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eHealth – die technologische Verheissung

„Telemedizin“, das „digitalisierte Spital“ oder der Datenchip unter der Haut – viele Begriffe und Konzepte umschreiben die voranschreitende Integration der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in die Medizin, was unter dem Überbegriff „eHealth“ diskutiert wird. Diese Entwicklung dürfte zu einigen grundlegenden Umwälzungen in der medizinerischen und pflegerischen Tätigkeit führen, deren Konturen langsam sichtbar werden. „Thema im Fokus“ bietet einen Überblick der laufenden Entwicklungen.

Das Schreiben von Rezepten und das manuelle Zusammenstellen der Medikamente für die Kinder des Children Hospital of Pittsburgh ist Vergangenheit. Heute karrt der Doktor einen Rollwagen mit Laptop durch die Patientenzimmer, ruft für jeden seiner jungen Patienten die aktuellen Daten – Labortests, Röntgenbilder, Ergebnisse von Tomographieuntersuchungen – auf und gibt die Rezepte direkt in das Intranet des Spitals ein. Im Arzneimittellager im Keller stellt der Roboter die Medikamente zusammen, die dann automatisch bei der zuständigen Krankenschwester landen. So funktioniert Medizin im 235 Betten umfassenden Spital, das in den vergangenen Jahren mit 2000 Computerterminals, 85 drahtlosen Intranet-Rollwagen, Software und Datenbanken ausgerüstet wurde. Neun Millionen Dollar betrugen die Kosten. Insgesamt will das Medical Center der Universität Pittsburgh eine halbe Milliarde Dollar ausgeben, um in den kommenden Jahren sämtliche 20 Krankenhäuser der Stadt und 100 Privatpraxen vollständig miteinander zu vernetzen. Und das soll sich rechnen: Die Verantwortlichen wollen mit dieser Grossinvestition in Informationstechnologie künftig rund 100 Millionen Dollar jährlich einsparen.

Wirtschaftlichkeit und Sicherheit

Diese wirtschaftliche Komponente ist eine der wesentlichen Triebfedern einer Entwicklung, welche die Medizin grundlegend reformieren dürfte. Die Informationstechnologie hat die Medizin als riesigen Markt entdeckt, wo es darum gehen wird, sensible Information lückenlos zu erfassen und verfügbar zu machen. Doch es geht nicht nur um Information: Da Fehler in Diagnosen und Behandlungen auch heute noch vielen Menschen zum Verhängnis werden – gemäss dem Institute of Medicine der National Academy of Sciences sterben allein in den USA zwischen 44'000 bis 98'000 Menschen an solchen Fehlern – will man, wo immer möglich, medizinische Handlungen mit elektronischen Supportsystemen unterlegen. Beispiele sind der Datenchip unter der Haut von Patienten, welche Verwechslungen verhindern sollen und automatisch gescannt werden können, Expertensysteme zur Ermittlung von Risiken und Überlebenswahrscheinlichkeiten in der Intensivmedizin und Robotersysteme für Alterspflege (was derzeit in Japan entwickelt wird) und chirurgische Operationen in Krisengebieten (was derzeit vom US-Militär entwickelt wird). Als Überbegriff für diese Entwicklungen wird gemeinhin „eHealth“ verwendet – gemäss der Weltgesundheitsorganisation der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie in der Medizin in den Bereichen Klinik, Ausbildung und Administration.

Sehr viele verschiedenartige Innovationen begleiten das Voranschreiten der eHealth. Der zentrale Punkt bei all diesen Aspekten ist ein Trend zur Standardisierung und einer teilweise Automatisierung aller Informationsflüsse, die im Zusammenhang mit medizinischen Handlungen auftreten: Dies kann dereinst mit der Erfassung von Patienten beginnen (z.B. ein automatisches Scannen eines implantierten Datenchips, wenn ein Unfallopfer in einen Krankenwagen geschoben wird) und von der elektronischen Bearbeitung aller medizinischer und pflegerischer Handlungen wie im oben erwähnten Beispiel begleitet werden (z.B. zur Gewinnung von Daten für Fragen der Evaluation und Rationierung). Eine solche Bearbeitung verlangt wiederum, dass die Informationsflüsse „maschinenlesbar“ werden und z.B. diagnostische Geräte (auch solche zur Dauerüberwachung wie z.B. in der Intensivmedizin) miteinander vernetzt werden und dazu geeignete Datenformate gefunden werden müssen. Diese Entwicklung wird begleitet durch den Aufbau enormer Datenbanken, welche hunderttausende kleine und kleinste Informationseinheiten (z.B. Zeitreihen von Blutwerten, ausgestellte Rezepte, wann welche Krankenschwester bestimmte Handlunge ausgeführt hat etc.) enthalten. Aus diesen lassen sich mittels Methoden des data mining Informationen gewinnen, die man sich jetzt wohl noch gar nicht so richtig vorstellen kann, aber z.B. für die Evaluation von Institutionen im Umfeld eines steigenden Kostendrucks sehr bedeutsam werden können.

