Von der Komplexitätsforschung profitieren
Wie komplizierte Abläufe in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung optimiert werden können
Die Komplexitätsforschung bedient sich Computersimulationen sowie physikalischer und mathematischer Methoden, um das mitunter überraschende Verhalten sozio-ökonomischer Systeme zu verstehen. Ein Workshop in Budapest hat aufgezeigt, wie Unternehmen und die öffentliche Verwaltung von diesen Erkenntnissen profitieren können.
Komplexe Systeme zeichnen sich oft durch unerwartete und plötzliche Änderungen ihres Zustands oder Verhaltens aus. Im schlimmsten Falle enden solche Zustandsänderungen tödlich – etwa in dichtgedrängten Fussgängermassen. Dort kann das Verhalten der Einzelpersonen in eine kollektive Dynamik umschlagen, die sich nicht mehr kontrollieren lässt. Eine Massenpanik muss nicht einmal aus einer ernsten Bedrohung von Leib und Leben resultieren. Manchmal genügt ein Hindernis, ein Gerücht oder die Flucht vor einem Regenschauer, um die Situation ausser Kontrolle geraten zu lassen. Ein Beispiel lieferte der diesjährige Hajj in Mekka, zu dem sich mehrere Millionen muslimische Pilger versammelt hatten. Bei der symbolischen «Steinigung des Teufels» geriet die geordnete Bewegung der Menschenmassen ins Stocken, und es brach eine Massenpanik aus, bei der 345 Pilger zertrampelt oder zerquetscht wurden.
Suche nach Alarmzeichen
Solche sozialen Phänomene sind Thema der angewandten Komplexitätsforschung. Mittels Computersimulationen und dem Handwerkszeug von Mathematikern und Physikern versuchen Forscher, jene Muster zu verstehen, die beim Zusammenwirken vieler Elemente – oft Agenten genannt – entstehen. So hat Dirk Helbing von der Technischen Universität Dresden festgestellt, dass sich in bewegten Menschenmassen oft selbstorganisierte Strukturen herausbilden. Kreuzen sich beispielsweise Fussgängerströme, zeigen sich am Kreuzungspunkt charakteristische Streifenmuster. Diese rühren daher, dass Fussgänger auf begrenztem Platz möglichst rasch aneinander vorbei kommen wollen, wobei sich gewisse Präferenzen einzelner Personen (gehe ich nun links oder rechts an jemandem vorbei) zu globalen Mustern aufschaukeln. Helbing und seine Mitarbeiter untersuchen, welchen Vorhersagewert solche Muster haben. Konkret wollen sie herausfinden, ob es kritische Alarmzeichen gibt, die in dichtgedrängten Fussgängerströmen kurz vor dem Auftreten einer Massenpanik sichtbar werden.
Mustererkennung in grossen Menschenmassen ist eines der Beispiele, die im August an einem von Helbing organisierten Workshop in Budapest über Anwendungen der Komplexitätsforschung in Unternehmen, der öffentlichen Verwaltung und in Medien vorgestellt wurden. Der Begriff Komplexitätsforschung bezeichnet dabei kein scharf definiertes wissenschaftliches Gebiet. Schliesslich lassen sich sehr viele Forschungsgegenstände wie das Klima, das Immunsystem oder auch Finanzmärkte als komplex in dem Sinne verstehen, dass zahlreiche Elemente auf schwer zu verstehende Weise zusammenwirken.
Komplexitätsforschung wird demnach nicht durch den Gegenstand, sondern durch eine bestimmte Zugangsweise zu dessen Erforschung charakterisiert. Dabei sind drei Aspekte kennzeichnend. Erstens basiert die Komplexitätsforschung auf Konzepten, die aus der Mathematik und Physik stammen. Stichworte die hier genannt werden können sind die Chaostheorie, die statistische Physik und die Theorie der Netzwerke. Zweitens bildet der Computer ein zentrales methodisches Instrument, zumal die zu untersuchenden Systeme meist nicht mehr analytisch erfasst werden können. Ihr Verhalten muss deshalb simuliert werden. Dabei werden oft Agenten-basierte Modellierungen sowie genetische Algorithmen eingesetzt. Drittens lassen sich die Forscher von der systemtheoretischen Erkenntnis leiten, dass die Struktur und das Verhalten phänomenologisch sehr unterschiedlicher Systeme oft ähnlichen Prinzipien folgt, die es aufzuspüren gilt.
