Möglichkeiten und Grenzen der „Pille nach Mass“
Mit dem Schlagwort „massgeschneidertes Medikament“ ist die Pharmakogenomik im öffentlichen Bewusstsein aufgetaucht. Ein völlig individualisiertes Arzneimittel dürfte es aber auch mit Hilfe der Pharmakogenomik nicht geben. Hingegen ist sie Ausdruck eines tief greifenden Wandels in der Medikamentenentwicklung, der nicht ohne Auswirkungen auf die Medizin bleiben wird.
„Das richtige Medikament in der richtigen Dosis für den richtigen Patienten“ – dieses grundlegende Ziel jeder mit Medikamenten gestützten Therapie will die Pharmakogenomik realisieren helfen. Sie reagiert damit auf die bekannten Probleme von auch etablierten Medikamenten. Sie wirken nicht immer, wie sie sollten, manchmal zu stark und manchmal praktisch nicht. Zuweilen führt dies zu lebensbedrohenden Situationen. So schätzte das deutsche Ärzteblatt kürzlich, dass allein in Deutschland jährlich rund 16'000 Menschen an Nebenwirk¬ungen von Medikamenten sterben würden. In den USA sollen es rund 100'000 Menschen sein.
Es lassen sich drei Ursachen für dieses Problem identifizieren: Offensichtliche Fehler bei der Verschreibung und Anwendung des Medikamentes, mangelnde Compliance (unsachgemässer Gebrauch des Medikamentes durch den Patienten) oder unerwünschte Wirkungen des Medikaments selbst. Letztere haben oft eine genetische Basis. Sie beruhen auf individuellen Unterschieden im Erbgut. Diese können beispielsweise dazu führen, dass ein Medikament im Körper weit weniger rasch als erwartet abgebaut wird. In diesem Fall würde eine geringere Dosis ebenfalls ihren Zweck erfüllen.
Was ist Pharmakogenomik?
Dass Medikamente unterschiedliche Wirkungen bei Individuen haben können ist keine neue Entdeckung. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte der britische Arzt Archibald Garrod den Begriff einer erblichen „chemischen Individualität“. Nachdem in den 1940er und 1950er Jahren wesentliche Erkenntnisse über die materielle Grundlage des Erbguts (unter anderem die Entdeckung der Struktur des Erbgutmoleküls DNA) gewonnen wurden, führte der deutsche Humangenetiker Friedrich Vogel 1958 den Begriff der „Pharmakogenetik“ ein, um die Abhängigkeit zwischen genetischer Information und Arzneimitteltherapie zu beschreiben. Mit „Pharmakogenomik“ bezeichnet man die Untersuchung des genetischen Hindergrundes von Erkrankungen mit dem Ziel, neuartige und spezifische Therapien zu entwickeln.
Die Grundlage für dieses Unterfangen wurde mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts (Genom) gelegt. Bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der gesamten menschlichen DNA-Sequenz im Jahr 2001 war klar, dass es zwischen dem Erbgut von Menschen viele medizinisch relevante individuelle Unterschiede geben muss, obwohl bei Individuen etwa 99.9 Prozent des Erbguts gleich sind. Man spricht von „Single Nucleotide Polymorphisms“ (SNP). Gemeint ist damit folgendes: Das Erbgut des Menschen besteht aus einer Sequenz von vier Arten von Basenmolekülen mit insgesamt über drei Milliarden „Buchstaben“. Wenn durch eine Mutation an einer Stelle dieser Sequenz ein „Buchstabe“ durch einen anderen ersetzt wird, spricht man von einer SNP (vorausgesetzt die Veränderung ist nicht derart gravierend, dass die Zelle abstirbt). Die Mutation führt dazu, dass das jeweilige Eiweissmolekül (Protein), das die Zelle mithilfe der DNA-Sequenz eines Gens herstellt, verändert wird. Heute sind über vier Millionen SNPs bekannt. Das derzeit grösste Nachfolgeprojekt der „Humane Genome Organization“ (welche die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts geleitet hat) – das HapMap-Projekt – will unter anderem eine vollständige Datenbank aller SNP schaffen – eine wichtige Basis für die Entwicklung der Pharmakogenomik.
