniert. Ist dieses nicht gegeben, reicht beispielsweise die Durchführung von Abstimmungen nicht aus.

Ein „globales Gemeinwohl“ scheint es also nicht zu geben, hingegen aber gewisse, global gültige Bedingungen, damit Gemeinwohl geschaffen werden kann wie Vertrauen in den Staat, die Möglichkeit der politischen Partizipation und eine funktionierende Gesetzgebung. Hingegen wird behauptet, die Globalisierung führe zu einer „Uniformierung“ der Wünsche der Menschen. Ist dies nicht ein möglicher Ansatzpunkt für die Vorstellung eines globalen Gemeinwohls?

Gabriel: Sicher führt Globalisierung in dem Sinn, dass beispielsweise die Menschen in Kamerun dasselbe wollen wie wir, zu einer Vereiniheitlichung der Zielvorstellungen. Dies ist auch nicht unbedingt schlecht. Hingegen sind an vielen Orten die Voraussetzungen zur Schaffung von Gemeinwohl eben gar nicht gegeben. Einigung über die Ziele reicht da nicht, es müsste auch eine Übereinstimmung im alltäglichen Verhalten geben. Doch gerade hier bestehen enorme kulturelle Unterschiede.

Giordano: Man muss mit der Vorstellung eines „globalen Allgemeinwohls“ aufpassen. Hier stellt sich die Gefahr einer negativen Utopie im Sinne einer standardisierten „brave new world“, in der die Entscheidungen nur von oben d.h. von den Zentren kommen. Man muss immer denken, dass die Welt trotz Globalisierung immer noch in Zentren und Peripherien aufgeteilt ist und auch bleiben wird.

Zanetti: Die angesprochene Uniformierung der Wünsche geht primär einher mit einer globalisierten Wirtschaft, die überall die selben Produkte absetzen will. Doch ich denke, die mit dem Gemeinwohl verbundenen Wünsche betreffen nicht allein solche konstruierten Wünsche.

Emmert: Die Globalisierung, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, vermag in den Menschen vielleicht dieselben Träume zu wecken. Wünsche hingegen stehen in einem Zielkonflikt, was Platz lässt für Unterschiede und damit auch für unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinwohl.

Steht die Schaffung von Gemeinwohl demnach eher in einem Zielkonflikt zur Globalisierung?

Emmert: Die Globalisierung per se lässt sich nicht als gut oder schlecht charakterisieren, sie gibt in erster Linie neue Möglichkeiten und es kommt darauf an, wie diese genutzt werden. Offenbar zeichnet sich nun aber ab, dass diese Möglichkeiten eher für das Eigeninteresse von einzelnen Unternehmern oder Staaten genutzt werden. So haben beispielsweise multinationale Unternehmen die Möglichkeit, nationale Gesetze gegeneinander auszuspielen. Hier fehlt ein überstaatliches Regelungswerk, um derartiges zu verhindern. Hingegen ist die Globalisierung nicht nur wirtschaftlich dominiert, denken wir beispielsweise an die Bestrebung zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs oder an die Einklagbarkeit bestimmter wirtschaftspolitischer Verfehlungen vor der Welthandelsorganisation.

Zanetti: Es gibt auch eine Globalisierung hinsichtlich ethischer Minimalstandards, denken wir etwa an die UNO-Menschenrechtskonvention. Dies ist eine der Voraussetzungen, um in den einzelnen Staaten auf das Gemeinwohl hin arbeiten zu können. Insofern lässt sich die Globalisierung nicht einfach dem Gemeinwohl gegenüber stellen.

Gabriel: Gegen diesen Trend zur Globalisierung ethischer Minimalstandards wird oft der Einwand des Kulturrelativismus eingeworfen – meistens aber von den Regenten in Unrechtsstaaten. Denken wir etwa an die chinesische Führung oder an islamische und afrikanische Tyrannen.

Kann es demnach gerechtfertigt sein, zu Gunsten dieser Minimalstandards in gewissen Staaten zu intervenieren?

Zanetti: Ich denke schon. Man muss dabei beachten, dass die Palette der Interventionsmöglichkeiten gross ist: So können Staaten aus überstaatlichen Institutionen ausgeschlossen werden, denken wir etwa an den Europarat. Militärische Interventionen sind ein kollektives Instrument, das nur als ultima ratio und für extreme Fälle von Menschenrechtsverletzung angewandt werden darf.

Emmert: Das Spektrum ist in der Tat sehr breit, es reicht von der Ignorierung bestimmter staatlicher Repräsentanten bis hin zur sogenannten humanitären Intervention, also dem militärischen Eingreifen. Das aktuelle Beispiel ist sicher der Irak. Hier muss man mit Bedauern anfügen, dass die derzeitige amerikanische Regierung offenbar das Spektrum der Möglichkeiten nicht ausschöpfen möchte sondern gleich zur härtesten Variante übergehen will.

Inwiefern kann durch die Schaffung überstaatlicher Organisationen das Gemeinwohl gefördert werden?

Emmert: Ich denke, dass diesbezüglich durchaus ein Spielraum besteht. Kehren wir zurück zum Beispiel von Süditalien. Durch die Einbindung Italiens in die EU sind die Möglichkeiten der Mafia sicher beschnitten worden: sie vermag vielleicht die Gesetzgebung in Palermo zu beeinflussen, vielleicht sogar jene in Rom, aber kaum jene in Brüssel. Somit ist sie gezwungen, auf die Umsetzung der Gesetze Einfluss zu nehmen – doch auch dort nimmt die Kontrolle zu.

