Autonomie – Die vielen Facetten eines ethischen Grundbegriffs
Wohl kaum eine andere Idee bringt das Selbstverständnis des modernen Menschen so sehr auf den Punkt wie jene der Autonomie. Die Vorstellung, dass Menschen sowohl die Fähigkeit als auch das Recht zu Autonomie und Selbstbestimmung haben, hat sich tief in unsere Moralvorstellungen eingegraben. Als Leitidee ist Autonomie eng verknüpft mit Grundwerten wie Freiheit, Menschenwürde und Verantwortung. Doch einfach und widerspruchsfrei sind die mit Autonomie verknüpften Einstellungen nicht, wie ein Blick auf die Geschichte dieses komplexen Begriffs zeigt. Wohl auch deshalb wird die praktische Bedeutung von Autonomie als ethisches Grundprinzip immer wieder hinterfragt.
Markus Christen
„Ich bestimme selbst!“ Wer würde dem widersprechen wollen in einer Zeit, in der das Individuum mit seinen Rechten und Pflichten Leitmassstab von so Vielem geworden ist? Doch wer nur schon Kinder aufzieht weiss, dass Forderungen nach Autonomie und Selbstbestimmung so seine Tücken haben. Offenbar umfasst Autonomie weit mehr als nur ein Recht auf Selbstbestimmung, sondern benötigt auch Fähigkeiten, um seine Selbstbestimmung „richtig“ umsetzen zu können. In praktischen Kontexten wie etwa der Psychiatrie kann denn auch dieses Spannungsfeld zwischen Autonomieforderung und -fähigkeit zu schwierigen Dilemmas führen – etwa wenn es darum geht, eine psychotische Person gegen ihren Willen zu behandeln, damit diese sich nicht selbst gravierend schädigt. So hat sich das Wort „Autonomie“ in zahlreichen, sehr unterschiedlichen Kontexten festgesetzt bis hin zur Rede von den „Autonomen“, wenn Leute gemeint sind, die sich teilweise mit Gewalt gegen die gesellschaftliche Ordnung stellen.
Ein „Geburtswert“ der westlichen Zivilisation
Unabhängig von diesen verschiedenen Bedeutungsfacetten von Autonomie ist eine einheitliche Richtung erkennbar, blickt man auf die Geschichte dieses Begriffs. Im antiken Griechenland – dem oft genannten „Geburtsort“ der westlichen Zivilisation – hat sich Autonomie zuerst als politische Kategorie etabliert, wie der griechische Historiker Herodot in seinen Schriften ausführt. Sie besagte die innere und äussere Freiheit des Stadtstaates im Gegensatz zur äusseren Abhängigkeit durch Fremdherrschaft oder zur inneren Staatsform der Tyrannei. Freilich war diese Form von politischer Autonomie noch weit entfernt von unseren heutigen demokratischen Vorstellungen, war sie doch geprägt von der Privilegierung einer kleinen Minderheit und durchaus kompatibel mit Sklaverei. Aber immerhin war die Idee geboren, dass sich Menschen von sich aus einer Selbstgesetzgebung unterwerfen, die nicht von aussen vorgegeben ist. Und tatsächlich findet sich bereits im antiken Griechenland die Idee einer personalen Autonomie. Der Tragödiendichter Sophokles beispielsweise verstand Autonomie als ein wichtiges Element einer inneren Haltung, die als Grundlage moralischen Handelns dient.
Das politische Verständnis von Autonomie hat sich im Laufe der Zeit verfeinert – etwa in Richtung von Rechtssetzungskompetenzen unterschiedlicher Institutionen wie beispielsweise von Zünften. Wichtiger für unser heutiges Verständnis des Begriffs war aber die Weiterentwicklung der personalen Autonomie. Wegweisend hierfür war insbesondere das Autonomieverständnis von Immanuel Kant. Er verstand unter Autonomie kurz gefasst die Fähigkeit des Menschen, einen eigenen freien Willen zu entwickeln. In seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ wurde Autonomie zu einem ethischen Grundbegriff – zum „alleinigen Princip der Moral“ – mit welchem die Forderung verbunden ist, dass der Mensch sich nicht von fremden Autoritäten und Traditionen bestimmen lassen sollte. Autonomie wird vielmehr als Selbstbestimmung des Menschen verstanden, indem sich der Wille ein eigenes Gesetz gibt. Doch völlig frei ist der „menschliche Gesetzgeber“ im Sinne von Kant natürlich nicht. Sein „kategorischer Imperativ“ fordert den Menschen dazu auf, bei der Bestimmung der eigenen moralischen Gesetze quasi eine „Dritt-Person-Perspektive“ einzunehmen – sich kurz gefasst also zu überlegen, wie denn die Welt wäre, wenn sich jeder gemäss diesem Gesetz verhalten würde. Gerade diese Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung gibt dem Menschen eine inhärente Würde, die es zu achten und zu schützen gilt. Bei Kant wird also Autonomie gewissermassen zu einem Verbindungsglied dreier zentraler Werte – nämlich von Freiheit, Menschenwürde und Verantwortung.
