Gesundheitspolitik: Wie viel Prävention ist gerechtfertigt?
Im Zug der sich verschärfenden Kostenproblematik im Gesundheitswesen ist Prävention vorab in den Industrieländern zu einem Hoffnungsträger avanciert. Statt Krankheiten teuer zu therapieren, will man das Risiko ihres Auftretens vermindern – ein in dieser Formulierung unbestrittenes Ziel. Doch Prävention muss auch unter politischen und ökonomischen Aspekten betrachtet werden. „Thema im Fokus“ beleuchtet die verschiedenen Facetten des Präventionsbegriffs und gibt einen skizzenhaften Überblick über die Neuregelung von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz.
Der Begriff der „Heilkunst“ umfasste immer auch das Bemühen, Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. In der traditionellen chinesischen Gesellschaft sollen sogar Ärzte nur dann bezahlt worden sein, wenn ihre Patienten gesund geblieben sind. Inwieweit dies tatsächlich umgesetzt worden war, sei dahin gestellt. Es zeigen sich heute aber deutliche Anzeichen dafür, der Prävention – oder allgemeiner der Gesundheitsförderung – in der Gesundheitspolitik einen grösseren Stellenwert geben zu wollen. Zumindest die entsprechenden Erklärungen von Gesundheitspolitikern und Verwaltungen lassen diese Absicht erkennen. So ist in der Schweiz derzeit das Projekt „Neuregelung Prävention und Gesundheitsförderung“ am Laufen, das untenstehend näher beschrieben wird. Auch die deutsche Regierung will diesbezüglich einen „Paradigmenwechsel“ einleiten und Prävention zu einer vierten Säule der deutschen Gesundheitspolitik ausbauen.
Definitionen und ihre (politischen) Grenzen
Doch was genau ist Prävention? Der Blick in einschlägige Lexika zeigt eine offenbar recht einheitliche Definition, die sich auch in der aktuellen Fachliteratur niederschlägt (siehe Literaturhinweise). Demnach umfasst „Gesundheitsförderung“ in den Worten des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) die Stärkung aller individuellen und kollektiven Ressourcen, die für den Erhalt und die Förderung der Gesundheit relevant sind, ohne Fokussierung auf eine bestimmte Krankheit. „Prävention“ ist dann enger gefasst als das Bündel von Zielen, Strategien und Massnahmen zu verstehen, das auf eine Verminderung des Risikos der Entstehung einer bestimmten Krankheit ausgerichtet ist. Prävention ist als problemspezifisch zu verstehen, wobei in der Fachliteratur drei verschiedene Stadien von Prävention unterschieden werden. Diese Idee von Stadien orientiert sich an einem Konzept von Krankheit, bei dem diese als Resultat einer ganzen Kausalkette verstanden wird. Demnach zielt Primärprävention direkt auf die Ursachen einer Krankheit. Sekundärprävention kommt zum Zug, wenn die zu einer Krankheit führende Kausalkette bereits begonnen hat. Sie soll unterbrochen werden, bevor weitere Schäden eintreten. Tertiärprävention schliesslich meint die Prävention von Folgestörungen bestehender Krankheiten. Im Alltag und politischen Sprachgebrauch meint „Prävention“ meistens die Primärprävention. Darunter fallen sowohl die Verhütung von Unfällen wie auch jene von Krankheiten.
