Neuroethik - Hirnforschung als ethische Herausforderung
Die Neurowissenschaft gilt als eine der Leitwissenschaften des 21. Jahrhunderts. So werden enorme Ressourcen in diesen Bereich gesteckt - nicht zuletzt deshalb, weil degenerative Hirnkrankheiten aufgrund des Alterung der Gesellschaft als zentrales Gesundheitsproblem der Zukunft gelten. Der Fortschritt in der Hirnforschung wirft aber auch zunehmend ethische Fragen auf, welche im neu entstandenen Teilgebiet „Neuroethik“ diskutiert werden. „Thema im Fokus“ gibt einen Überblick über die Vielzahl der hier auftretenden Fragen.
Nach der Jahrtausendwende hat der anhaltende Boom in den Neurowissenschaften dazu geführt, dass die Frage nach den ethischen Problemen, welche die Anwendungen der Hirnforschung mit sich bringen, immer dringender wird. In einer Serie von Konferenzen wurde um das Jahr 2002 der Begriff der „Neuroethik“ geprägt welche sich dieser Probleme annehmen will. Diese Probleme lassen sich in drei Gruppen unterteilen (siehe Dudai, 2004 / Farah, 2005 / Roskies, 2002):
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Eine Reihe von Problemen fallen in den Bereich der klassischen Bio- und Medizinethik. So stellen sich forschungsethische Fragen wie beispielsweise Studiendesign und Datenschutz, medizinethische Fragen hinsichtlich des informed consent von hirngeschädigten Personen, der Transplantation von Hirngewebe und des Hirntod-Konzeptes oder bioethische Fragen im Hinblick auf neuronale Stammzellen. Schliesslich werden Fragen der Auswirkung von Erkenntnissen der Neurowissenschaft auf Recht (z.B. hinsichtlich des Begriffs der rechtlichen Verantwortung) und Moral (z.B. hinsichtlich tierethischer Fragen auf Folge über zunehmendes Wissen von Schmerzbewusstsein bei Primaten) aufgeworfen.
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Neben solchen klassischen Fragenstellungen werden die Entwicklungen in den Neurowissenschaften aber auch eine Reihe neuartiger Probleme mit sich bringen. Diese konzentrieren sich um einen neuen „Hirnzentrismus“, wonach Interventionen auf pädagogischer, sozialer und rechtlicher Ebene zu Interventionen auf der Ebene des Gehirns umgedeutet werden könnten. Hier stellt sich die Frage, was denn als „normales“ Gehirn zu gelten habe und was dessen Merkmale in struktureller und funktioneller Hinsicht (beispielsweise erfassbar durch bildgebende Verfahren) sein sollen. Fragen stellen sich in diesem Bereich aber auch hinsichtlich von Interventionen mit der Absicht einer „Verbesserung“ der Hirnleistung (neuro enhancement), was vorab mit chemischen Substanzen angestrebt wird. Im Rahmen dieses „Hirnzentrismus“ dürften Konzepte wie Autonomie , freier Wille, Verantwortung und das "Selbst" eine Neubeurteilung erfahren.
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Schliesslich können aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen auch neue technische Anwendungen resultieren, die dann Gegenstand der Technikfolgenabschätzung sind. Dies betrifft zum einen die Entwicklung von „autonomen“ Systemen, die biologische Eigenschaften wie Selbstreparatur und Lernen aufweisen könnten. Zum anderen betrifft dies technische Möglichkeiten, die sich an der „Cyborg“-Idee orientieren - also Formen einer „Verschmelzung“ von biologischen und technischen Systemen, wie sie beispielsweise in der Neuroprothetik und der Entwicklung von „brain-machine-interfaces “ angestrebt werden. Derzeit haben Entwicklungen in diesem Bereich vielfach eine medizinische Zielsetzung. Beispiele aus diesem Gebiet sind der Versuch der Wiederherstellung des Hörvermögens mittels Cochlea-Implantaten oder die Therapie von locked-in Patienten . Denkbar ist aber durchaus, dass ein technologisches neuro enhancement angestrebt wird, beispielsweise für militärische Anwendungen.
