Gibt es eine globale Medizinethik?
Kann es angesichts der Vielfalt von Problemen und Fragen, die sich aus der Globalisierung der Medizin ergeben, eine einheitliche Antwort der Ethik geben? Diese Frage nach der Möglichkeit einer globalisierten Medizinethik kann grundsätzlich aus zwei Perspektiven untersucht werden:
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Aus einer theoretischen Perspektive: Hier bewegen wir uns in einem klassischen Problemkreis, den die Ethik seit jeher beschäftigt. Es geht um die Frage der Universalisierbarkeit ethischer Normen, Prinzipien und Wertvorstellungen. Aus dieser Perspektive ist die Frage nach einer globalen Medizinethik quasi eine Unterfrage des grundlegenderen Problems, ob es überhaupt so etwas wie eine „globale Ethik“ geben kann.
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Aus einer praktischen Perspektive: Hier geht man vom Phänomen der „Globalisierung“ aus und untersucht zuerst, was dieser Begriff eigentlich genau bedeutet und welche konkreten, praktischen Folgen sich in den verschiedensten Bereichen medizinischer Praxis daraus ergeben. Die Frage nach einer „universellen Medizinethik“ wird zugunsten einer genauen Katalogisierung der ethischen Fragen zunächst einmal zurückgestellt – auch in der Hoffnung, dass sich aus dieser Bestandesaufnahme eine Hierarchisierung von ethischen Fragestellungen mit Blick auf die Notwendigkeit ihrer Universalisierung ergibt. Anders gesagt: vielleicht brauchen nur manche medizinethische Fragen, die aus der Globalisierung erwachsen, eine „globale Antwort“, andere nicht.
Gewiss sind beide Perspektiven letztlich miteinander verknüpft. Ergibt beispielsweise die Bestandesaufnahme, dass global durchgeführte Medizinforschung überall zu vergleichbaren und auch gleich bewerteten ethischen Fragen führt, kann die Begründung einer weltweit gültigen Norm zu dieser Frage nicht vom Grundproblem der Universalisierbarkeit solcher Normen abstrahieren. Nachfolgend soll uns vorab die zweite, praktische Perspektive interessieren, doch wir beginnen mit einigen Bemerkungen zum ersten Punkt.
Schon in den Dialogen des Sokrates ist das Grundproblem aufgeworfen worden, dass sich die Sitten verschiedener Völker unterscheiden. Wie soll die Ethik, verstanden als Theorie dieser Sittlichkeit, damit umgehen? Hier lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden: Während so genannte ethische Relativisten festhalten, dass es keine universell gültigen moralischen Urteile gibt (und auch nicht geben soll), bestehen andere Ethiker darauf, dass die Universalisierbarkeit zumindest gewisser moralischer Urteile Kern der Ethik bildet: Bereits die „Goldene Regel“ („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu!“) oder auch der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant enthalte die Forderung, dass ethische Urteile verallgemeinerbar sein müssen, um als solche gelten zu können. Die Debatte zwischen diesen beiden Positionen hat eine lange Geschichte, die hier nicht wiedergegeben werden kann (siehe dazu z.B. Edelstein & Nunner-Winkler 2000, Engelhard & Heidemann 2005, Ernst 2009, Moser & Carson 2000). Sie findet heute insbesondere ihren Widerhall in der Frage der Universalisierbarkeit der Menschenrechte, was auch eng mit der Frage verknüpft ist, welche Rechte überhaupt als Menschenrechte gelten sollen.
