„Viele Sonderpädagogen glauben, sich tieferen ethischen Fragen nicht stellen zu müssen“
Ob Integration, moralischer Status von Behinderung oder konkrete Dilemmas in der heilpädagogischen Praxis: die Heil- und Sonderpädagogik ist mit zahlreichen ethischen Fragen konfrontiert, die zunehmend auch von der Disziplin selbst thematisiert werden. „Thema im Fokus“ sprach mit der Sonderpädagogin Franziska Felder, die zum Thema Ethik und Behinderung forscht.
Sie arbeiten zum Thema „Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Integration?“ Ist das für eine Sonderpädagogin nicht schon fast eine ketzerische Frage?
Auf den ersten Blick wirkt das tatsächlich so – und zumindest zu Beginn meines Projekts ist diese Frage in der Tat als „ketzerisch“ aufgenommen worden. An einem Kongress habe ich damit ziemlichen Wirbel ausgelöst, denn alle Anwesenden gingen davon aus, dass eine solche Frage gar nicht gestellt werden dürfe, da es sich ja von selbst verstehe, dass die Antwort Ja laute. Dabei wurde nicht verstanden, dass es sich bei der Frage gar nicht um eine geschlossene Frage handelt – eine Frage also, bei der man mit Ja oder Nein antworten kann –, sondern dass sie viele Folgefragen auslöst, die keineswegs trivial oder gar ketzerisch sind, sondern den Kern sonderpädagogischer Annahmen, Werte und Konzepte betreffen. Es geht beispielsweise darum, was man unter Behinderung, Integration oder einem moralischen Recht dazu überhaupt versteht. Dabei ist die Frage, was ein moralisches Recht denn genau ist, noch die am wenigsten komplexe Frage. Sehr viel schwieriger ist bereits die Frage, was das eigentliche moralische Problem daran ist, eine Behinderung zu haben. Kern des Problems bildet die genaue Bedeutung von „Integration“ und die Frage, worin überhaupt das moralische Problem besteht, wenn man „zu wenig“ oder „nicht“ integriert ist.
Was genau verstehen Sie denn unter „Integration“ bzw. inwiefern ist dieser Begriff anzupassen an Art und Schweregrad einer Beeinträchtigung?
Grundsätzlich hat das Konzept der Integration nichts mit der Art oder dem Schweregrad einer Beeinträchtigung zu tun, es ist unabhängig von Behinderung. Integration bedeutet für alle Menschen die Befriedigung bestimmter sozialer Bedürfnisse sowie die Ausübung bestimmter sozialer Interessen. Letztere sind bei allen Menschen unterschiedlich ausgebildet. Schwerst behinderte Menschen beispielsweise haben oft nicht die kognitiven Möglichkeiten, komplexere Interessen auszubilden, wohl aber haben sie Bedürfnisse. Zudem sind auch die Möglichkeiten der Menschen aus unterschiedlichen Gründen sehr verschieden. Behinderten Menschen fehlt es beispielsweise oft an Ressourcen, am Zugang zu Gebäuden, Technologien usw. Das erschwert ihre Integration. Die Integration von Menschen unterscheidet sich also erst in der lebensweltlichen Anwendung dieses Konzeptes.
Doch welche Unterschiede in der lebensweltlichen Anwendung des Konzeptes Integration sind gerechtfertigt? Analog wie in der Medizin, wo man das Ausschöpfen aller Möglichkeiten fordern könnte (dies aber aus Kostengründen faktisch nicht tut), könnte man auch im Bereich Integration enorme (finanzielle) Ressourcen einfordern. So könnte man beispielsweise die Eingliederung sämtlicher behinderter junger Menschen in die Regelschulen fordern und in jeder Klasse die entsprechenden Fachkräfte bereitstellen. Wäre ein solcher Schritt moralisch gefordert, auch wenn dies grosse finanzielle Konsequenzen hat?