Eine umfassende Darstellung dieser Vielfalt an Problemen ist an dieser Stelle nicht möglich. Die technischen Aspekte der Hirnforschung wurden bereits im „Thema im Fokus“ Nr. 13 (Hirnforschung) und 42 (Hirnchips) vorgestellt. Schwerpunkte der hier vorliegenden Ausgabe sollen die ethischen Probleme bildgebender Verfahren und des neuro enhancement darstellen.
Ethische Probleme bildgebender Verfahren
Der heutigen Hirnforschung stehen mit PET, MRI und fMRI eine Reihe bildgebender Verfahren (Imaging) für die strukturelle und funktionelle Untersuchung des Gehirns zur Verfügung. Diese Methoden werden heute in einer Vielzahl von Studien angewandt - nicht nur um medizinische Probleme zu lösen, sondern auch um mehr über die neuronalen Grundlagen von menschlichen Verhaltensweisen zu gewinnen. Generell wird heute das Imaging als Hauptproblemfeld der Neuroethik angesehen (Illes & Raffin, 2002). Dabei stellen sich folgende Probleme:
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Die methodischen Anforderungen für eine korrekte Anwendung von Imaging sind hoch (Uttal, 2001). Die erzeugten Bilder sind das Resultat sehr spezifischer experimenteller Anordnungen und ausgefeilter Statistik. Ein genauerer Blick in die Fachpresse lässt vielerorts Fragen an der Aussagekraft der erzielten Ergebnisse offen. Experten wie Anton Valavanis, Direktor der Neuroradiologie des Universitätsspitals Zürich, bezweifelt gar bei einer Vielzahl der Forscher in diesem Bereich eine ausreichende methodische Kompetenz.
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Die praktische Durchführung von Imaging-Experimenten bringt eine Reihe schwieriger ethischer Fragen (Kulynych, 2002) mit sich: Sollen Versuchspersonen informiert werden, wenn unerwartete Abnormitäten im Gehirn bei einem Imaging-Experiment bemerkt werden (man schätzt, das sich bei 2 bis 8 Prozent aller Versuchspersonen klinisch relevante Abnormitäten findet lassen(Check, 2005))? Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem „Recht auf Nichtwissen“? Wie steht es um den Datenschutz von Imaging-Daten? Müssen Versuchspersonen informiert werden, wenn ihre Scans in Datenbanken gespeichert und durch Drittpersonen ausgewertet werden? Wie steht es um dem Schutz von Forschern, wenn Dritte mit Hilfe derer Daten schneller neue Erkenntnisse finden?
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Analog zum genotyping, wo versucht wurde, verschiedenste Phänomene mittels genetischer Daten zu erklären, stützt der anhaltende Imaging-Boom die Idee eines „brainotyping“.. Im Vordergrund steht dabei die Suche nach neuronalen Korrelaten zu Verhaltens- und Charaktereigenschaften (Farah, 2005). Angesichts der Vielzahl methodischer Probleme des Imaging besteht die Gefahr einer grossen Diskrepanz zwischen der propagierten und der tatsächlichen Aussagekraft solcher Resultate. Dazu kommt die Problematik, dass man geneigt ist, diese Bilder zu manipulieren, um ihre „Aussagekraft“ weiter zu erhöhen. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Idee eines forensic neuroimaging (beispielsweise bei Kindern) mit dem Ziel, Gewaltverhalten und Psychopathie frühzeitig zu erkennen (Canli & Amin, 2002). Die Gefahr einer „naiven“ Interpretation von Imaging-Daten besteht insbesondere dort, wo Geschworene im Rahmen eines Gerichtsprozesses solche Bilder beurteilen müssen. Dieses Problem ist durchaus relevant, da vermutet werden muss, dass Resultate von Imaging vermehrt vor Gericht verwendet werden, um die Unfähigkeit der Verhaltenskontrolle zu belegen.