In institutioneller Hinsicht hat sich die Komplexitätsforschung etabliert. Eine der Pionier-Institutionen ist das 1984 gegründete Santa Fe Institute in New Mexico. In den USA ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl vergleichbarer Institutionen entstanden, beispielsweise an den Universitäten Michigan, Illinois und Kalifornien. In Europa wiederum wurde 2003 innerhalb des 6. EU-Rahmenprogramms im Bereich «Future and Emerging Technologies» eine neue Initiative zur Förderung der Komplexitätsforschung lanciert. Im Rahmen dieses Programms fand auch der Workshop in Budapest statt.
Paradoxien in Produktionsnetzen
Eine in Budapest vorgestellte Anwendung betrifft die Optimierung sehr komplexer Produktionsabläufe. Oliver Rose von der Technischen Universität Dresden beschrieb den Fall einer Halbleiterfabrik von Infineon, in der Hunderte verschiedener Maschinen an der Produktion von Silizium-Wafern beteiligt sind, aus denen Computerchips hergestellt werden. Dazu sind sehr viele Arbeitsschritte wie Oxidierung, Photolithographie, Ätzung, Dotierung mit bestimmten Ionen und schliesslich der Test der Wafer notwendig. Halbleiterfabriken gelten mithin als die komplexesten Produktionseinheiten überhaupt, wie Rose feststellte. Diese Produktionsschritte müssen unter Reinraumbedingungen und fehlerlos vonstatten gehen und verlangen nach einem austarierten Materialfluss zwischen den einzelnen Einheiten des Produktionsnetzes. Dieser wird durch den sogenannten Work-In-Progress-Level (WIP-Level) erfasst – quasi die Zahl der Wafer, die jeweils vor einer Maschine auf die Abarbeitung des nächsten Produktionsschritts warten.
In der Praxis beträgt die Maschinen-Verfügbarkeit zwischen 70 und 90 Prozent, so dass bei einem Ausfall die Produktion an dieser Stelle des Netzes unterbrochen werden muss, bis die betroffenen Maschinen wieder einwandfrei arbeiten. Während der Ausfallzeit steigt vor der Maschine die Zahl der Wafer an, die auf eine Abarbeitung warten. Man erwartet nun, dass nach der erneuten Inbetriebsetzung der Maschine dieser Bestand nach und nach abgearbeitet wird, wobei jene Wafer, die am frühesten ausgeliefert werden müssen, zuerst dran kommen. Die Infineon-Ingenieure machten aber die paradoxe Erfahrung, dass sich dieser WIP-Level selbst viele Wochen nach der Behebung einer solchen Unterbrechung weiter erhöht. Dies verlängert die Gesamtproduktionsdauer der Wafer und kann dazu führen, dass Liefertermine nicht eingehalten werden können.
Das Team um Rose stand vor der Herausforderung, diese scheinbare Paradoxie zu erklären, um die Effizienz der Halbleiterfabrik zu erhöhen. Zu diesem Zweck galt es, die enorme Komplexität des realen Systems auf eine für die Simulation fassbare Weise herunter zu brechen. Dies geschah durch ein recht einfaches Modell, in dem die wesentlichen Produktionsgruppen der Fabrik zusammengefasst waren. Zentrale Charakteristika des Produktionsprozesses wie dessen zyklische Natur (die Wafer gelangen im Verlauf des Produktionsprozesses mehrfach zur selben Maschine) und die an fixen Terminen orientierte Disposition der Arbeiten (für jeder sich im Produktionsprozess befindlicher Wafer galten unterschiedliche Liefertermine) wurden durch entsprechende Eigenschaften des Modells wie beispielsweise Rückkopplung eingebunden.