Diesbezüglich gibt es einigen Klärungsbedarf. Erstens ist die Forderung nach Integration oft keine „übertriebene“ Forderung. Gewiss ist Integration auch mit Ressourcen verbunden, und oft auch mit der Änderung bestimmter Strukturen, was sehr weitgehend sein kann. Aber wenn man diese Forderungen sofort als unangemessen ablehnt, übersieht man, dass es sich in vielen Fällen um ganz grundlegende, wichtige Forderungen nach Zugang handelt, die sogenannt nicht behinderte Menschen selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen und die auch zum Konsens einer demokratischen Gesellschaft gehören. Das Recht beispielsweise, politisch integriert zu sein, also als Staatsbürger handeln zu können, ist ein Grundrecht aller Bürger. Also sollte man dafür sorgen, dass beispielsweise auch blinde Bürger verbesserten Zugang zu Wahllokalen haben – dies nur als kleines Beispiel.
Zweitens hat man bei der Frage nach den nötigen Ressourcen meistens schwerstbehinderte Menschen vor Augen, bei denen man davon ausgeht, dass sie auch mit der besten Förderung beispielsweise nicht lesen lernen. Darum geht es aber lebensweltlich kaum. Sonderpädagogisch Tätige können in Zusammenarbeit mit weiteren Fachleuten und Angehörigen meistens gut abschätzen, was in den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen liegt und was nicht. Es wäre aber fatal, würde man schwerstbehinderten Menschen basale Integrationsmöglichkeiten nicht ermöglichen, weil sie etwa nicht lesen lernen können. Aus der Unterstellung, alle Ressourcen zu wollen, hätte man dann sozusagen legitimiert, ihnen gar keine mehr zu geben. Gewiss beinhaltet eine Abwägung von Ressourcen verschiedene Gesichtspunkte und die Ressourcen für behinderte Menschen müssen gegen andere mögliche Verteilungen abgewogen werden. Da es aber oft um ganz grundlegende Bedürfnisse von Menschen geht und nicht um teure Vorlieben, hat man meines Erachtens gute Argumente, viel in das Wohlergehen behinderter Menschen zu investieren.
Drittens ist schliesslich oft gar nicht erwiesen, wie teuer Integrationsmassnahmen wirklich sind. Ein Sonderschulplatz beispielsweise kostet jährlich über 40'000 Franken, ein Vielfaches eines Regelschulplatzes. Und ganz generell kostet der soziale Ausschluss respektive seine sozialen Folgen – Einsamkeit, soziale, psychische und körperliche Probleme – die Gesellschaft oft mehr als Bemühungen um Integration der betroffenen Menschen oder Gruppen.
Wie sieht die Erfolgsbilanz der bisherigen Integrationsbemühungen aus?
Sie ist gemischt, es gibt positive und negative Entwicklungen. Vom Grundsatz her ist es zu begrüssen, dass Menschen mit Behinderung bestimmte Rechte betreffend Integration haben, die in der Schweiz beispielsweise im BehiG (Behindertengleichstellungsgesetz) festgelegt sind. So soll man bei einem behinderten Kind nicht von vornherein davon ausgehen, dass es in eine Sonderschule muss. Vielmehr muss man die Situation des betroffenen Individuums genau unter die Lupe nehmen und man muss einen begründeten Entscheid darüber treffen, ob das Wohlergehen dieses Kindes oder Jugendlichen in einer Regelklasse oder einer Sonderschule am besten unterstützt werden kann. Separation oder Exklusion wird also begründungsbedürftig – nicht mehr die Integration. Es zeigt sich aber auch, dass die soziale Kohäsion in der Gesellschaft eher abnimmt, dass die Solidarität mit behinderten Menschen eher schwach ist. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in den Verschärfungen, die in der neusten IV-Revision geplant sind. Auch im schulischen Kontext deutet vieles auf eine Ernüchterung hin. Man hat da wohl ideologisch zu überfrachtet argumentiert und agiert. Integration löst nicht alle Probleme, nicht alle Kinder können in der Regelschule reüssieren. Und es gibt auch Kinder und Jugendliche, die Regelklassen an den Rand oder gar zum Kippen bringen. Hier einfach Integration zu fordern, ohne die Möglichkeiten der Klasse zu beachten, ist blauäugig und schadet der Integration. Diese funktioniert nur, wenn immer wieder zwischen Allgemeinem und Besonderem vermittelt wird, wenn das Verbindende und Gemeinsame noch gesehen werden kann und wenn auch genügend Ressourcen und die richtigen Strukturen da sind, das zu vertiefen.
