Vom Gesetz verboten, aber nicht mehr verfolgt
Töten aus Mitleid ist wieder in den Schlagzeilen. In dieser angeheizten Stimmung wird demnächst ein Vorschlag einer Arbeitsgruppe Sterbehilfe zur Neuregelung der Tötung auf Verlangen diskutiert.
Langsam sind die Wellen um den Exit-Fall von Basel verebbt. Der Versuch von Sterbehelfern, Suizidhilfe bei einer jungen, depressiven Frau zu leisten, hinterliess selbst bei der Organisation Exit tiefe Risse - führte aber auch zu Irritationen bei Fachleuten, die sich im Rahmen einer vom Bundesrat eingesetzten „Arbeitsgruppe Sterbehilfe“ fast zwei Jahre lang mit der Euthanasie-Frage auseinandergesetzt haben. Für „eine riesige Fehlleistung“, hält beispielsweise der Zürcher Sozialethiker Roberto Bondolfi den Exit-Fauxpas. Mit gutem Grund. Die schwierige gegenseitige Abwägung der drei Grundprinzipien Lebensrecht, Patientenautonomie und Minderung des Leidens, welche bei der Sterbehilfe zum Tragen kommen, verlangt eine sorgfältige Diskussion.
Eine solche dürfte nach dem Fall in Basel schwieriger werden. Sie lässt sich aber nicht vermeiden, denn obwohl der kürzlich abgeschlossene Bericht der Arbeitsgruppe Sterbehilfe eigentlich noch unter Verschluss behalten wird, ist die Kernbotschaft des Berichts bereits durchgesickert: Ein Richter soll neu die Kompetenz erhalten, in bestimmten Fällen von aktiver Sterbehilfe eine Strafverfolgung abbrechen zu können. Das Tötungsverbot bleibt vom juristischen Standpunkt aus zwar bestehen. Tötet aber jemand - ein Arzt oder ein Angehöriger - eine unheilbar kranke, vor dem Tod stehende Person, um sie vor unerträglichen und nicht behebbaren Leiden zu erlösen, muss der Täter nicht mehr bestraft werden. Eine Minderheit in der Arbeitsgruppe wandte sich gegen diesen Vorschlag und ist für eine unbedingte Aufrechterhaltung des Tötungsverbots.
Auslöser des Berichts ist eine 1994 eingereichte Motion des Waadtländer Nationalrates Victor Ruffy, welche eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe unter der Voraussetzung forderte, dass eine von zwei Ärzten entsprechend diagnostizierte unheilbare Krankheit vorliegt. Die zum Postulat umgewandelt Motion führte 1997 zur Einsetzung der Arbeitsgruppe. Sie hatte abzuklären, inwieweit eine straflich zulässige Sterbehilfe mit der Aufrechterhaltung eines Verbots der Fremdtötung und dem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht todkranker Patienten vereinbar ist. Aus dieser Aufgabe folgt eine ganze Reihe von Fragen: In welchem Verhältnis steht die Beihilfe zum Selbstmord zur Sterbehilfe? Wie sind die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe (aktiv, passiv, indirekt aktiv) rechtlich zu unterscheiden? Welche Rolle kommt der Palliativmedizin (umfassende Behandlung einer unheilbaren Krankheit) zu?
Die Probleme fangen schon damit an, dass die Sachlage rechtlich derzeit längst nicht so klar ist, wie sie sein sollte. Die Arbeitsgruppe Sterbehilfe hat sich auf den Artikel 114 des Strafgesetzbuches konzentriert, welcher die Tötung auf Verlangen aus achtenswerten Gründen in jedem Fall bestraft. Artikel 115 - die Rechtsgrundlage der weltweit nahezu einmalig liberalen Praxis der Suizidhilfe in der Schweiz - wurde von der Arbeitsgruppe Sterbehilfe nicht angetastet. Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord soll also nur dann strafbar bleiben, wenn selbstsüchtige Beweggründe vorliegen. Für „grundsätzlich richtig“ hält dies Harri Wettstein, als Psychologe und Philosoph einer der angefragten Experten der Arbeitsgruppe. Hingegen habe es die Arbeitsgruppe verpasst, aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid als Aspekte desselben Problems zu sehen.
Dazu kommt, dass zwischen der verbotenen aktiven Sterbehilfe und der erlaubten passiven Sterbehilfe - also dem Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen - eine schwierig zu bestimmende Grauzone liegt, die „indirekte aktive Sterbehilfe“. Gemeint sind jene Fälle, bei welchen zur Linderung von Leiden Mittel eingesetzt werden, die den Tod als Nebenfolge zulassen. Die geltenden Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften lassen eine solche Form der Sterbehilfe zwar zu - was nach Ansicht der Arbeitsgruppe aber nicht genügt. Sie sieht hier einen dringenden Regelungsbedarf von Seiten des Gesetzgebers.
