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Zwang – ein verfemter Grundbegriff der Ethik


In einer Welt, die sich an Idealen wie Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit orientiert, ist „Zwang“ ein unangenehmes, ja geradezu verfemtes Wort. Dennoch weiss jeder, dass man sich zuweilen gerechtfertigten Zwängen ausgesetzt sieht oder auch selbst Zwang ausüben muss. Doch die negative Konnotation bleibt bestehen, so dass die Anwendung von Zwang immer mit besonderen Rechtfertigungspflichten einhergeht. Interessant ist dabei die Beobachtung, dass sich die philosophische und ethische Literatur vergleichsweise selten mit diesem Begriff auseinandergesetzt hat – weit weniger oft als mit positiv besetzten Begriffen wie Autonomie, Gerechtigkeit oder Freiheit. Oft sind es Theoretiker der Freiheit wie Friedrich August von Hayek, die sich um eine Engfassung des Zwangsbegriffs bemühen und diesen direkt mit dem Freiheitsbegriff verknüpfen, indem sie Freiheit „negativ“ als Abwesenheit von Zwang definieren (Hayek 1960, vergleiche dazu auch Batthyány 2007). Hier bewegt man sich aber auf einer vergleichsweise hohen Abstraktionsebene, während die medizinethische Literatur die Frage des Zwangs vorab im „lokalen“ Kontext der Arzt-Patient-Beziehung in besonderen Situationen – etwa psychischen Notlagen oder Zwangsbehandlungen – abhandelt (z.B. Ernst & Ernst 1999). Wie lassen sich diese beiden Ebenen verbinden?

Abschliessend lässt sich diese Frage in diesem kurzen Beitrag kaum beantworten. Hier soll primär versucht werden zu klären, was der Begriff Zwang in etwa meint und mit welchen anderen Begriffen er in Beziehung steht. Damit der Satz „X wird von Z zu Y gezwungen“ korrekt angewendet werden kann, müssten wohl folgende drei Voraussetzungen gegeben sein:

  1. Optionen: Die erste Voraussetzung ist: es bestehen Optionen, dass unterschiedliches getan werden bzw. geschehen kann. Wenn überhaupt nur eine Möglichkeit besteht, also sowieso nur Y getan werden kann, ist die Anwendung des Zwangsbegriffs höchstens metaphorisch sinnvoll. So kann man zwar sagen, dass die Erde „gezwungen“ ist, sich um die Sonne zu bewegen – doch dass sie das tut und ihre genaue Umlaufbahn sind nun einmal eine Folge der vorliegenden Schwerkraft-Verhältnisse in unserem Sonnensystem. Man könnte von „natürlichen Sachzwängen“ sprechen – doch dieser Begriff hat seine Tücken, wie nachfolgend deutlich wird. Diese Voraussetzung ist also mit dem Problem der Beherrschbarkeit der Umstände verbunden, in denen sich (erzwungene) Handlungen vollziehen.

  2. Wille: Die zweite Voraussetzung ist: X muss einen Willen haben, eine bestimmte Option auch wahrnehmen bzw. umsetzen zu wollen. Hier eröffnet sich bereits ein recht komplexes Feld an Problemen, beispielsweise: Was ist, wenn X das Unmögliche will? Man könnte dies als Verletzung der ersten Voraussetzung ansehen – doch das ist nicht der Punkt, denn man könnte in solchen Fällen gewissermassen die Legitimität des Willens anzweifeln bzw. dies als Hinweis sehen, dass X nicht in der Lage ist, einen „brauchbaren“ Willen zu formulieren. Ein anderes Problem verdichtet sich im Sprichwort „Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach“. Dieses Sprichwort eröffnet gleich zwei konträre Sichtweisen auf Zwang: Es können innere Zwänge vorliegen, die dann negativ bewertet werden. Oder aber man weiss um seine Verführbarkeit und muss sich zwingen, „das Richtige“ zu tun – dann erhält Zwang ein positives Moment. Und ein drittes Problem: Wie soll man die Situation bewerten, dass man (unter Anwendung der nachfolgend besprochenen Voraussetzung) zu etwas gezwungen wird, das man ohnehin schon will? Vermutlich ändern die Begleitumstände eines Tuns die Einschätzung der Legitimität des eigenen Willens: Will ich Y wirklich tun, wenn nun plötzlich ein Z ins Spiel kommt, das mich zu Y zwingen will? Solche Fragen zeigen: Es sind gewisse Voraussetzungen an das Subjekt X geknüpft mit Blick auf den Willen, der formuliert wird.