Diese Definition von Prävention darf aber nicht unabhängig von ihren kulturhistorischen Ursprüngen und politischen Implikationen gesehen werden (vgl. Kommentar von Sigrid Stöckel). So haben etwa im 19. Jahrhundert eine Reihe bedeutender Ärzte (z.B. Philipp Semmelweis, Rudolf Virchow und Robert Koch) auf gesellschaftliche Ursachen von Krankheiten hingewiesen und damit deutlich gemacht, dass der Präventionsgedanke in den westlichen Industrieländern von politischen Implikationen nicht losgelöst werden kann. In politischer Hinsicht lassen sich in der heutigen Debatte um Prävention (mindestens) drei verschiedene Standpunkte unterscheiden. So kann Prävention primär als ein kollektives Problem angesehen werden, deren Ziele politisch bestimmt und deren Massnahmen durch umfangreiche, meist staatliche Programme umgesetzt werden. Dieses Präventionskonzept dürfte letztlich in den Sozialutopien der frühen Neuzeit wurzeln und findet deutliche Ausprägungen in sozialistischen Gesellschaftsentwürfen. Dieser Gedanke geht über den klassischen Gesundheitsschutz – beispielsweise Massnahmen bei Epidemien – hinaus, der immer schon als ein kollektives bzw. staatlich anzugehendes Projekt verstanden wurde. Die dem politischen Liberalismus nahe stehende Interpretation von Prävention wiederum betont die unterschiedlichen Präferenzen der Menschen hinsichtlich der Zieldefinition von Prävention. Hier wird Prävention primär als eine Frage der richtigen Anreize und des Informierens über gesundheitliche Zusammenhänge angesehen. Im Zuge der zunehmenden Bedeutung ökonomischer Aspekte im Gesundheitswesen wird Prävention schliesslich auch als ein betriebswirtschaftliches Problem der einzelnen Krankenkassen angesehen. Hier stellt sich die Frage, ob es sich für eine Kasse lohnt, ihren Kunden bestimmte Beratungs-, Test- und Therapieleistungen anzubieten, damit die Krankheitskosten gesenkt werden können.
Vom ökonomischen Nutzen der Prävention
Die ökonomische Perspektive dominiert die heutige Debatte um Prävention – was insofern erstaunlich ist, weil ökonomische Analysen im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention weit weniger zahlreich sind als Studien zur Wirtschaftlichkeit der kurativen Medizin. Erst in jüngster Zeit findet sich eine deutliche Zunahme in der Zahl solcher Studien, wobei diese vorab aus dem angelsächsischen Raum stammen, wo die sozioökonomische Bewertung von Massnahmen im Bereich Prävention eine jahrelange Tradition hat. Am besten untersucht sind präventive Massnahmen im Bereich Tabak, Bewegungsförderung und betriebliche Gesundheitsförderung. Eine einheitliche Vorgehensmethodik fehlt aber offenbar, was die Studien schwer untereinander vergleichbar macht.
Die Beurteilung des ökonomischen Nutzens von Prävention ist aus einer Reihe von Gründen schwierig. So besteht eine grosse Zeitspanne (Latenz) und eine oft sehr schwer nachzuweisende Kausalität zwischen Massnahme und Wirkung. Weiter ist das gewünschte Ereignis ein „Nicht-Ereignis“ (das Verhindern einer Krankheit), das prinzipiell schwer mess- und bewertbar ist – insbesondere, wenn der Nutzen monetär erfasst werden soll. Meist ist schliesslich auch der Kostenvergleich bei konkurrierenden Massnahmen kaum berücksichtigt worden – also etwa die Frage, ob in einem Drittweltland die beschränkten Mittel für Prävention nun besser für ein Impfprogramm oder ein HIV-Aufklärungsprogramm ausgegeben werden sollen.
Trotz dieser Probleme gibt es / findet man eine Reihe von Studien, welche die Kostenwirksamkeit von Präventionsprogrammen belegen. Am deutlichsten zeigt sich das bei Impfprogrammen, bei Vorsorgeuntersuchungen im Bereich Bluthochdruck und Diabetes, sowie bei Präventionskampagnen im Bereich Tabak und Alkohol. Kritischer hingegen werden die heute schon weit verbreiteten medizinischen „Check-up-Untersuchungen“ beurteilt. Umstritten sind beispielsweise die Mammographie bei der Brustkrebsprävention bei Frauen und die Prostatakrebs-Untersuchungen bei Männern. Trotzdem hat sich der medizinische „Check-up“ zu einem wahren Massenphänomen entwickelt, wie insbesondere Vertreter von Privatkliniken bestätigen. So finden sich ganze Pakete wie der für ab 2'500 Franken angebotene „Executive Check-up“, der auch Untersuchungen mit teuren Computertomographen umfasst.
