Gibt es eine „Ethik des (zu viel) Essens“?
Das Phänomen Adipositas ist eingebettet in ein komplexes Netz faktischer, normativer und kulturgeschichtlicher Aspekte. In faktischer Hinsicht gilt es etwa zu klären, ab wann man berechtigterweise von Übergewicht sprechen kann, welche Ursachen hier eine Rolle spielen (insbesondere Faktoren wie Genetik und Lebensweise) und welche (positiven und negativen Folgen) mit Übergewicht oder gar Adipositas einhergehen. In normativer Hinsicht stellen sich die Fragen, inwieweit das Essverhalten Gegenstand persönlicher Freiheitsrechte (und einer damit verbundenen Eigenverantwortung) ist, wie weit ein (staatlicher) Paternalismus zur Prävention von Adipositas reichen darf und wie Stigmatisierungen aufgrund eines zu hohen Körpergewichts zu bewerten sind. In kulturgeschichtlicher Hinsicht schliesslich stellt sich die Frage, welches die Gründe der Veränderung in der Bewertung von Fettleibigkeit in unterschiedlichen Zeiten sind und welche Verbindung zur jeweiligen Ess- und Bewegungskultur besteht.
Am Problem der Adipositas zeigt sich beispielhaft die enge Verflechtung dieser Aspekte in Fragen, die ein breites gesellschaftliches Phänomen betreffen. Dies sei an einigen Punkten exemplarisch aufgezeigt:
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Schwellenwert-Bestimmung: Ab wann gilt man als übergewichtig? Die Beantwortung dieser Frage ist keineswegs nur eine rein faktische Angelegenheit. So ist der BMI primär deshalb etabliert, weil er einfach zu messen ist und – weil er schon lange gemessen wird – Vergleiche über die Zeit hinweg erlaubt. Doch es wird zunehmend kritisiert, ob der BMI wirklich das relevante Mass ist, um die Kausalität des Zusammenhangs zwischen Übergewicht und (bestimmten) Gesundheitsstörungen zu erfassen (siehe Interview). Zudem wird der Zusammenhang letztlich immer ein statistischer sein, d.h. man muss die (normative) Frage beantworten, welches mit einem bestimmten Körpergewicht einhergehende Krankheitsrisiko als „zu gross“ eingestuft wird.
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Kosten von Adipositas: Die Kosten, die durch Adipositas der Gesellschaft verursacht werden, gelten als wichtiges Argument zur Begründung von Präventionskampagnen. Das Schwergewicht dieser Berechnungen liegt dabei bei den indirekten Kosten (also Folgekosten, z.B. entstehend durch die Behandlung von Diabetes). Doch bei diesen (ökonomisch gesprochen) „externen Effekten“ stellen sich methodische und normative Fragen: So wird in den Berechnungen in der Regel nicht berücksichtigt, dass Übergewicht die Lebenszeit verkürzt (und damit fallen im Vergleich auch weniger Kosten an) sowie bei gewissen Krankheiten offenbar einen präventiven Effekt hat (was die Kosten im Vergleich ebenfalls senkt). Es stellt sich also das bei solchen Berechnungen klassische Problem, die zu berücksichtigenden Faktoren einzugrenzen. Dazu kommt das normative Problem, welchen ethischen Stellenwert denn solche Mehrkosten haben sollen, zumal zahlreiche Differenzierungen hinsichtlich Lebensstil bei genauerer Betrachtung „Mehrkosten“ verursachen können (z.B. exzessiver Sport).
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Beeinflussbarkeit der Ursachen: Adipositas hat zahlreiche mögliche Ursachen, die keineswegs gleichermassen beeinflussbar sind. So existieren genetische Risiken, die teilweise bereits mittels Gentests erfasst werden können. Hier stellen sich vergleichbare ethische Probleme wie bei anderen Gentests. Bewegungsmangel wiederum – ebenfalls ein oft genannter Faktor – dürfte eng an die generelle Lebensweise in der Moderne geknüpft sein. So ist für manche Forscher der menschliche Stoffwechsel, der sich über viele Jahrzehntausende an ein Leben in Knappheit angepasst hat, schlicht nicht an das moderne Leben angepasst. So gesehen überrasche es, dass nicht noch deutlich mehr Menschen Adipositas entwickelten. Wieder andere mögliche Ursachen sind letztlich Ausdruck durchaus positiver Entwicklungen. Der US-Ökonom Thomas Philipson erklärt beispielsweise in einer Studie, dass die Hälfte der Gewichtszunahme bei den US-Amerikanern auf die sinkenden Preise für Nahrungsmittel zurückgeht. Soll daraus der Schluss gezogen werden, dass Nahrungsmittel wieder teurer werden müssen?
