Regenerative Medizin – zwischen Hoffnung und Hype
Die regenerative Medizin will erkrankte oder verletzte Zellen, Gewebe oder Organe heilen bzw. ihre Funktionsfähigkeit wieder herstellen. Schwerpunkte sind das Tissue Engineering, die somatische Zelltherapie und die induzierte Autoregeneration. Auch Gentherapieverfahren und Weiterentwicklungen der klassischen Transplantationsmedizin können in diesen Bereich fallen, sofern diese zur Regeneration von Organen, Geweben oder Zellen eingesetzt werden. Nachfolgend werden die wichtigsten Konzepte und Forschungsgebiete der regenerativen Medizin vorgestellt.
Die Idee einer „Regeneration“ des von Krankheiten geschundenen Körpers ist alt – ja wohl eines der Urziele der Medizin. Die moderne Ausprägung dieser Idee geschah innerhalb der sich entwickelnden modernen Medizin, wobei aus medizinhistorischer Sicht vor allem frühe Arbeiten zur Entstehung von Missbildungen in der Embryonalentwicklung (Teratogenese) Ansatzpunkte für ein Konzept der Regeneration von Geweben und Organen darstellten (Paul & Fangerau 2006) . Arbeiten zur experimentellen Embryologie, insbesondere zur Kultivierung von Zelllinien in vitro, die Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, entwickelten dieses Konzept dann weiter. Bereits damals kam es zu einer Auseinandersetzung um die ethischen Dimensionen der regenerativen Medizin. Diese Debatte über die Zulässigkeit einer technischen Kontrolle oder gar künstlichen Erzeugung biologischer Regeneration wurde sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern vehement geführt und warf die auch heute bekannten Fragen auf, so etwa: Darf der Mensch als Schöpfer der Natur agieren und zur Gestaltung seiner selbst übergehen? Was ist erlaubt, was geboten im Umgang mit der als gottgegeben angesehenen Gabe der Regeneration?
Motive für die regenerative Medizin
Diese Wertedebatte um regenerative Verfahren in Biologie und Medizin verebbte aber rasch, als in den 1920er und 1930er Jahren deutlich wurde, wie weit die experimentellen Ansätze noch von ihrer Anwendung in der Medizin entfernt waren. Erst mit dem Voranschreiten der Reproduktionsmedizin, der Transplantationsmedizin sowie der experimentellen Verknüpfung von Humangenetik und Zellbiologie geriet die regenerative Medizin wieder ins Blickfeld sowohl der Forschung wie auch der öffentlichen Debatte. Als treibende Kraft galt dabei der zunehmende Bedarf an Organen, Geweben und Zellen, welche die sich entwickelnde Transplantationsmedizin mit sich brachte. Zum einen erhofft man sich aus der regenerativen Medizin eine Quelle zusätzlichen Materials (Stichwort Tissue Engineering), das für Transplantationszwecke zur Verfügung steht, zum anderen aber auch eine Alternative, indem etwa die körpereigene Regenerationsfähigkeit gestärkt werden soll (Stichwort Autoregeneration). Hier muss bemerkt werden, dass „Regeneration“ nicht in einem allgemeinen Sinn verstanden wird – wie etwa der Besuch einer Reha-Klinik. Vielmehr geht es um abgesicherte Eingriffe – mittels zell- und molekularbiologischen Wissens – in den Körper bzw. in biologisches Material, aus dem Transplantate gewonnen werden sollen. Mit Hilfe dieser Transplantate soll „defektes“ Gewebe gewissermassen repariert werden.
Nicht unerheblich ist aber auch, dass im Zuge der sich entwickelnden regenerativen Medizin zahlreiche Verfahren und Prozesstechniken ausgearbeitet werden, welche den Umgang mit lebendem Material optimieren: So muss etwa die Zellkultivierung und -differenzierung derart überwacht werden können, dass die Zellen nicht zerstört werden (Hildebrandt & Thielecke 2006). Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass die elektrischen Eigenschaften von Zellen gemessen werden. Entwickelt werden auch neue mechanische Manipulatoren, mit welchen man Zellen schonend aus einem Zellverbund lösen kann, Teile von Zellen entfernen oder gar Zellen miteinander fusionieren kann, ohne dass die Zelle abstirbt. Derart gewonnene Zellkulturen oder Gewebe können auch zu nichttherapeutischen Zwecken – etwa für die Kontrolle der Giftigkeit von Substanzen – eingesetzt werden.