Der Initiator der Diskussion, Nationalrat Victor Ruffy, ist mit dem Ergebnis der Arbeitsgruppe zufrieden, auch wenn sein Anliegen einer Legalisierung der Sterbehilfe nicht erfüllt wird. Er hofft, dass der Bundesrat noch in diesem Sommer zum Bericht Stellung nehmen wird. Doch Peter Müller, Vizedirektor des Bundesamtes und auch Vizepräsident der Arbeitsgruppe, wollte keinen Termin nennen, wann der Bericht via Bundesrat dereins öffentlich gemacht werden sollte. Kommissionsmitglieder rechnen damit, dass dies noch im April der Fall sein dürfte.
Nationalrat Francesco Cavalli, der das Geschäft voraussichtlich im Herbst vom abtretenden Ruffy übernehmen wird, hält den Vorschlag der Arbeitsgruppe für einen „Schritt in die richtige Richtung“. Er hofft insbesondere auf die neue Bundesrätin Ruth Metzler, denn „Arnold Koller war der ganzen Thematik gegenüber völlig verschlossen. Er hätte am liebsten gar nicht darüber gesprochen“. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe ermögliche es nun, dass in der Schweiz mehr oder weniger eine Regelung der aktiven Sterbehilfe einführen könne, wie sie auch in den Niederlanden besteht - „das absolute Minimum“, so Cavalli.
Gerade dieses „Minimum“ ist aber das Schreckenszenario jener, welche den Vorschlag der Arbeitsgruppe ablehnen. Deutlich wurde dies kürzlich an der Tagung „Wie menschenwürdig sterben“ an der Paulis-Akademie in Zürich. Vertreter der Mehrheit (so Alberto Bondolfi) wie Minderheit der Arbeitsgruppe Sterbehilfe waren anwesend, ebenso Rechtsexperten, Ethikern und Exponenten der Palliativpflege. Das niederländische Modell geht zwar ebenfalls vom Verbot der aktiven Sterbehilfe aus. Hingegen existiert seit Beginn der 90er Jahre ein Katalog von Ausnahmekriterien, bei deren Einhaltung von einer Strafverfolgung bei begangener aktiver Sterbehilfe abgesehen werden kann. Eine Meldepflicht verlangt, dass jeder Fall an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wird, welche die Straffreiheit zu beurteilen hat.
Wissenschaftler begleiten und analysieren diese Praxis, wobei die Ergebnisse dieser Untersuchungen sehr unterschiedlich beurteilt werden. Die von der Arbeitsgruppe Sterbehilfe angehörten Fachleute sind zwar der Ansicht, aus den Statistiken liessen sich keine gravierende Änderung der niederländischen Rechts- oder Medizinpraxis schliessen. Markus Zimmermann-Acklin, Theologe und Experte für Euthanasiefragen, sieht aber genügend Anzeichen für „zunehmende Euthanasie bei Nichteinwilligkeitsfähigen oder bei solchen, die gar nicht gefragt wurden.“ Zudem würden die niederländischen Ärzte die Meldepflicht nicht mit der notwendigen Sorgfalt wahrnehmen. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe sei insgesamt ungenügend: Der Entscheid werde auf den Richter geschoben, die Kontrollierbarkeit sei nicht gewährleistet.
Ins gleiche Horn stiess Andreas Donatsch, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. Demnach könne der Richter in einem Einzelfall vielleicht Gerechtigkeit schaffen. Der Schutz des Rechtsguts Leben verlange aber klare Kriterien, welche eine Beurteilung der Straffreiheit ermöglichen. Für Cécile Ernst, Ärztin für Psychiatrie, ist ein Herumfeilen an Artikel 114 „schlicht das falsche Signal“. Sie gehörte der Minderheit der Arbeitsgruppe an, welche die uneingeschränkte Bestrafung aktiver Sterbehilfe forderte.
Eine Alternative zur aktiven Sterbehilfe haben die Experten in Zürich auch gleicht parat: Die Palliativmedizin soll dem Wunsch des Kranken nach aktiver Sterbehilfe entgegengestellt werden. Würde hingegen eine Hintertüre für die Euthanasie geöffnet, werde der Notstand in der Palliativmedizin verstärkt, so das Argument. Denn diese Techniken zur Linderung des Leidens finden erst in jüngster Zeit Anerkennung unter Ärzten und Pflegenden.
Auch die Arbeitsgruppe Sterbehilfe ist sich bewusst, dass die Möglichkeiten der palliativen Therapie noch längst nicht ausgeschöpft sind und empfielt eine Stärkung dieses Ansatzes. Trotzdem gebe es Patienten, bei welchen die Palliativmedizin nicht helfen kann und eine aktive Sterbehilfe erlaubt sein sollte. Untersuchungen zeigen zudem, dass nicht in erster Linie Schmerzen zum Todeswunsch bei den Betroffenen führen. Vielmehr sind es Ängste vor dem Verlust der Autonomie oder dem Verlust über die Kontrolle körperlicher Funktionen. So beispielsweise eine erste Zwischenbilanz von Forschern, die kürzlich den ärztlich begleiteten Selbstmord im US-Bundesstatt Oregon untersucht haben. Für Ruffy ist denn auch nicht klar, warum sich Palliativmedizin und aktive Sterbehilfe konkurrenzieren sollten. Letztere sei schliesslich nur die ultima ratio, wenn alle anderem Mittel versagten.