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Funktion von Stigmatisierung: Dass die Stigmatisierung dicker Menschen ethisch abzulehnen ist, wird heute kaum bestritten. Doch welche Folgerungen daraus zu schliessen sind, ist keineswegs klar. So sind z.B. in den USA in den letzten Jahren in zahlreichen Alltagsbereichen schleichende Veränderungen vorgenommen worden, um Stigmatisierungseffekte abzuschwächen: Kleidergrössen wurden neu skaliert, so dass z.B. die heutige Grösse 38 der früheren Grösse 42 entspricht. In Sportstadien und Theatern wurde die Normbreite von Stühlen von 43 auf 56 cm angepasst. Neue Badezimmer-Waagen haben eine Skala bis 180 kg (üblich war 135 kg). Ist es sinnvoll, auf diese Weise „Signale für Fettleibigkeit“ zu verhindern? Ist vielleicht eine gewisse Stigmatisierung (im Sinn eines „schlechten Gewissens“) gar eine wichtige motivierende Kraft, um gegen Übergewicht vorzugehen?
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Gewicht und sozioökonomischer Status: Aus kulturgeschichtlicher Perspektive ist schliesslich der Wandel in der Beurteilung von Übergewicht interessant – wobei aber hinzugefügt werden muss, dass Adipositas selbst noch im 19. Jahrhundert eine aussergewöhnliche Erscheinung war. Dennoch galt „dick sein“ lange als Privileg der Reichen, was sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geändert hat. Zunächst betraf der Wandel (wohlhabende) Frauen – unter anderem auch eine Folge veränderter Kleidermode (ab etwa den 1920er-Jahren), die Fülligkeit weit deutlicher sichtbar machte. Der „dicke Mann“ wurde erst in den 1970er-Jahren problematisiert. Das zeigt sich beispielsweise auch daran, dass in politischen Karikaturen bis in die 1950er-Jahre der „reiche Kapitalist“ meist ein fülliger Mann mit Zigarre war. Heute zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Fettleibigkeit, wobei aber die Ursache-Wirkungs-Beziehung keineswegs klar ist.
Wie kann nun eine ethische Betrachtungsweise auf diese komplexe Problemlage reagieren? Idealtypisch lassen sich wohl zwei Perspektiven unterscheiden, die ihrerseits mit einem ganzen Bündel an normativen, faktischen und kulturgeschichtlichen Aspekten einhergehen. Man kann diese beiden Perspektiven wie folgt skizzieren:
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Eine „Top-down-Perspektive“: Diese Perspektive folgt ethisch einer paternalistischen Tradition. Sie geht davon aus, dass Übergewicht generell ein unerwünschtes Phänomen ist und wird die dadurch verursachten gesundheitlichen Probleme und gesellschaftlichen Kosten als zentrale Argumente betonen. Diese Perspektive wird einfache Messverfahren bevorzugen (also eben den BMI). Sie wird gleichzeitig betonen, dass die zahlreichen Ursachen für Übergewicht nur schwerlich einer individuellen Kontrolle unterliegen, weil sie z.B. Ausdruck fundamentaler Veränderungen in der Gesellschaft sind und auch oft Personen betreffen, denen man generell eine geringere Einflussmöglichkeit auf das eigene Leben attestiert (arme Menschen). Massnahmen, die aus dieser Perspektive erwachsen, haben einen „top-down“-Charakter, z.B. Steuern auf bestimmte Lebensmittel, „Volksgesundheitsprogramme“, aber auch Massnahmen zur Verminderung von Stigmatisierung (z.B. durch entsprechende Gesetzgebung).
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Eine „Bottom-up-Perspektive“: Diese Perspektive geht von einer Orientierung am Wert der individuellen Freiheit aus. Sie wird Übergewicht nicht generell als problematisch bezeichnen, sondern eine Varianz zulassen, sofern der Betroffene mit seinem Gewicht zufrieden ist. Diese Perspektive wird generell weniger stark mit der Kostenproblematik operieren und bevorzugt ausdifferenzierte Messverfahren. Sie wird betonen, dass das Körpergewicht ein weitgehend individuell beeinflussbarer Faktor ist und dürfte deshalb auch offener dafür sein, Stigmatisierungen zuzulassen, was ein interessantes Spannungsfeld aufbaut (also quasi sowohl das Recht, dick zu sein als auch das Recht, andere für ihr Dicksein zu kritisieren). Massnahmen aus dieser Perspektive haben einen „bottom-up“-Charakter und zielen vorab auf die Idee der Selbstverantwortung. Diese die Selbstverantwortung stützenden Massnahmen (z.B. Deklaration von Lebensmittel) haben hier aber durchaus Platz.
Gewiss sind beide Perspektiven überzeichnet, sie finden sich so kaum in der faktischen Diskussion. Sie machen aber klar, dass ein Problem wie Adipositas nicht durch ein „ethisches Patentrezept“ gelöst werden kann. Übergewicht ist nur ein Symptom einer Lebensweise, in der sich positiv und negativ bewertete Aspekte gleichermassen finden lassen. Inwieweit die Suche nach einer Balance primär aus der Perspektive des Individuums oder aber aus der Perspektive der Gesellschaft geschehen soll, dürfte hier die zentrale ethische Frage sein.