Tissue Engineering
Von den Gebieten, welche der regenerativen Medizin zugerechnet werden, ist zweifellos das Tissue Engineering (TI) das bekannteste – zuweilen wird der Ausdruck auch synonym zu „regenerative Medizin“ verwendet. Forscher im Bereich des TI sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, ein vergleichsweise komplexes biologisches Material (Gewebe oder gar ein Organ) im Labor wachsen zu lassen. In der natürlichen Umgebung eines Gewebes oder eines Organs – also im wachsenden Körper – führt ein hochkomplexer Prozess dazu, dass jede einzelne Zelle in einem bestimmten Gewebe oder einem Organ ihren Platz findet. An verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten des Gewebes sorgen unterschiedliche Wachstumssignale für die korrekte Ausbildung des Gewebes. Diesen Prozess künstlich nachzubilden, ist eine grosse Herausforderung. So müssen zahlreiche Forschungsgebiete zusammenarbeiten: beispielsweise die Zellkulturtechnik, die Zellbiologie und die Materialforschung. Konzeptionell lassen sich dabei drei Stufen unterscheiden:
- Es müssen geeignete Ausgangszellen gewonnen werden, die dann eventuell noch verändert werden müssen, so dass sie sich im Labor gut vermehren lassen.
- Es müssen Trägersubstanzen entwickelt werden (so genannte Matrizen), auf welchen die Zellen derart wachsen können, dass das Gewebe die richtige Form erhält.
- Es müssen spezielle Bioreaktoren für das Wachstum der Zellen auf den Trägersubstanzen entwickelt werden.
Aufgabe der Zellbiologie ist es, die Abfolge von Signalen, welche das Wachstum eines Gewebes bestimmen, soweit nachbilden zu können, dass ein gezüchtetes Gewebe mit den gewünschten Eigenschaften entsteht. Je komplexer das Gewebe ist, desto schwieriger ist dieses Unterfangen. Aus diesem Grund haben erst vergleichsweise einfache Gewebe wie Hautschichten, Knorpel und Knochengewebe den Weg in die Anwendung gefunden. Eine der grossen Herausforderungen ist insbesondere die Gewährleistung der Durchblutung des Gewebes. Dazu muss man entweder von vornherein Blutgefässe im künstlichen Gewebe züchten oder zumindest geeignete Wachstumsfaktoren einbauen, damit das implantierte Gewebe dann mit Blutgefässen durchwachsen werden kann.
Die Materialforschung ihrerseits muss Substanzen entwickeln, welche beim Aufbau des Gewebes als Gerüst wirken können, später aber abgebaut werden. Diese biodegradablen (d.h. sich im Körper abbauenden) Materialien dürfen dabei für den Körper keine Gefährdung darstellen. Die Zellkulturtechnik wiederum muss Bioreaktoren entwickeln, in welchen die gewünschten Gewebe unter geeigneten Bedingungen wachsen können, welche die Funktion des dann implantierten Gewebes ermöglichen. So unterliegt beispielsweise eine Herzklappe einer starken mechanischen Beanspruchung. Der Bioreaktor, in welchem eine Herzklappe nachwachsen kann, muss demnach den Herzschlag imitieren können. Entsprechende Versuche sind in mehreren Labors im Gange.
Die Forschung im Bereich TI hat in den vergangenen Jahren international stark zugenommen – in der Schweiz unter anderem im Rahmen eines nun abgeschlossenen nationalen Forschungsprogramms (NFP 46, 2006). Die geplanten Anwendungen umfassen zahlreiche Gewebe. Für Knorpel, Haut und Herzklappen gibt es bereits etablierte Verfahren. Versuche laufen auch für Knochen, Muskelgewebe, Luftröhren, Harnleiter und Hornhäute. Auch die Nachbildung komplexerer Gewebe und Organe wird erforscht – beispielsweise die Harnblase, die Augennetzhaut, die Leber und die Bauchspeicheldrüse. Bei der Harnblase ist ein solcher Versuch bereits gelungen. So wurden aus der Blase von Patienten mittels Biopsie Zellen gewonnen, welche kultiviert und vermehrt wurden. Die so gewonnenen Zellschichten wurden auf einem Grundgerüst zu einer funktionellen Blase geformt und in den Patienten transplantiert. Dennoch darf dieser Erfolg nicht überbewertet werden. Die technischen Schwierigkeiten für die Herstellung ganzer Organe sind immens und es dürfte noch viele Jahre dauern, bis man – wenn überhaupt – ganze funktionelle Organe nachbilden kann, die sich transplantieren lassen.