Datenzugang und Überwachung

Eine erste Gruppe von Anwendungen ist bereits heute weit verbreitet und betrifft den Zugang der Patientinnen und Patienten zu medizinischen Informationen und Dienstleistungen. Hier hat bekanntlich das Internet eine bedeutsame Rolle eingenommen, was sich in den vergangenen Jahren im Aufbau von Gesundheits- und Medizinportalen manifestiert hat. Das grösste Portal der Schweiz ist Medgate (www.medgate.ch), welches medizinische Beratung über Telefon und Internet anbietet, die 24 Stunden täglich angefordert werden kann. Doch auch Patienten selbst, meist solche mit chronischen Krankheiten, organisieren sich selbst und tauschen beispielsweise in Newsgroups Informationen aus. Das Internet bietet aber auch einen Graumarkt für medizinische Informationen, Dienstleistungen und Medikamente mit all den bekannten Sicherheitsproblemen (unklare Quellen, falsche Informationen). Die offenen Kommunikationskanäle des Internets (unverschlüsselte E-Mails, Chatrooms etc.) eignen sich demnach weniger für den Austausch sensibler Information (etwa die Resultate von medizinischen Tests).

Die jetzigen und künftigen Telekommunikationsnetze können aber für weit mehr Anwendungen gebraucht werden. Ein Beispiel ist die Betreuung chronisch Kranker – etwa Patientinnen und Patienten mit Diabetes oder Herzinssufizienz. Die deutsche Taunus Betriebskrankenkasse hat dazu ein Pilotprojekt gestartet. Den Patienten werden Waagen, Blutdruckmessgeräte und EKG-Schreiber mit nach Hause gegeben. Die Geräte sind per Funk und Telefon mit einem Telemedizin-Zentrum in Düsseldorf verbunden, in dem die Daten erfasst werden. Überschreitet ein medizinischer Indikator einen kritischen Wert, wird der Patient angerufen und zum Besuch eines Arztes aufgefordert. Künftig wird es wohl Sensoren geben, welche direkt in den Körper des Patienten implantiert sind und dauernd Daten übermitteln können. Prototypen entsprechender Sonden liegen bereits vor. So hat beispielsweise die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule in Aachen eine Minisonde entwickelt, die Blutdruckwerte direkt aus der Arterie nach aussen funken kann. Künftig könnten Personen mit bestimmten medizinischen Risiken also nicht nur ein Handy mit sich herumtragen, sondern auch einen Sender, der regelmässig medizinische Daten an Zentren übermittelt, die ein kontinuierliches Monitoring des Patienten ermöglichen.

Die Gewährleistung der Datensicherheit verlangt bei solchen Anwendungen die Lösung verschiedener Probleme: Weil die Kommunikationswege offen zugänglich sind, müssen die Daten verschlüsselt werden. Zudem muss die Authentizität gewährleistet werden, d.h. man muss sicherstellen, dass Daten nicht gefälscht worden sind bzw. aus einer falschen Quelle stammen. Gerade der letzte Punkt macht es absehbar, dass implantierte Chips – wie sie beispielsweise bereits heute für die Identifikation von Hunden eingesetzt werden – über kurz oder lang auch bei Menschen Anwendung finden. Die amerikanische Firma Applied Digital Solutions hat bereits vor drei Jahren ein entsprechendes Produkt, den VeriChip, testen lassen. Im Oktober vergangenen Jahres wurde der Chip von der amerikanischen Zulassungsbehörde für den Verkauf zugelassen. Die im Chip enthaltene Information (eine Zahl) lässt sich per Scanner ablesen und ermöglicht den Zugang zu medizinisch relevanten Informationen (wie z.B. Blutgruppe). In Deutschland wiederum soll künftig die medizinische Krankengeschichte in eine elektronische Gesundheitskarte abgespeichert werden, welche künftig jeder Bürger mit sich herumtragen soll.