Giordano: man muss allerdings denken, dass sich die Mafia inzwischen erfolgreich internationalisiert hat und weitere ökonomisch sehr ergiebige Freiräume gefunden (Südamerika, Osteuropa usw.) sowie supranationale Einflussmöglichkeiten. Die Mafia ist inzwischen ein sehr gut organisiertes System von transnationalen Netzwerken geworden ist. Es wäre deshalb nicht ganz richtig die Mafia als ein rein sizilianisches Phänomen zu begreifen, das von Brüssel aus leicht und besser kontrolliert werden kann. Wir müssen also nicht allzu optimistisch sein.

Baut sich hier nun nicht folgendes Spannungsfeld auf: Einerseits sollten man auf der überstaatlichen Ebene dahingehend wirken, dass in den einzelnen Staaten die Bedingungen für die Schaffung von Gemeinwohl geschaffen werden. Andererseits soll aber das Gemeinwohl selbst Ergebnis eines lokalen Prozesses sein. Kann man diese beiden Prozesse wirklich so scharf trennen?

Emmert: In der EU gilt diesbezüglich das Prinzip der Subsidiarität, welches der jeweils unteren Instanz den Vorrang im Handeln gegenüber der oberen Instanz zuweist, soweit ihre Kräfte dazu ausreichen. Grundsätzlich wurde die EU ja gerade dafür geschaffen, Probleme in Angriff zu nehmen, die sich auf der Ebene des einzelnen Nationalstaats nicht mehr lösen lassen. Die EU soll ja den Nationalstaat nicht verdrängen, sondern nach oben ergänzen, damit er angesichts der unaufhaltsamen Globalisierung lebensfähig bleibt. Wenn sich die verschiedenen Ebenen auf diejenigen Aufgaben konzentrieren, die sie jeweils besser lösen können, muss das Spannungsfeld zwischen lokalen, regionalen, nationalen und übernationalen Ebenen nicht auftauchen oder sollte zumindest konstruktiv lösbar sein.

Gabriel: Das Beispiel EU zeigt ausserdem auch, dass Macht sowohl nach oben wie nach unten umverteilt wurde. In zentralistischen Staaten erhalten die Regionen und Gemeinden mehr Macht, was ein lokal angepasstes Erzeugen von Gemeinwohl eben gerade fördert.

Zanetti: Es gibt sicherlich ein Spannungsfeld. Dieses gibt andereseits neue Chancen, um negative Auswirkungen einzudämmen, wie sie auf der Nationzentrierung unserer politischen und rechts-Systems entspringen. Man denke an den Internationalen Strafgerichtshof, der bis jetzt von Staatssouverän geschützte Kriminelle vor Gericht bringen kann. Man denke aber auch an dem Druck, den NGOs auf Regierungen oder auf Multinationale Gruppen üben können, damit Menschenrechte eingehalten werden. Es gibt viele Weisen, der Einflussnahme auf globale Strukturen und Konzequenzen; von unten wie von oben.

Giordano: Das auf interpersonale Vertrauensbeziehungen beruhende und zugleich von öffentlichen Institutionen garantierten Gemeinwohl umfasst gleichzeitig mehrere Ebenen und zwar supranational, national, regional und lokal. Meine Erfahrung als Ethnologe lehrt mich allerdings, dass die lokale Ebene das Fundament für jegliche Entwicklung von Vertrauensstrukturen bildet, die Gemeinwohl sozial garantieren. Eine gelungene überstaatliche Übernahme der notwendigen Garantien für Gemeinwohl wird daher auf das gemeinnützige Handeln lokaler Agenten, die sogar im Alltagsleben aktiv sind, angewiesen sein. Sonst bewegen wir uns in Richtung der bereits genannten negativen Utopie.

Emmert: Gerade wenn ich an das Spannungsfeld zwischen der lokalen, regionalen, nationalen, und europäischen Ebene in der EU denke, wünsche ich mir immer wieder, daß sich die Schweiz, mit ihrer jahrhundertealten Erfahrung in diesen Fragen des Föderalismus, aktiv und mitgestaltend in der EU einbringen würde. Die Europäische Union könnte nämlich in bißchen Verschweizerung durchaus gebrauchen. Und andererseits würde auch der Schweiz in mancherlei Hinsicht ein bißchen Europäisierung guttun. Auch so kann letztlich Gemeinwohl geschaffen und vermehrt werden.


Frank Emmert ist Rechtswissenschaftler und derzeit Visiting Professor an der Cardozo School of Law in New York. Schwerpunkte: Internationales/EU-Recht, Menschenrechte.

Jürg Martin Gabriel ist Politikwissenschaftler und derzeit Professor für Internationale Beziehungen an der ETH Zürich. Schwerpunkte: Aussenpolitik, Comparative Government.

Christian Giordano ist Anthropologe und derzeit Professor am ethnologischen Zentrum der Universität Fribourg. Schwerpunkte: Historische Anthropologie, Wirtschaftsanthropologie.

Véronique Zanetti ist Philosophin und derzeit Privatdozentin an der Universität Fribourg. Schwerpunkte: Ethik internationaler Beziehungen, Gerechtigkeitstheorie.

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