Ein SNP kann die Wirkung eines Medikamentes auf drei Arten beeinflussen: Erstens können körpereigene Transportproteine derart verändert werden, dass die Verteilung eines Medikamentes im Körper beeinflusst wird. Zweitens können Enzyme verändert werden, welche für den Abbau des Medikamentes zuständig sind. Drittens kann der Zielort („Target“) des Medikamentes selbst (z.B. ein so genannter Rezeptor, eine Andockstelle für das Medikament) verändert werden.
Die Grundidee der Pharmakogenomik ist nun folgende: Wenn man weiss, wie ein Medikament im Körper im Regelfall wirkt und zudem das individuelle Genprofil des Patienten (welche über die SNP Auskunft gibt) kennt, kann man abschätzen, wie das Medikament in diesem bestimmten Individuum wirkt. Je nach Befund könnte man dann die Dosis anpassen oder auch ein anderes Medikament wählen. Dieses Konzept ist verbunden mit einem wesentlichen Wandel in der Entwicklung von Medikamenten. Anstatt einen potenziell therapeutisch wirksamen Stoff zu entwickeln und diesen danach zu prüfen, will man ein Medikament gezielt für ein bestimmtes „Target“ entwickeln.
Ein bekanntes Beispiel, das unter den Begriff der Pharmakogenomik fällt, betrifft das Medikament Herceptin. Dieser Wirkstoff kommt bei Brustkrebs zur Anwendung. Sinn macht der Einsatz dieses Medikamentes aber nur dann, wenn dessen „Target“ aufgrund zweier SNP-Mutationen übermässig häufig durch die Krebszellen produziert wird. Dies ist nur bei einem Drittel der Patientinnen der Fall. Die Kenntnis des Genprofils ist demnach die Voraussetzung für die Anwendung des Medikaments.
Gentests und Biobanken
Dieses Beispiel macht deutlich, dass Gentests und Pharmakogenomik zusammengehören. Schliesslich muss man das individuelle genetische Profil ja zuerst einmal erfassen, bevor man entsprechende Schlüsse ziehen kann. So genannte „Gen-Chips“ werden für diesen Zweck eine zentrale Bedeutung erhalten. Sie erlauben es, viele Tausend genetische Merkmale gleichzeitig zu erfassen – ein auch heute noch teures Verfahren. Eine weitere Voraussetzung für die Erforschung pharmakogenomischer Verfahren sind so genannte Biobanken – Datenbanken mit grossen Menschen von genetischen und Lebensstil-Daten. Damit soll abgeschätzt werden können, wie gross die genetische Varianz in einzelnen Krankheiten ist, damit eine neue Therapie entwickelt werden kann.
Mit Gentests wie Biobanken sind eine Reihe wichtiger ethischer (siehe Kommentar) wie rechtlicher (siehe Interview) Fragen verbunden. Die Juristin Marion Völger, welche für die TA-Studie „Pharmakogenetik und Pharmakogenomik“ den Bereich Recht bearbeitete, meint beispielsweise, dass die Weiterverwendung genetischer Daten zu Forschungszwecken heute nur ungenügend geregelt ist: „Ganz generell wäre zu prüfen, wo im Hinblick auf die Biobanken zusätzliche Regelungen notwendig sind“, so Völger.
Kosten und Nutzen
Eine wichtige Frage betrifft auch die Kosten pharmakogenomischer Verfahren. Zum einen ist zu erwarten, dass ein verbesserter Einsatz von Medikamenten die Gefahren von Nebenwirkungen, und damit auch deren Kostenfolgen, vermindert. Zum anderen stellt sich die Frage nach den Kosten der Diagnoseverfahren (Diagnose-Genchips kosten heute noch mehrere Zehntausend Franken). Die Pharmaindustrie wiederum steht vor einem Zwiespalt: Je mehr man über die individuelle Wirkung von Medikamenten weiss, desto schwieriger wird es, so genannte „Blockbuster“-Medikamente mit einem Umsatz von mehreren Milliarden Franken zu finden. Man wird ja mehr verschiedene Medikamente herstellen müssen, um der Individualisierung gerecht zu werden. Andererseits könnte der individuell angepasste Medikamenteneinsatz auch dazu führen, dass Patienten länger überleben und damit das Medikament auch länger konsumieren, was den Effekt der Mengenverminderung vermindern würde.