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Ernährung – Grundrecht oder verhandelbare therapeutische Massnahme?

Es ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache, dass die Aufnahme von Nahrung eine existenzielle Bedingung des menschlichen Lebens ist. Das Thema Essen ist aber auch angereichert mit kulturellen Vorstellungen und Traditionen. In medizinischer Hinsicht wiederum bilden „richtige Ernährung“ als Voraussetzung für Gesundheit und „Fehlernährung“ als Ursache von Krankheit breit diskutierte Begriffspaare. Im Kontext der künstlichen Ernährung tritt schliesslich die Frage auf, ab wann und warum Ernährung als therapeutische Massnahme zu gelten hat, die gegebenenfalls abgebrochen werden kann.

Es gibt wohl nur wenige Menschen, die Essen als Last und nicht als Lust empfinden. Hunger gehörte über viele Jahrtausende zu einer der Geisseln der Menschheit und ist auch heute noch in so mancher Weltregion ein grosses Problem. Mit Nahrung verbinden sich zudem vielfältige Vorstellungen von Wohlstand und Gesundheit – sie ist sowohl von existenzieller als auch von sozialer Bedeutung. Im medizinischen Kontext stellt vor allem die Fehlernährung ein breit diskutiertes Problem dar – man denke etwa an die in den Industrieländern grassierende Fettleibigkeit und den damit verbundenen gravierenden medizinischen Problemen wie Typ-2-Diabetes. Fehlende Nährstoffe wiederum verursachen in so manchen Entwicklungsländern schwere Gesundheitsprobleme – ein Beispiel ist der Vitamin-A-Mangel, der als eines der weltweit wichtigsten Ernährungsprobleme angesehen wird und zu Erblindung führen kann. Hierbei handelt es sich in erster Linie um sozialethische Probleme. Nachfolgend soll hingegen ein individualethischer Aspekt besonders beleuchtet werden: die (künstliche) Ernährung im klinischen Kontext und die damit verbundenen Fragen einer „Ernährungsautonomie“.

Ernährung und Autonomie

Nahrungsaufnahme ist kulturell reich befrachtet und damit auch Gegenstand der eigenen Persönlichkeitsbildung. Spezifische Ernährungsgewohnheiten können Ausdruck bewusst gewählter Lebenshaltungen (z.B. Vegetarismus), sozialer Umstände (z.B. Fettleibigkeit in unterprivilegierten Schichten) oder auch psychischer Probleme (Anorexie) sein. Die Frage, was und ob man überhaupt isst, kann damit – muss aber nicht – Ergebnis der Wahrnehmung eigener Autonomie sein. Eine extreme Form davon ist der Hungerstreik – die öffentlich inszenierte Verweigerung der Nahrungsaufnahme zur Erreichung bestimmter, meist politischer Ziele. Bei alten Menschen wiederum findet sich nicht selten ein mehr oder weniger bewusst entschiedenes Einstellen der Nahrungsaufnahme als Ausdruck eines schwindenden Lebenswillens (Körner et al 2004). Im klinischen Kontext schliesslich kann sich die Frage stellen, ob eine künstliche Ernährung abgebrochen werden darf. Ein diesbezüglich prominent diskutiertes Beispiel ist der Fall von Terri Schiavo, einer Amerikanerin, die eine schwere Gehirnschädigung erlitten hatte und sich infolge dieser von 1990 bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 im Wachkoma befand. Bei ihr wurde die künstliche Ernährung mehrfach abgebrochen und wieder aufgenommen, bis schliesslich ein Gerichtsbeschluss die endgültige Einstellung der künstlichen Ernährung erwirkte. Der Fall hat nicht nur in den USA zu einer intensiven Diskussion über die Zulässigkeit künstlicher Ernährung geführt (siehe z.B. Casarett et al 2005).

Der Fall Schiavo – so spektakulär er auch war – beleuchtet nicht das Hautproblem, das mit dem Thema künstliche Ernährung im klinischen Kontext verbunden ist. Vielmehr hat sich erst in den letzten Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Mangelernährung im Spital ein wichtiges Problem ist, das konsequent angegangen werden muss (Ballmer et al 2001). Hierbei geht es vorab um die so genannte Protein-Energie-Malnutrition (PEM) – ein Krankheitsbild mit einer Prävalenz von 20 bis 60 Prozent in Spitälern. Die Folgen von PEM sind gravierend, zumal Mortalität und Morbidität bei mangelernährten Patientinnen und Patienten stark gehäuft sind. Zudem steigt damit der Verbrauch an medikamentösen, pflegerischen und ärztlichen Ressourcen stark an, so dass Ballmer et al vermuten, Mangelernährung könnte einer der wichtigsten versteckten Gründe für die Kostensteigerung im Gesundheitswesen sein.

Formen der künstlichen Ernährung

Die Bedeutung der fachgerechten Ernährung für Patientinnen und Patienten im Spital wird heute allerdings zunehmend anerkannt und entsprechend umgesetzt. Es lassen sich mehrere Stufen von Ernährung in einer Klinik unterscheiden: Die erste Stufe ist sicherlich die „normale“ Ernährung unter Berücksichtigung krankheitsangepasster Diäten. In einer zweiten Stufe können dieser Ernährung spezifische, industriell gefertigte Ergänzungsstoffe beigefügt werden. In einer dritten Stufe können die Nährstoffe direkt mittels einer Sonde in den Verdauungstrakt eingebracht werden – man spricht von enteraler Ernährung (siehe Haller et al 2003). Hinsichtlich der Platzierung der Sonde werden drei Formen unterschieden: Magensonden (der Zugang erfolgt nasogastral – also via Nase und Speiseröhre), Sonden im Zwölffingerdarm (Duodenalsonde) und Sonden im Dünndarm (Jejunalsonde). In den letzten beiden Fällen erfolgt der Zugang durch eine endoskopische Operation. Viertens schliesslich können die Nährstoffe intravenös zugeführt werden – die parenterale Ernährung (siehe Imoberdorf et al 2003).