  3. Macht: Die Anwendung des Zwangsbegriffs ist schliesslich auch an eine dritte Voraussetzung gebunden: Es muss ein Z vorhanden sein, das unter Anwendung von Machtmitteln X zur Handlung Y tatsächlich zwingen kann. Diese Voraussetzung wirft zweierlei Arten von Folgefragen auf. Zum einen: was genau ist dieses Z? Es muss nicht der gestrenge Vater oder die Psychiaterin sein, die mit Zwang auf ein X einwirkt. Ein solcher „Zwangsausüber“ kann auch in X selbst verborgen sein (als Ursache eines oben beschriebenen inneren Zwangs) oder aber sehr diffus und kaum fassbar sein, was man manchmal mit dem Ausdruck „gesellschaftliche Zwänge“ umschreibt. Zum anderen stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln denn nun Zwang ausgeübt wird bzw. werden darf. Diese Dimension erlaubt eine Abstufung der moralischen Qualitäten von Zwang, denn je nach eingesetztem Mittel bestehen mehr oder weniger Ausweichmöglichkeiten. Wird X mit roher Gewalt zu Y gezwungen, ist das etwas anderes, als wenn X gewisse finanzielle Vorteile nicht erhält, wenn Y nicht getan wird.

Bereits diese kurzen Ausführungen zu den Voraussetzungen für die Anwendung des Zwangsbegriffs zeigen die Vielzahl der Probleme, die mit dem vermeintlich einfachen Begriff Zwang verbunden sind. Bevor wir nun noch etwas genauer auf die verschiedenen Facetten von Zwang eingehen, lohnt es sich deshalb auch, sich zu vergegenwärtigen, warum Zwang ein Übel sein soll. Denn offenbar gibt es legitime Anwendungen von Zwang, die ihrerseits eng an die Interpretation der drei genannten Voraussetzungen gekoppelt sind.

In den grossen Traditionen der Moralphilosophie – Deontologie (z.B. Kant) und Teleologie (z.B. der Utilitarismus) – lassen sich gewiss Argumente zur Verwerflichkeit von Zwang finden. In der Denktradition von Kant ist Zwang dann ein Problem, wenn seine Anwendung den Menschen zu einem Mittel zum Zweck macht. Eine solche „Verzwecklichung“ ist ein Verstoss gegen die Würde des Menschen, und deshalb ist Zwang verwerflich. Die utilitaristische Tradition, die der Formel des „grösstmöglichen Glücks für möglichst viele Menschen“ folgt, verweist letztlich auf den empirischen Sachverhalt, dass sowohl der unter Zwang stehende einzelne Mensch als auch eine ganze Gesellschaft weniger in der Lage ist, zu dieser „Glücksbilanz“ beizutragen als der freie Mensch in einer freien Gesellschaft.

Gewiss ist diese kurze Darstellung weder vollständig noch erschöpfend diskutiert. Sie zeigt aber, dass nicht der Zwang per se, sondern die mit ihm einhergehenden Aspekte wie eben Würdeverletzung das Übel des Zwangs ausmachen. Entsprechend gibt es eben auch einen legitimen Zwang – wobei die Legitimierung von Zwang eng an das Hinterfragen der oben genannten Voraussetzungen geknüpft ist. Das soll nachfolgend noch etwas erläutert werden:

  • Sachzwänge: Eine mögliche Legitimation von Zwang geht über den Begriff des „Sachzwangs“. Diese folgt der Intuition: je „natürlicher“ ein Zwang ist, desto mehr wird ein solcher akzeptiert und desto weniger wird er moralisch problematisiert. Nur Zwänge als Folge direkten menschlichen Einwirkens („künstliche Zwänge“) sind Zwänge in einem moralischen Sinn. Dieses Argument ist aber mit zwei Problemen konfrontiert. Zum einen nimmt die Zahl natürlicher Zwänge mit der Zunahme menschlicher (technischer) Gestaltungsmöglichkeit ab. Wir bauen heute in Regionen, in denen früher wegen Überschwemmungs- und Lawinengefahr keine Häuser standen – weil diese Naturgefahren gewissermassen einen „Zwang“ auf die damaligen Häuserbauer ausübten. Nun aber stehen technische Möglichkeiten für die Bewältigung dieser „Zwänge“ zur Verfügung und man steht vor einem Problem der Güterabwägung: Will man die Mittel zur Beherrschung dieser Zwänge einsetzen? Lohnt sich dieser Einsatz? Es stehen also neue Optionen zur Verfügung und eine Situation, die zuvor nicht als moralischer Zwang verstanden worden ist, ist nun eine solche. Zum anderen gibt es zwischen solchen „natürlichen“ und „künstlichen“ Zwängen noch eine dritte Kategorie: Zwänge, die sich auf nicht vorhersehbare Weise aus dem komplexen Zusammenspiel in menschlichen Gesellschaften ergeben. Gerade das Gesundheitswesen ist voller solcher Sachzwänge, wie etwa ein möglicher gesellschaftlicher Druck auf Paare als Resultat der Anwendung von pränataler Diagnostik. Das Problem derartiger Sachzwänge ist, dass sie nicht einfach „abgestellt“ werden können und Massnahmen gegen solche Zwänge ihrerseits neue, unerwartete Effekte haben können.