Philosophische Ausdifferenzierungen von Autonomie
Natürlich ist es nicht beim Autonomieverständnis von Kant geblieben. Bereits seine Zeitgenossen haben darauf hingewiesen, dass Klärungsbedarf besteht. Damals wurde insbesondere kritisiert, die Selbstbestimmung durch Vernunft verneine die Bindung des Menschen und seiner Ethik an Gott. Diese religiöse Komponente mag heutzutage weniger wichtig sein, verdeutlicht aber, dass sich ein „autonomer Mensch“ nicht im luftleeren Raum bewegt.
Zahlreiche Philosophen haben nach Kant unterschiedliche Facetten von Autonomie herausgearbeitet. Harry Frankfurt beispielsweise entwickelte die Idee der „Wünsche erster und zweiter Stufe“. Wünsche erster Stufe betreffen alltägliche Bedürfnisse wie etwa den Wunsch zu essen, die der Mensch mit vielen anderen Lebewesen teilt. Kann ich aber diesen Wunsch reflektieren – also beispielsweise den Wunsch haben, den Wunsch zu essen nicht zu haben (weil ich eine Diät machen will) –, dann bin ich autonom. Andere Philosophen wie beispielsweise Wilfried Sellars betonen, dass Autonomie darin besteht, seine Wünsche und Handlungen begründen zu können. Wieder andere wie Volker Gerhardt legen den Fokus auf die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, in der sich die Autonomie eines Menschen reflektiert. Insbesondere feministische Philosophinnen betonen die Bedeutung der sozialen Einbettung einer Person. Demnach sind es die Beziehungen, die ein Mensch eingeht, anhand derer sich die Autonomie einer Person bemisst. Ein weiterer Strang der Debatte schliesslich hinterfragt die Möglichkeit eines freien Willens als Basis von Autonomie. Würde man genügend über die Mechanismen kennen, wie Menschen zu Entscheidungen und Handlungen kommen, so könnte man letztlich die Menschen vielleicht gar unbemerkt manipulieren – und die erlebte Autonomie wäre nur eine scheinbare.
Praktische Bedeutung von Autonomie
Dieses breite Spektrum an Debatten zeigt die Vielschichtigkeit des Autonomiebegriffs. Zwei wichtige Unterscheidungen kann man sich aber durchaus merken: zum einen der Unterschied zwischen Autonomiefähigkeiten und einer normativ verstandenen Autonomie. Erstere betrifft die Tatsache, dass autonomes Denken und Handeln nur dann möglich ist, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Letztere verweist auf die mit Autonomie verbundenen Rechte und Pflichten. Bei der normativen Autonomie wiederum ist die Unterscheidung zwischen Abwehrrecht und Anspruchsrecht wichtig. Autonomie als Abwehrrecht meint, dass man beispielsweise nicht zu etwas gezwungen werden darf, was man nicht will. Anspruchsrechte betreffen Einforderungen, die man als autonome Person gegenüber Dritten stellen darf. In der Regel werden Abwehrrechte höher gewichtet als Anspruchsrechte.
Diese Unterscheidungen sind wichtige Hilfsmittel, um sich im komplexen Feld der Autonomie orientieren zu können – doch bei vielen praktischen Problemen verwischen sich die Grenzen. Das Thema „Autonomie im Alter“ verdeutlicht dies beispielhaft. So besteht das Wesen des Alterns darin, dass man gewisse Fähigkeiten verliert – und etwa im Fall einer Demenz sind dies durchaus solche, die für das Ausüben von Autonomie wichtig sind. Natürlich verliert man durch eine Demenz nicht die Menschenwürde als solche, doch in praktischer Hinsicht kann es immer schwieriger werden, Handlungen umzusetzen, die die betroffene Person selbst als Ausdruck ihrer Würde versteht (etwa selber zu kochen). Umso wichtiger werden in solchen Fällen die äusseren Aspekte, welche die Autonomiefähigkeit eines Menschen stützen oder auch untergraben können. Da kann es dann zu Konflikten zwischen Autonomie als Anspruchs- und Abwehrrecht kommen: Beispielsweise kann eine dauernde Unterstützung durch nahe Angehörige die Autonomiefähigkeiten einer Person stärken und könnte entsprechend eingefordert werden, was dann aber die andere Person, die auch andere Verpflichtungen und Wünsche hat, im Sinn eines Abwehrrechts verneinen kann. Schon nur dieses Beispiel zeigt, dass der Bezug auf Autonomie alleine die ethischen Fragen nicht löst, die sich mit Blick auf die Selbstbestimmung im Alter stellen.