„Künstliche“ Ernährung zeichnet sich folglich durch zwei Aspekte aus (Körner et al 2004): Erstens durch die Verwendung industriell gefertigter Nahrungsmittel in für bestimmte therapeutische Ziele definierter Zusammensetzung und Zubereitungsform. Zweitens durch die Verwendung besonderer Zugangswege (Sonde oder intravenös). Insofern sind die Stufen drei und vier klare Fälle einer künstlichen Ernährung, während Stufe zwei eine (Art) Mischform darstellt. Vorteile und Risiken der verschiedenen Formen künstlicher Ernährung sind heute gut untersucht. Generell zeigt sich, dass eine enterale Ernährung einer parentalen Ernährung wenn immer möglich vorzuziehen ist, weil letztere signifikant häufiger zu Komplikationen führt.

Ernährung als Therapie

Künstliche Ernährung kann heutzutage einem Patienten oder einer Patientin dauerhaft appliziert werden – es stellt sich demnach die Frage, wie ein Abbruch der künstlichen Ernährung einzuschätzen ist. Hier gerät man in das Spannungsfeld „Ernährung als Existenzbedingung versus Ernährung als Therapie“, welches das eigentliche ethische Problem der künstlichen Ernährung umfasst. Hierbei entwickelte sich in jüngster Zeit eine differenzierte Sichtweise, wonach die gewohnte Ernährungsweise als Grundrecht zu gelten habe, während jede Form von Ernährungsergänzung oder -substitution als therapeutische Massnahme zu werten ist (Baumann-Hölzle et al 2006).

Es lassen sich dabei drei Aspekte identifizieren, welche den therapeutischen Charakter einer künstlichen Ernährung auszeichnen (Casarett et al 2005): Erstens erfolgt die Intervention als Folge einer medizinischen Diagnose des Mangels von bestimmten Kernnährstoffen und mittels eines medizinischen, durch Fachpersonen durchgeführten Eingriffs (z.B. Setzen der Sonde). Zweitens ist künstliche Ernährung ein Eingriff mit (mehr oder weniger bekannten) Nutzen und Risiken, sowie (unangenehmen) Nebenwirkungen – alles Faktoren, die vor dem Aufnehmen einer künstlichen Ernährung berücksichtigt werden müssen. Drittens schliesslich gilt künstliche Ernährung nicht als Intervention mit dem Zweck, das Wohlbefinden des Patienten zu fördern. Im Rahmen einer Palliativbehandlung beispielsweise können auftretende Hunger- und Durstgefühle meist ohne künstliche Ernährung gelindert werden. Insgesamt hat also die künstliche Ernährung in einem klinischen Kontext eine klar medizinische Ausrichtung mit dem Ziel, das langfristige Überleben und die Genesung des Patienten zu sichern. So gesehen lässt sich ein allfälliger Abbruch der künstlichen Ernährung gleich beurteilen wie der Abbruch anderer therapeutischer Massnahmen.

Ihre Bedeutung im Geschäft mit der Gesundheit schliesslich verleiht der künstlichen Ernährung ebenfalls den Status einer medizinischen Intervention. Der Bereich “medizinische Ernährung“ umfasst in erster Linie die Herstellung der verschiedenen Nährstoffe, welche bei der künstlichen Ernährung zum Einsatz kommen. Das Marktvolumen wird auf rund drei Milliarden Euro geschätzt (2003), wobei vorab folgende Unternehmen in diesem Bereich aktiv sind: die amerikanische Unternehmen Abbott/Ross, Baxter und Hospira (eine Abspaltung von Abbott), die deutschen Unternehmen Fresenius Kabi und B. Braun, das niederländische Unternehmen Numico und die kürzlich von Nestlé übernommene Novartis Medical Nutrition. Abbott, Fresenius, Numico und neuerdings auch Nestlé gelten dabei als die „big player“, die knapp drei Viertel des Marktes abdecken. Gerade der Kauf von Novartis Medical Nutrition durch Nestlé Mitte Dezember 2006 verdeutlicht die Gewinnerwartungen in diesem Bereich. Der Kaufpreis lag bei umgerechnet drei Milliarden Franken – das 2,8-fache des Jahresumsatzes von Medical Nutrition, was von Analysten als hoher Preis angesehen wurde. Doch Nestlé erklärte damals, der Bereich „medizinische Ernährung“ habe ein grösseres Wachstumspotenzial als der traditionelle Lebensmittelmarkt. Diese (Gewinn-) Erwartungen von Nestlé im Bereich medizinischer Ernährung werden von anderen Experten durchaus geteilt, womit letztlich auch gesagt ist, dass die Ernährung in Spitälern zunehmend eine therapeutische Zielsetzung hat. Eine Beurteilung der Kostenfolge dieses Trends für das Gesundheitswesen ist jedoch schwierig, zumal ja mit einer verbesserten Ernährung primär dem Patienten und seinem Heilungsverlauf gedient ist.


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