Für die nachfolgenden Erwägungen ist festzuhalten, dass man sich nicht auf eine der beiden Positionen (Relativismus oder Universalismus) festlegen muss, um sinnvoll mit der Frage nach der Möglichkeit einer „globalen Medizinethik“ umgehen zu können. Zum einen gibt es Abstufungen zwischen den Positionen mit Blick auf die Tatsache, dass manche moralische Normen (z.B. das Verbot, Unschuldige zu töten) sich faktisch in praktisch allen Kulturen finden, während bei anderen deutlich mehr Unterschiede bestehen – ein gemässigter ethischer Relativist kann also lediglich die These vertreten, dass ethische Urteile nicht notwendigerweise universalisierbar sein müssen, um als solche zu gelten. Zum anderen beinhaltet die Frage nach einer „globalen Medizinethik“ auch das Problem, wie man innerhalb einer Gesellschaft mit einer bestimmten Moral mit dem Problem umgeht, dass z.B. wegen Migration andere Vorstellungen an Gewicht gewinnen. Dieser Punkt bedarf dann einer genaueren Auslegeordnung, was nun geschehen soll.
Die praktische Perspektive geht vom Phänomen der „Globalisierung“ aus – ein durchaus unscharfer und auch umstrittener Begriff. Er kann zum einen das Phänomen umschreiben, dass Austauschbeziehungen von Menschen, Gütern und Wissen bzw. kulturellen Praktiken zunehmen. Zum anderen wird er auch oft negativ konnotiert verwendet mit Blick auf den Verlust der Identität von Gruppen, Völkern oder Nationen, oft mit besonderem Fokus auf wirtschaftliche Aspekte wie Freihandel und dergleichen. Wir verwenden nachfolgend ersteres Verständnis und geben eine Auslegeordnung medizinethischer Fragen. Anzumerken ist, dass sich dieser Bereich sicher nicht klar von der Bioethik generell abgrenzen lässt (abgesehen davon, dass im angelsächsischen Sprachraum die Begriffe „bioetics“ und „medical ethics“ oft synonym verwendet werden): Stammzellforschung mit medizinischem Fokus gehört sicher dazu, während etwa die Frage der globalen Nutzung gentechnisch veränderten Saatgutes in der nachfolgenden Auslegeordnung keine Berücksichtigung findet.
Betrachten wir als ersten Punkt den „Austausch“ von Menschen im Kontext der Globalisierung. Hier ist zum einen zwischen „Geber-“ und „Nehmerländern“ zu unterscheiden, zum anderen sind mit Blick auf die Medizin vorab die Personengruppen „Patienten“ und „Fachpersonal“ relevant. Folgende ethische Fragen stehen hier im Zentrum:
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Migration: Wenn Menschen aus anderen Kulturkreisen in einen Staat einwandern und dort dann quasi „potenzielle Patienten“ (natürlich auch „potenzielle Ärztinnen, Krankenschwestern etc.“) sind, stellen sich viele praktische Fragen, die schnell einmal zu individual- und sozialethischen Problemen anwachsen können:
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Medizintourismus: Dieser Punkt betrifft die Gruppe „Patienten“, die entweder aus einem Land mit unterentwickelter medizinischer Infrastruktur in Länder mit hochentwickelter Medizin reisen oder aber Patienten, die sich aus Kostengründen in anderen Gesundheitssystemen behandeln lassen. Mögliche Fragen hier sind:
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"Brain Drain“: Dieser Punkt betrifft die Gruppe „Fachpersonen“. Ethische Fragen, die sich hier stellen, sind:
- Was ist davon zu halten, dass ein Staat X für die Ausbildung von Fachpersonen aufkommt, von denen dann ein Staat Y profitiert?
- Welche Auswirkungen hat die Einwanderung von Fachpersonen in den Staat Y für das dortige Finanzierungs- und Ausbildungssystem im Bereich Medizin?
- Hat ein Staat X das Recht, zur Sicherung des eigenen Gesundheitssystems die Abwanderung bestimmter Personengruppen zu verhindern?