Wie beurteilen Sie generell den „ethischen Tiefgang“ der Integrationsdebatte innerhalb der Sonderpädagogik – aber auch generell in der Gesellschaft?
Ethik ist nur ein Teilbereich in der Sonderpädagogik und nicht jeder Sonderpädagoge kann und soll sich kompetent zu ethischen Fragen äussern. Zwar hat jeder sonderpädagogisch Tätige bestimmte ethische Motive und ist auch ausgebildet, sein Handeln zu hinterfragen, er ist damit aber – wie der Rest der Bevölkerung übrigens auch – nicht automatisch fähig, eine hochstehende ethische Diskussion zu verstehen und gestalten zu können. Es dürfte nur wenige Experten geben, die „ethisch tiefgründig“ zu Fragen der Integration diskutieren. Was ich aber dennoch kritisiere, ist die fehlende Einsicht vieler in der Sonderpädagogik Tätiger, wonach ihr Handeln und ihre Klientel ethische Fragen auslöst, die man nicht einfach nur ideologisch abwenden oder als rein rhetorisch hinstellen kann. Allein schon wegen Ressourcenknappheit müssen auch sonderpädagogische Mittel gegenüber Dritten begründen werden. In der Gesellschaft wiederum stelle ich fest, dass man zwar die grundlegenden Anliegen behinderter Menschen teilt – niemand ist gegen Integration –, dann aber Vorurteilen und versteckter Diskriminierung erliegt. Dies geschieht beispielsweise, indem man behinderte Menschen als inkompetent darstellt, ihnen andere Bedürfnisse oder Wünsche unterstellt oder indem man generell eine karitativ-mitleidige Art ihnen gegenüber an den Tag legt. Oft fällt den Menschen auch nicht auf, dass sie diese Haltung an den Tag legen, das heisst, sie sehen auch nicht, dass sie diese unreflektierten Annahmen und Vorurteile in Einzelfällen überprüfen sollten. Daher ist es schwierig, dagegen anzukämpfen, denn die Menschen sind sich ihrer Einstellungen oft selbst nicht bewusst.
Wenn man sich an die Singer-Debatte zurückerinnert, so haben Exponenten der Heilpädagogik damals scharf und apodiktisch auf die Thesen des Ethikers reagiert, aber ohne – so scheint es – sich wirklich mit ihm auseinanderzusetzen. Wäre das heute auch noch so?
Ich teile die Auffassung, dass damals die Exponenten der Heilpädagogik die Thesen von Singer beschimpft, sich aber nicht damit auseinandergesetzt haben. Die Fehde wurde auf einer persönlichen Ebene geführt, auf der inhaltlichen Ebene aber meinte man fatalerweise, nicht antworten zu müssen. Ich befürchte auch, dass viele Sonderpädagogen diesbezüglich in der Zwischenzeit wenig gelernt haben. Es gibt aber glücklicherweise auch Ausnahmen. So gibt es einen Kreis von Sonderpädagogen und Ethikern, die ernsthaft an der Diskussion von kritischen Fragen interessiert sind, die im Zusammenhang mit Behinderung entstehen. Ein gutes Beispiel, wie man es anders machen kann, war eine Konferenz in New York zum Thema „Geistige Behinderung und die Herausforderung für die Philosophie“, die ich vor zwei Jahren besuchte. Dort haben sich die Leute nach dem Referat Peter Singers in einer Schlange angestellt und sein Referat gekontert, ohne fundamentalistisch-ideologisch oder rein emotional zu argumentieren. Im Publikum waren zudem Spitzenvertreter der zeitgenössischen Moralphilosophie versammelt, wie etwa Martha Nussbaum oder Ian Hacking, die Behinderung als ein spannendes Thema für sich entdeckt haben. Dies zeigt auch, dass es philosophische Gegenentwürfe zu Singers Ansatz gibt, die für die Sonderpädagogik gewinnbringend sind.