Das Gehirn „verbessern“
Ein zweiter, wichtiger Themenkomplex betrifft die Möglichkeit, durch Eingriffe in das Gehirn dessen Funktionsweise gezielt zu verändern. Dies kann therapeutische Ziele haben oder auch mit dem Ziel einer „Verbesserung“ der Hirnleistung verbunden sein. Letzteres ist natürlich nicht neu - man denke etwa an das in den 1960ern aufgekommene Konzept der „Bewusstseinserweiterung“ mittels geeigneter Drogen. Heute gehen die Vorstellungen, Zeitgeist bedingt, eher in Richtung einer Verbesserung der Leistung kognitiver Funktionen wie Lernfähigkeit und Gedächtnis. Hier ergeben sich gleitende Übergänge zwischen therapeutischen Interventionen und neuro enhancement, wie das Beispiel von Ritalin deutlich macht. Diese für die Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzte Medikament findet immer mehr auch Anwendung für therapiefremde Ziele wie Stressabbau oder Leistungsförderung bei „normalen“ Personen. Diese Vermischung zwischen therapeutischen Zielen und einem eigentlichen enhancement dürfte auch das Arzt-Patient-Verhältnis ändern, da psychische Aspekte nicht mehr im Jargon der Psychoanalyse, sondern quasi „materialisiert“ mit pharmakologischen Begriffen diskutiert werden.
Die Bandbreite der praktischen Anwendungsmöglichkeiten sowie der ethischen Probleme des neuro enhancement ist gross: Ein Anwendungsbereich betrifft die Förderung der Lernfähigkeit und des Gedächtnisses: Wie stabil ist das unter dem Einfluss solcher Substanzen gewonnene Wissen? Wie ändert unsere Vorstellung von Lernen bzw. unsere „Lernethik“ - verstehen wir doch derzeit Lernen als einen aufwendigen, z.T. mühevollen Prozess? Lassen sich die durch diese Forschung gewonnenen Erkenntnisse auch so nutzen, dass man unerwünschte Gedächtnisinhalte dereinst „löschen“ kann? Derartige Anwendungen dürften bedeutende Auswirkungen auf unseren Begriff einer persönlichen Biografie haben. Zudem sind Anwendungen im Rahmen des Strafrechts denkbar (z.B. die „Löschung“ der Persönlichkeit eines Straftäters, was aber noch einen sehr spekulativen Charakter hat(. Ein weiterer Anwendungsbereich betrifft die Förderung von executive functions - also von Funktionen wie Entscheiden unter Stress. Denkbar ist, dass dereinst gewisse Berufsgruppen verpflichtet sind, solche Möglichkeiten zu nutzen. Auch die militärische Anwendung solcher Substanzen ist zweifellos ein Thema. Schliesslich stellen sich Fragen wie jene nach den Kosten solcher Anwendungen und auch solche nach der Transformation grundlegender Begriffe wie unser Menschenbild, unsere Vorstellung des Personseins und der Gesundheit wie auch den Wert des nicht Perfekten.
Chirurgische Eingriffe in das Gehirn und gar eine Renaissance der Psychochirurgie bilden einen weiteren Schwerpunkt der neuroethischen Diskussion. Auch dieser Problemkreis kann auf eine gewisse Geschichte zurückblicken. Erinnert sei beispielsweise an den Zeitraum der 1930er bis 1970er Jahre, wo Psychochirurgie (insbesondere Lobotomie) praktiziert wurde und zu einer breiten Debatte geführt hat. (Fins, 2004 & Moreno, 2003). Solche Eingriffe wurden in der Folge aber zu Gunsten pharmakologischer Interventionen aufgegeben. Heute könnte sich im Zug einer Imaging-gesteuerten Neurochirurgie aber eine neue Phase der Psychochirurgie etablieren. Mit dem Wissen um die Plastizität des Gehirns, stellt sich die Frage, ob chirurgische Eingriffe für die Verhaltenskontrolle überhaupt dauerhaft den gewünschten Effekt haben können. Nebst ethischen Fragen stellen sich demanch auch rein praktische Fragen.,.
In forschungsethischer Hinsicht stellen sich schliesslich ebenfalls viele Fragen. So ist grundsätzlich offen, ob Versuche mit Wirkstoffen des neuro enhancement überhaupt als therapeutische Forschung gelten oder nicht vielmehr ähnlich wie kosmetische Forschung zu beurteilen sind. Eine entsprechende Einordnung hat natürlich erhebliche Auswirkungen darauf, welche Versuche überhaupt unternommen werden dürfen. Deshalb ist anzunehmen, dass Versuche in diese Richtung immer in einen „therapeutischen Mantel“ gekleidet sein werden.