Die Digitalisierung sämtlicher medizinrelevanter Daten bedeutet eine enorme technologische Herausforderung, ermöglicht den Medizinfachpersonen aber auch einen online-Zugriff auf eine ungeheure Wissensbasis. Dies verlangt, dass die notwendigen Informationen, etwa für das Stellen einer Diagnose, rasch verfügbar und sicher an die richtigen Experten übermittelt werden können. Die bildgebenden Verfahren sind sicher eine wichtige Anwendungen in diesem Bereich. In der Schweiz wird im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes CoMe (Computerunterstützte und bildgeführte medizinische Interventionen, siehe Interview) untersucht, welche neuen Möglichkeiten sich hieraus für die Medizin ergeben.

Operations-Roboter?

Der Einsatz von technischen Systemen bei Operationen ist ebenfalls ein Aspekt der voranschreitenden Technisierung der Medizin. Solche Systeme werden zuweilen Roboter genannt, welche aber immer noch der Steuerung durch den Menschen unterliegen. Dies muss aber nicht unbedingt vor Ort geschehen. Solche Anwendungen der Informationstechnologie, welche die medizinische Behandlung über Distanz betreffen, fallen in das Themengebiet der „Telemedizin“. Tele-Operationen können beispielsweise in besonderen Krisenfällen zum Einsatz kommen. Die US-Armee hat kürzlich ein Forschungsprojekt gestartet, welche die Entwicklung von Operationsrobotern zum Ziel hat. Damit sollen Operationen in Kriegsgebieten möglich werden, ohne dass spezialisierte Ärzte einer besonderen Gefahr ausgesetzt werden müssen. Weiter werden vermehrt auch technische Systeme für mikrochirurgische Eingriffe entwickelt, welche die menschlichen Limiten (z.B. wegen unwillkürlichen Bewegungen der Hände) übersteigen. Diese Entwicklung hat einen grossen Einfluss auf die Ausbildung künftiger Ärzte. Vor allem im Operationssaal werden immer mehr Ärzte mit Technikern zusammenarbeiten müssen

Die Zukunft dürfte aber noch ganz andere Anwendungen bringen. Im Rahmen der computerunterstützten Biologie laufen grosse Anstrengungen zur Simulation ganzer biologischer Systeme. Denkbar ist, dass dereinst Operationen vor ihrer eigentlichen Durchführung durch das Operationsteam simuliert werden können, damit potenzielle Schwierigkeiten frühzeitig erkannt werden können. Forscher der Stanford Universität haben im Februar dieses Jahres ein System vorgestellt, das anhand von Daten aus einer Computertomographie den Ausgang von Herzoperationen voraussagen kann. Für therapeutische Interventionen wiederum könnten künftig im Körper von Patienten eigentliche „Nano-Kliniken“ implantiert werden, welche gewisse Zeichen von Erkrankung automatisch erkennen und dann für die geeignete Medikation sorgen. Israelische Forscher haben im vergangenen Sommer ein entsprechendes Konzept vorgestellt und in vitro getestet: Auf einem Chip wurden synthetische DNA-Moleküle derart gruppiert, dass bei der Anwesenheit bestimmter Moleküle im Blut ein „Algorithmus“ in Gang kommt, der zur Abgabe anderer Moleküle führt.

Diese Entwicklungen, welche noch weit weg von einer klinischen Anwendung sind, skizzieren eine Zukunft, in welcher der menschliche Körper eine weit innigere Verschmelzung mit technischen Systemen eingehen könnte als bisher: Implantierte Datenchips als „Krankenkarte“, implantierte Sensoren zur ständigen Gesundheitsüberwachung und implantierte „Therapiestationen“ zur automatischen Korrektur einer Gesundheitsgefährdung. Ob eine derart weitgehende Form von „eHealth“ aber auf Akzeptanz stossen würde, sei dahingestellt.

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