Eine unerwartete Lösung
Die Simulation konnte dann die Paradoxie des steigenden WIP-Level als notwendige Folge der Produktionscharakteristika erklären. So führte das Erfordernis der fixen Disposition dazu, dass die Priorisierung der jeweils abzuarbeitenden Wafer vor jeder Maschine laufend änderte und damit das WIP-Level vor diesen Maschinen wie auch die Gesamtproduktionsdauer einzelner Wafer auf die beobachtete Weise erhöht wurden. Sie ermöglichte auch erste Lösungsansätze. So zeigte sich im Modell und dann auch in der Praxis, dass der Stopp der gesamten statt eines Teils der Wafer-Produktion während der Reparaturzeit das Problem zu lösen vermag. Der kurzfristige Verlust an Produktionskapazität wurde durch die Vermeidung der genannten Paradoxie mehr als wettgemacht. Eine Komplexitäts-theoretische Betrachtung des Problems kann also zu Lösungen führen, die auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, sich dann aber als überlegen erweisen.
Auch andere Präsentationen an dem Workshop in Budapest zeigten dieses interessante Phänomen – etwa die Erkenntnis, dass ein Verzicht auf einen lukrativen Grosskunden für ein Unternehmen langfristig von Vorteil sein kann, wie Vince Daley von der Beratungsfirma Eurobios darlegte. Eurobios konnte mit einer Agenten-basierten Modellierung einer Verpackungsfabrik zeigen, dass ein Wechsel von einem «komplizierten» Grosskunden, der mit seinen Ansprüchen häufig in das Tagesgeschäft eingreift, zu einem Kunden mit geringerem Auftragsvolumen, aber niedrigeren Ansprüchen lohnend ist, weil die Fabrik insgesamt effizienter arbeiten kann. Zudem war der real erzielte Profit beim genannten Grosskunden weit geringer als die theoretischen Gewinnspannen, weil die Ansprüche des Grosskunden auf eine im Alltagsgeschäft schwer einsichtige Weise Folgekosten verursachten.
Damit der Briefträger nicht streikt
Die britische Eurobios ist eine der ersten Firmen auf dem Beratermarkt, die explizit Methoden der Komplexitätsforschung einsetzt und damit auch eine Reihe von Erfolgen aufweisen kann. Eine weitere interessante Anwendung betraf die dänische Post, deren Postboten von 315 Verteilzentren mit über 17 000 täglichen Routen 2,6 Millionen Haushalte und Unternehmen beliefern. Das Finden der optimalen Routen für die Postboten sieht auf den ersten Blick wie das klassische mathematische «Problem des Handlungsreisenden» aus – die Suche nach der kürzesten Route zur Verbindung einer bestimmten Anzahl von Punkten. Nur ist Kürze allein nicht das relevante Kriterium. So wehren sich beispielsweise die Postboten gegen kürzere Routen mit grösseren Höhendifferenzen, die weit anstrengender sind. Die dänische Post musste deshalb bei der Durchsetzung von Routenänderungen vorsichtig vorgehen, damit die gewerkschaftlich gut organisierten Postboten nicht in den Streik traten, wie Daley in Budapest erläuterte.
Auch dieses Problem wurde von Eurobios durch Agenten-basierte Modellierung unter Einbeziehung weiterer Methoden wie genetischer Algorithmen angegangen. In diesem Fall war das Modell ziemlich kompliziert – es war aber einfach genug, um in Kooperation mit den Postvertretern neue Routen zu finden, die effizienter waren und bei den Postboten auch auf Anklang stiessen. Insgesamt vermittelte der Workshop in Budapest damit eine Reihe interessanter Anwendungen sowohl für das Verständnis als auch für die Verbesserung realer Probleme in Unternehmen und öffentlichen Institutionen.
Markus Christen