Zelltherapie mit Stammzellen
Bei der somatischen Zelltherapie werden Zellen ausserhalb des menschlichen Körpers präpariert und in geschädigte Organe von Patienten zurückverpflanzt, um dort krankhafte Zellverbände zu ersetzen. Dieses Konzept muss man von der „Frischzelltherapie“ unterscheiden, bei welcher aufbereitete Zellen und Gewebesubstanzen junger oder fetaler Tiere injiziert werden. Dieses in den 1960er Jahren populäre Verfahren hatte aber keine wissenschaftlich haltbaren positiven Ergebnisse, sondern ist vielmehr wegen der immunologischen Abwehrreaktion auf die injizierten tierischen Zellpräparate äusserst riskant und wird daher im medizinischen Kontext nicht mehr durchgeführt.
Zuweilen wird auch die heute etablierte Übertragung von Blutstammzellen zur Behandlung von Leukämie und anderen Krankheiten als Zelltherapie bezeichnet – doch im Regelfall meint der Begriff primär die medizinische Anwendung von Stammzellen. Es gibt auch Überlappungen mit dem TI – so wird der Einsatz von mittels TI hergestellten Zellen (z.B. Knorpelzellen) auch als Zelltherapie bezeichnet. Stammzellen wiederum sind seit langem ein Thema in der medizinischen Forschung (siehe auch Thema im Fokus 9/2000). Es handelt sich hier um Zellen, aus denen sich „reife“ Zellen mit einer spezifischen Funktion entwickeln. Sie können entweder als Ausgangspunkt des TI genommen werden, sind Zielpunkt einer Autoregeneration (Anregung körpereigener Stammzellen) oder sollen direkt transplantiert werden, um sich dann im Körper des Patienten oder der Patientin zu reifen Zellen und Geweben zu entwickeln – letzteres wäre dann eine somatische Zelltherapie.
Die Stammzelldebatte – welche sowohl in wissenschaftlicher wie ethischer Hinsicht bereits eine gewisse Geschichte vorzuweisen hat – eignet sich gut, um den Mechanismus zu hoch gesteckter Erwartungen zu untersuchen, welche mit neuen medizinischen Techniken einher gehen können. Nebst dem bekannten Skandal um den südkoreanischen Stammzellforscher Hwang Woo Suk, dem zum Jahreswechsel 2005/06 zahlreiche Fälschungen von Forschungsergebnissen nachgewiesen wurden, hat ein im August 2006 stattgefundener Fall erneut aufgezeigt, wie problembeladen die Stammzellforschung sein kann. Damals wurde im Wissenschaftsmagazin „Nature“ eine Studie angekündigt und vorgestellt, wonach man Stammzellen ohne Zerstörung des Embryos haben schaffen können. Ein genaueres Lesen dieser Arbeit zeigt aber, dass dies falsch kommuniziert wurde – es war lediglich ein „proof of principle“ (also ein prinzipielles Funktionieren des Verfahrens) behauptet worden; den Forschern war es aber nicht gelungen, Stammzellen ohne Embryozerstörung herzustellen. (Abbott 2006). Zudem war auch die Beweisführung selbst lückenhaft und wurde teilweise mit falschem Bildmaterial dokumentiert (Karberg 2006). Offenbar verschlossen die Gutachter ihre Augen vor diesen Mängeln und „Nature“ liess die notwendige Vorsicht missen – der Hype (Medienrummel) war wichtiger. Lediglich die involvierte Firma Advanced Cell Technology profitierte zeitweise davon, da sich deren Aktienkurs über einen kurzen Zeitraum verzehnfachte.
Solche Fälle schaden natürlich dem Ruf der Stammzellforschung. Dazu kommen eine Reihe weiterer praktischer Probleme: So hat sich insbesondere im Bereich der adulten Stammzellen gezeigt, dass das Reproduzieren von Ergebnissen äusserst schwierig ist (Check 2007). So brauchten Wissenschaftler mehr als zweieinhalb Jahre, um ein Ergebnis von 1999 zu reproduzieren, das die Umwandlung von Neuronen in Blutzellen behauptete – um zu zeigen, dass die damaligen Behauptungen nur teilweise zutreffen. Andere Wiederholungen von Experimenten scheiterten ganz. Ein wichtiger Grund ist, dass der Umgang mit solchen Zellen sehr schwierig ist und zahllose Faktoren, deren Bedeutung erst durch langjährige Erfahrung ersichtlich ist, die Methodik der Züchtung solcher Zellen beeinflussen. Doch ein Ansatz, welcher derart sensitiv auf individuelles Fachwissen und Praktiken reagiert, dürfte nur schwer den Weg in die klinische Praxis finden. Diese kurze Übersicht zeigt demnach, dass die regenerative Medizin noch einige Jahre Forschung vor sich haben wird, bis sie zu einer valablen Option für den medizinischen Alltag wird.