Der zweite Aspekt der Globalisierung betrifft den Austausch von Gütern, wobei im Medizinbereich zwei unterschiedliche Arten von Gütern unterschieden werden:
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Sachgüter: Hier geht es um Medikamente, aber auch andere Produkte der Medizinaltechnologie, deren Anwendung oft einen minimalen Standard in der medizinischen Infrastruktur erfordert. Mögliche Fragen sind hier:
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Biologisches Material: Biologisches Material wie Organe, Gewebe oder Zellen spielen in der modernen Medizin eine zunehmend wichtige Rolle. Mit Blick auf den globalen Austausch solcher Güter stellen sich Fragen wie:
- Soll der Austausch insbesondere von sensiblem biologischem Material wie Organe nur innerhalb bestimmter Gebietskörperschaften erlaubt sein?
- Darf ein Land X biologisches Material aus einem Land Y importieren, wenn die in Y herrschenden Regeln zur Gewinnung des Materials weniger streng sind als in X?
- Darf ein Land X seine moralischen Vorstellungen mit Blick auf die Gewinnung von biologischem Material im Land Y als Bedingung für anderweitige Austauschbeziehungen zwischen X und Y formulieren?
Der dritte Aspekt betrifft schliesslich den Austausch von Wissen und damit verbundenen (kulturellen) Praktiken. Folgende Problembereiche können hier genannt werden:
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Forschung: Klinische Forschung (aber auch Grundlagenforschung), umgesetzt von Pharmaunternehmen, findet in immer mehr Ländern statt, was eine Reihe von ethischen Fragen nach sich zieht (vgl. dazu auch das folgende Interview), unter anderem:
- Darf ein Unternehmen mit Sitz im Land X im Land Y klinische Forschung durchführen, wenn die dort akzeptierten ethischen Standards anders sind als in X?
- Darf klinische Forschung im Land Y für Krankheiten, die vorab im Land X auftreten, durchgeführt werden?
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Wie ist die Möglichkeit zu beurteilen, dass ein Land X aus ethischen Gründen Grundlagenforschung zu einem bestimmten Thema verbietet, dann aber aus den Ergebnissen dieser Forschung, die im Land Y durchgeführt wurden, dennoch profitiert?
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Patente: Schutzrechte für Wissen und Fertigkeiten sowie deren globale Durchsetzung gehören ebenfalls in den Bereich „Austausch von Wissen“, wobei aber berücksichtigt werden muss, dass insbesondere in der Medizin viele Bereiche des therapeutischen Handelns von Patentierung ausgeschlossen sind. Im Fokus stehen daher vorab Medikamente, wobei unter anderem folgende Fragen diskutiert werden:
- Unter welchen Bedingungen kann ein Land Y ein in einem Land X geschütztes Patent verletzen?
- Darf ein medizinisches Produkt/Verfahren patentiert werden mit dem Zweck, dessen Nutzung zu verhindern (d.h. gibt es eine Pflicht, Lizenzen für Patente Dritten zu geben)?
Diese gewiss nicht vollständige Auslegeordnung betrifft Fragen, die in unterschiedlichem Ausmass bereits seit längerem Thema der medizinethischen Debatte sind. Mit Blick auf die grundlegenden ethischen Themen, die bei der Beurteilung dieser Fragen eine Rolle spielen und bei denen global gesehen Unterschiede zu erwarten sind, dürften insbesondere die folgenden drei eine wichtige Rolle spielen: Erstens sind Unterschiede in Bezug auf den moralischen Status bestimmter Entitäten wie z.B. Embryonen und Stammzellen zu erwarten (und auch bekannt). Zweitens dürften sich die Intuitionen von Gerechtigkeit (z.B. „Jedem das Gleiche“ vs. „Jedem das Seine“) unterscheiden. Drittens schliesslich dürfte die Bedeutung der Religion mit Blick auf die Rechtfertigung ethischer Urteile verschieden sein. Das wiederum bedeutet aber nicht per se, dass es keine globale Medizinethik geben kann. Es könnte aber sein, dass primär die Standards, wie man global über solche Fragen diskutieren will, Gegenstand eines Konsenses sind, während inhaltliche Differenzen bestehen bleiben.
Markus Christen