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Zur Ethik der Tiefen Hirnstimulation

Die ethischen Fragen, die sich im Rahmen der Tiefen Hirnstimulation (THS) stellen, sind keine völlig neuen Themen der Medizinethik. Auch andere therapeutische Verfahren – medikamentöser wie chirurgischer Art – fokussieren das Gehirn und zielen (im Falle psychiatrischer Erkrankungen) auf gewünschte Veränderungen von Psyche, Verhalten und Persönlichkeit von Menschen. Deshalb kann die ethische Beurteilung der Tiefen Hirnstimulation auf Erfahrungen zurückgreifen, die beispielsweise im Rahmen der Untersuchung von Psychopharmaka oder der Psychochirurgie (die Behandlung psychischer Störungen mittels chirurgischer Eingriffe ins Gehirn) gemacht worden sind.

Es ist dabei nicht falsch, dass die Ethik der Psychiatrie als Ausgangspunkt einer ethischen Analyse gewählt wird, obgleich die weitaus meisten THS-Eingriffe zur Therapie von Bewegungsstörungen vorgenommen werden. Denn man vergisst oft, dass Krankheiten wie Parkinson (die weitaus häufigste aller THS-Indikationen) auch psychische Aspekte des Patienten beeinträchtigen, die durch die Therapie ebenso angegangen werden wollen wie die motorischen Aspekte. Zudem sind alle Hirnregionen, die derzeit für die Therapie verschiedener Krankheiten als Zielgebiet einer THS gelten, in unterschiedliche neurobiologische Funktionen eingebunden. Man kann deshalb davon ausgehen, dass in jedem Fall – wenn auch unterschiedlich stark – auch kognitive, affektive und behaviorale Funktionen durch eine THS tangiert werden können.

„Fallen“ der ethischen Diskussion

Trotz dieser etablierten Ausgangslage gilt es, einer Reihe von „Fallen“ auszuweichen, in die die ethische Diskussion über THS zuweilen tappt. So ist es zwar in der Tat richtig, zu betonen, dass chirurgische Eingriffe in das Gehirn ethisch sensibel sind, weil damit ein Organ betroffen ist, das für unsere Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung ist. Das bedeutet aber nicht, dass solche Eingriffe in das Gehirn nur schon deshalb „ethisch verwerflich“ sind, weil sie – beabsichtigt oder als Nebenwirkung – diese Persönlichkeit verändern. Nicht die Tatsache einer solchen Veränderung an sich ist das ethische Problem, sondern die Art der Veränderung.

Eine zweite „Falle“ ist der nicht selten gemachte Verweis auf die Psychochirurgie der 1930er- bis 1960er-Jahre mit dem argumentativen Ziel, die THS in den Dunstkreis des diskreditierten Begriffs „Psychochirurgie“ zu bringen und sie damit ebenfalls zu diskreditieren. Doch nicht das Verfahren an sich, sondern die Motive sollten den Kern der ethischen Debatte bilden. Die „Ruhigstellung des sozial Unterwünschten“ mittels hirnchirurgischer Eingriffe ist nicht wegen der Art des Eingriffs, sondern wegen des Motivs verwerflich, weil dieses sich nicht am Wohl des Patienten orientiert. „Psychochirurgie“ ist streng betrachtet ein ethisch neutraler Begriff – und wenn gesagt wird, THS bei Depression sei Psychochirurgie (was sie in diesem Fall in der Tat auch ist), so ist damit noch nicht gesagt, dass ein solcher Einsatz von THS verwerflich ist.

Ein dritter nicht selten vorgebrachter Punkt betrifft die Invasivität des Eingriffs, die THS als therapeutische Option ethisch verdächtig mache. Gewiss muss die Tatsache, dass mit einem hirnchirurgischen Eingriff Risiken einhergehen, in der Entscheidungsfindung „THS bei Patient X – ja oder nein?“ angemessen berücksichtigt werden. Und sicherlich wird es Leute geben, die rein aus diesem Faktum („eine Gehirnoperation!“) einen solchen Eingriff ablehnen werden, was angesichts der Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken eines solchen Eingriffs durchaus gerechtfertigt ist. Doch angesichts der Tatsache, dass THS vergleichsweise präzise in ein dysfunktionales Netzwerk von Hirnregionen eingreifen kann, während beispielsweise Psychopharmaka weit unspezifischer im Gehirn wirken, ist die Invasivität ein wichtiges, aber kein entscheidendes Kriterium bei der Frage, ob medikamentös oder operativ vorgegangen werden soll.

Eine letzte „Falle“ betrifft eine Überschätzung des Effekts von THS auf den Patienten im Sinne, dass mittels Ein- und Ausschalten des Stimulators gewissermassen die Persönlichkeit des Patienten augenblicklich in zwei völlig verschiedene Zustände „geschaltet“ werden könnte. Solche Vorstellungen werden durch eindrückliche Videos, mit denen Forscher an Konferenzen zuweilen den dramatischen Effekt von THS auf die motorischen Funktionen belegen, womöglich geschürt. Man vergisst dabei aber, dass „Persönlichkeit“ etwas weitaus Komplexeres ist als die An- oder Abwesenheit von Tremor. Auch sind viele der untersuchten kognitiven und psychiatrischen Effekte von THS (z.B. Verschlechterungen bestimmter kognitiver Leistungen bei eingeschaltetem Stimulator) zwar als statistischer Effekt nachweisbar, haben aber für die Lebenswelt vieler Patienten nur geringe Bedeutung.