  • Willensschwäche: Eine zweite mögliche Legitimation für die Anwendung von Zwang zielt auf den Willen der unter Zwang stehenden Person, d.h. es wird bezweifelt, dass ein solcher überhaupt vorliegt bzw. dass dieser Wille legitim ist. Die damit verbundenen Probleme sind wohlbekannt und werden in der Medizinethik bzw. Psychiatrie auch schon lange diskutiert (vgl. dazu auch das Interview).

  • Zwangssolidarität: Eine dritte mögliche Legitimation von Zwang beruft sich auf die Legitimität der Instanz, die den Zwang ausübt bzw. der Mittel, die dafür eingesetzt werden dürfen. Der zentrale Wert zur Legitimierung derartiger Zwänge läuft über den Begriff der Solidarität, der seinerseits schillernd und nicht unproblematisch ist (siehe dazu „Thema im Fokus“ Nr. 71). Die mit diesem Legitimationsstrang verbundenen Fragen reichen vorab in die politische Philosophie und betreffen Fragen wie: Was darf ein Staat von seinen Mitbürgern verlangen? Auf welche Weise sollen Entscheidungen zustande kommen, die dann auch jene verpflichten, die gegen die getroffene Entscheidung sind? Historisch gesehen sind derartige Fragen wohl die ersten, die Zwang ethisch problematisiert haben – etwa mit Blick auf die (Il-)Legitimität der Sklaverei oder der Dauerhaftigkeit einer (vermeintlich) gottgegebenen Sozialordnung.

Das Hinterfragen des Vorliegens dieser Voraussetzungen in einer konkreten Situation bildet aber gewiss noch nicht die Legitimation von Zwang. Vielmehr ist damit die Strategie verbunden, eine bestimmte Situation gar nicht mehr als „Zwangssituation“ im eigentlichen Sinn beschreiben zu wollen – man will also der Frage ausweichen, ob Zwang angewendet wird. Solche „Ausweichstrategien“ sind aber enger mit der ethischen Legitimation von Zwang verbunden, als man meint, denn die damit verbundenen Fragen (Liegt ein „natürlicher Zwang“ vor? Ist das Einfordern von Solidarität in einer bestimmten Frage eine Form von Zwang?) sind meist kontrovers diskutiert und kaum abschliessenden beantwortbar. Es braucht also einen Grundwert, der das „negative Gewicht“ des Zwangsbegriffs gewissermassen aufwiegt.

In medizinethischen Diskussionen ist das der Wert (oder das Prinzip) der „Fürsorge“. Die Debatte zur Frage, inwieweit Fürsorge die Einschränkung von Autonomie rechtfertigen kann, füllt ganze medizinethische Bibliotheken und kann in diesem Beitrag, der lediglich die Voraussetzungen der Anwendung des Zwangsbegriffs beleuchten will, nicht diskutiert werden (für die Psychiatrie siehe z.B. Meier-Allmendinger 2009 und Rössler & Hoff 2004).

Die angesprochenen Fragen zeigen somit, dass Zwang durchaus ein Grundbegriff der Ethik ist und mit der Frage nach der Legitimität von Zwang zentrale Probleme der heutigen Moralphilosophie berührt – wie etwa die Reichweite der Freiheit, der Inhalt von Autonomie oder die Schaffung von Gerechtigkeit. Und wenn auch der Teufel im Detail steckt, gibt es doch so etwas wie einen Grundkonsens mit Blick auf die Anwendung von Zwang: er ist dann legitim, wenn er letztlich dazu beiträgt, dass sich der Mensch von seinen Zwängen befreien kann.

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