Präventionsbemühungen in der Schweiz
Die Schweiz mit ihrem gut ausgebauten Gesundheitswesen gibt recht wenig für Präventionsprogramme aus. Gemäss den verfügbaren Daten entsprechen die der Prävention zurechenbaren Kosten mit 1.052 Milliarden Franken im Jahr 2002 nur knapp 2.2 Prozent der Gesamtaufwendungen (48 Milliarden Franken). 1995 betrug der Anteil noch knapp 2.6 Prozent, so dass also die Erhöhung der Aufwendungen für Prävention mit der Kostensteigerung im Gesundheitswesen nicht Schritt halten konnte. Massnahmen für die allgemeine Gesundheitsförderung werden durch die Statistik allerdings nicht erfasst, doch die Schätzung dafür erreicht für 2002 lediglich 20 Millionen Franken und kann demnach vernachlässigt werden. Wie genau die Zahlen im Bereich Prävention sind, ist aber unklar. So werden für die Erhebung der Zahlen Bemessungsgrundlagen aus den 1980er Jahren verwendet, obwohl sich der Präventionsbegriff im Laufe der Zeit gewandelt hat. Weiter werden die Zahlen aus den Angaben der einzelnen Gemeinden aggregiert, wobei aber nicht sicher ist, ob die Zuordnung der einzelnen Kostenstellen immer gleich ist. Hingegen lässt sich bei den politisch definierten Beträgen für Prävention – im Wesentlichen der Präventionskredit für das BAG – zeigen, dass die Aufwendungen gesunken sind. Die gesetzlich festgelegten Aufwendungen für die Unfallprävention hingegen sind tendenziell gestiegen.
Trotz der insgesamt tendenziell sinkenden Aufwendungen, ist das gesetzgeberische Umfeld für die Prävention beeindruckend. Auf Bundesebene finden sich in 15 Gesetzen Grundlagen für Prävention und Gesundheitsförderung. Rund ein Fünftel der Präventionsausgaben werden vom Bund getragen. Auf kantonaler Ebene, von welcher ein weiteres Fünftel der Finanzmittel für Prävention stammt, gibt es keine eigentlichen Gesetze für diese Bereiche, hingegen aber zahlreiche Bestimmungen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention, obgleich der Begriff „Prävention“ kaum vorkommt. Die restlichen Finanzierungsquellen sind private Organisationen, die ebenfalls rund ein Fünftel beisteuern, sowie die privaten Haushalte, die Sozialversicherungen und die Gemeinden. Pro Kopf der Wohnbevölkerung werden 143 Franken pro Jahr für Prävention ausgegeben.
Das meiste Geld für Prävention fliesst in den Bereich Alkohol, Tabak und Drogenmissbrauch, gefolgt von der Schulgesundheit, der Lebensmittelkontrolle, der Prävention von Berufskrankheiten und -unfällen, sowie der Prävention von Infektionskrankheiten inkl. HIV (die Zahlen hierfür stammen allerdings aus dem Jahr 2000). Einige Schweizer Präventionsprogramme erregten auch internationales Aufsehen, so die Aids- und Drogenprävention des Bundes. Dennoch sind auf Bundesebene Schwächen diagnostiziert worden. So seien Prävention und Gesundheitsförderung weder in der Gesundheitspolitik noch im Gesundheitssystem konzeptionell, politisch, organisatorisch und rechtlich ausreichend verankert. Das Eidgenössische Departement des Inneren hat das BAG deshalb im Herbst 2004 damit beauftragt, im Hinblick auf ein mögliches Präventionsgesetzes die aktuellen gesetzlichen Regelungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. So entstand das Projekt „Neuregelung Prävention und Gesundheitsförderung“. Eine im September 2005 eingesetzte Fachkommission erarbeitete bisher „Visionen und Thesen zur Neuregelung der Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz“. Diese beinhalten insbesondere:
- Eine rechtliche Gleichstellung der Prävention gegenüber den anderen Bereichen Behandlung, Pflege und Rehabilitation durch die Ausweitung der bestehenden gesetzlichen Grundlagen.
- Die Forderung nach einer Ausweitung des Spektrums an staatlichen Präventionsmassnahmen.
- Die Forderung nach einer klarer geregelten Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren im Bereich Prävention.
- Die Definition von Gesundheitszielen durch „partizipative Prozesse“.
- Die Verbesserung der Transparenz in der Finanzierung von Präventionsprogrammen.
Diesen ehrgeizigen allgemeinen Zielen folgte ein detaillierter Bericht, der aber noch nicht veröffentlicht worden ist. Die Veröffentlichung soll erst dann erfolgen, nachdem der zuständige Bundesrat Pascal Couchepin voraussichtlich Ende September über das weitere Vorgehen entschieden hat. Angesichts der vorgängig genannten politischen Implikationen des Präventionsbegriffs dürften hier durchaus kontroverse Debatten zu erwarten sein.