Welchen Stellenwert hat Ethik in der Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen?
Das kann ich zu wenig beurteilen. Grundsätzlich ist die Ethik disziplinär in der Allgemeinen Sonderpädagogik angesiedelt – zusammen mit den historischen und theoretischen Fragen. Da die Allgemeine Sonderpädagogik an den heutigen Universitäten einen schweren Stand hat und viele Lehrstühle nicht mehr ersetzt werden, hat entsprechend auch die Ethik der Sonderpädagogik einen schweren Stand. Angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen bin ich aber zuversichtlich, dass Ethik in der Berufsausbildung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen einen hohen Stellenwert erhalten wird.
Was sind Ihrer Ansicht nach die zentralen ethischen Herausforderungen, denen sich die Heilpädagogik künftig stellen muss?
Wir sind mit zahlreichen, sehr unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Es gilt zum einen, zentrale philosophische Konzepte auf ihre sonderpädagogischen Konsequenzen hin zu befragen – also Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung, Gleichheit, Gesundheit, Krankheit oder das gute Leben. Hier kann meines Erachtens auch die Philosophie etwas von der Sonderpädagogik lernen, denn Behinderung als Dimension menschlichen Seins respektive Möglichkeit menschlicher Existenz fordert viele philosophische Ansätze heraus. Zum anderen muss die Sonderpädagogik anerkennen, dass sie differenziertere Antworten zu ihren eignen ethischen Fragen bereithalten muss als beispielsweise die relativ pauschalen Verunglimpfungen während der sogenannten Singer-Debatte. Nur so wird ihr Wissen auch von der Ethik ernst genommen und es kann ein Dialog über die Wissenschaftsgrenzen hinweg aufgenommen werden. Denn die Herausforderungen, beispielsweise Fragen der Integration, erfordern verstärkt interdisziplinäre Zugänge.
Um zurück zur Ausgangsfrage zu kommen: Haben behinderte Menschen ein Recht auf Integration?
Ja, das haben sie – allerdings nur auf Nicht-Exklusion in Form von Nicht-Diskriminierung, auf Integration in die Gesellschaft und auf die Ermöglichungsbedingungen für gemeinschaftliche Integration. Ich gehe in meiner Arbeit von einer Sphäre gemeinschaftlicher und einer Sphäre gesellschaftlicher Inklusion aus. Da der Gegenstand eines moralischen Rechts drei Bedingungen unterliegt – er muss erzwingbar sein, er muss erfüllbar sein und er muss ein wichtiges Gut abdecken –, kommt Integration in der Gemeinschaft an ihre Grenzen. Gemeinschaften haben Assoziationsfreiheit und können daher nicht gezwungen werden, jemanden zu integrieren, sei er nun behindert oder nicht. Zudem wäre mit einer solchen Form von Integration oft auch das zentrale Element einer gemeinschaftlichen Integration verletzt, nämlich die Freiwilligkeit. Das sieht man am deutlichsten bei Freundschaften. Ist jemand nur mein Freund, weil er gezwungen wird, ist das keine richtige Freundschaft. Da aber gerade gemeinschaftliche Integration die wichtige Form von Integration ist – jeder von uns denkt diesbezüglich zuerst an Familie, Freunde oder konkrete Gruppen –, schafft ihre Abwesenheit oft problematische Lebenssituationen. Gerade behinderten Menschen fehlen oft genau diese Bezüge. Hier kommen nicht Rechte, sondern Solidarität ins Spiel. Und es ist eine schwierige Herausforderung, diese gesellschaftlich und gemeinschaftlich zu fördern, so dass sich Menschen freiwillig und mit guten Absichten einander zuwenden.