Komponenten der medizinethischen Abwägung

Solche „Fallen“ zeigen: die ethische Beurteilung des Einsatzes von THS muss die Komplexität der Situation, in der THS als Therapieoption in Frage kommt, angemessen berücksichtigen. Dies zeigt sich im Fall von THS bei Parkinson besonders deutlich: denn sowohl die Krankheit selbst als auch die alternativen Therapien (insbesondere Medikamente) können gleichermassen die Persönlichkeit des Patienten betreffen. Dazu kommt, dass Nebenwirkungen unterschiedlich eingeschätzt werden können. Ein manischer Zustand kann unter Umständen für den Patienten nicht unangenehm sein, für dessen Angehörige aber umso mehr. Es besteht also ein „Messproblem“ bei der Beurteilung beabsichtigter und unbeabsichtigter Folgen von THS (siehe dazu Müller & Christen 2010).

Konkret sollte die medizinethische Abwägung des Einsatzes von THS in einem bestimmten Fall folgende vier Aspekte berücksichtigen:

  • Informierte Zustimmung: Die informierte Zustimmung des Patienten zu einer medizinischen Intervention ist eine Kernforderung der modernen Medizinethik. Sie ist aber im Falle von Krankheiten, die psychische Aspekte der Person betreffen, nicht immer einfach zu gewährleisten. Diesen Punkt gilt es natürlich auch bei THS zu berücksichtigen – insbesondere, wenn damit psychiatrische Störungen angegangen werden sollen oder entsprechende Nebenwirkungen zu erwarten sind. Im Fall von THS bei Parkinson bedeutet das beispielsweise, dass die Patienten über das mögliche Auftreten von komplexen, schwer mess¬baren Nebenwirkungen aufgeklärt werden sollen.

  • Folgen von Alternativen: Wie im Hauptartikel deutlich gemacht worden ist, ist THS eine Therapieoption bei schweren Krankheiten, die ihrerseits die Persönlichkeit des Patienten schwer beeinträchtigen können. Auch die alternativ zur Verfügung stehenden Therapien können gleichermassen belastend sein und weisen teilweise (z. B. Psychopharmaka) schwerere Nebenwirkungen auf als eine (künftig) mögliche THS. Solche Abwägungen sind beim konkreten Entscheid vorzunehmen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass in Einzelfällen ein bestimmtes Verfahren, das generell als schlechter gilt, besser sein kann. Konkret könnte ein Läsionsverfahren bei einem Patienten, für den die (falsche) Vorstellung einer „Fernsteuerung mittels Stimulator“ inakzeptabel ist, das Verfahren der Wahl sein, obwohl die langfristigen Folgen einer Läsion als gefährlicher eingeschätzt werden als THS.

  • Ein- und Ausschlusskriterien: Um Risiken wie die Suizidgefahr zu minimieren, sind in den vergangenen Jahren die Kriterien für die Zulassung für eine THS verschärft worden. Unter anderem werden in der Regel Personen mit einer psychiatrischen Vorgeschichte ausgeschlossen. Doch es gilt zu beachten, dass ein solches Vorgehen das Prinzip der Gerechtigkeit tangieren kann: die betreffende Person wird von einem für sie vergleichsweise zwar riskanteren Verfahren ausgeschlossen, von dem sie profitieren könnte.

  • Langfristige Folgen: Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass THS sich für viele Patienten als eigentlicher „Wendepunkt“ im bisherigen Krankheitserleben erweisen kann. Dies kann langfristige Folgen für Partnerschaft und Beruf haben, worüber die Patienten ebenfalls aufgeklärt werden sollten. Nicht zu vernachlässigen ist zudem der Kostenaspekt: THS ist ein vergleichsweise teures Verfahren, zumal beispielsweise der Stimulator regelmässig ersetzt werden muss. Erste Kosten-Nutzen-Untersuchungen weisen zwar darauf hin, dass THS gut abschneidet, dennoch sollte mit Blick auf die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen darauf geachtet werden, dass die langfristigen Prozesse, die mit THS einhergehen (Begleituntersuchungen, Stimulatoraustausch, etc.) mit Blick auf die Kosten optimiert werden. Schliesslich muss bedacht werden, dass THS (im Fall von Parkinson) die degenerativen Prozesse im Gehirn nicht verhindern kann. Langfristig wird es also eine zunehmende Zahl pflegebedürftiger, dementer Menschen mit Stimulator geben, was neue Herausforderungen im Umgang mit solchen Personen mit sich bringt (z. B. höhere Risiken der Beschädigung des Systems, Erwägung, ob man den Stimulator dauerhaft abstellen soll etc.).

Es ist absehbar, dass THS als Therapieoption für Bewegungsstörungen, aber auch Schmerz und möglicherweise auch bestimmte psychiatrische Krankheiten an Bedeutung gewinnen wird. Ein zentraler Punkt bei der Anwendung dieses Verfahrens wird sein, die Pa¬tienten dabei zu unterstützen, den durch die Behandlung erwart¬ba¬ren Nutzen und dessen Risiken in Bezug auf ihre individuelle Situation abzuwägen.

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