"Nervenzellen wachsen heran"
Hirnforscher Martin Schwab hat einen Wirkstoff entdeckt, der Querschnittgelähmten helfen kann. Jetzt beginnen die ersten Tests an Menschen
Seit rund zwanzig Jahren arbeitet Martin Schwab, Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Zürich, an einem Wirkstoff, der Querschnittgelähmte wieder laufen lassen soll. Er hatte einen Stoff namens Nogo entdeckt, der Nervenzellen am Wachstum hindert. Ein Antikörper gegen Nogo hingegen bringt geschädigte Nerven wieder zum Wachsen, wie Versuche mit Ratten und Primaten gezeigt haben. Nun haben in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Novartis erste Versuche mit Menschen begonnen. Die Therapie kann vorerst nur bei Patienten in Betracht gezogen werden, die frisch verletzt wurden, und deren Nervenstrang darf nicht vollständig durchgetrennt sein. Geplant ist, europaweit bis zu 250 Patienten zu behandeln.
Herr Schwab, vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass mit ihrem Antikörper gegen Nervenzellwachstum erste Versuche an Menschen gemacht werden, um Querschnittgelähmte zu heilen. Ist das nicht zu früh?
Wir arbeiteten 15 Jahre lang mit Ratten und Mäusen. Die Resultate waren derart überzeugend, dass von Seiten der Medizin wie auch von den Patientenorganisationen der Ruf laut geworden ist, Versuche an Menschen durchzuführen.
Haben Sie diese Versuche schon durchgeführt?
Die entsprechenden Versuche haben kürzlich begonnen. Hier gilt es festzuhalten, dass es klare Regeln gibt, wie in einem solchen Fall vorgegangen werden muss. Wir mussten vor den Versuchen mit den Menschen in nichtmenschlichen Primaten den Beweis erbringen, dass der Antikörper in der vorgesehenen Art und Weise wirkt, sowie zu keinen Schädigungen führt. Ersteres haben wir in Zusammenarbeit mit den Forschern um Eric Rouiller von der Universität Fribourg erbracht. Die Toxikologie wurde in einer zweijährigen Versuchsreihe durch Novartis getestet. Diese Prüfungen waren sehr wichtig, weil man ausschliessen muss, dass die Antikörper zu einem unkontrollierten Wachstum der Nervenzellen führen.
Für diese Versuche mussten also Affen gelähmt werden…?
Uns war klar, dass wir eine vollständige Querschnittlähmung der Versuchstiere, welche beim Affen die Bewegung der Hinterbeine und die Blasenkontrolle verunmöglicht hätte, vermeiden mussten. Eine Ratte kann mit einer Lähmung der Hinterläufe verhältnismässig gut leben – für einen Affen gilt das nicht. Wir haben deshalb durch einen mikrochirurgischen Eingriff im Rückenmark selektiv Nervenstränge durchtrennt und damit nur die Feinmotorik der Hand des Affen beeinträchtigt. Dadurch konnte sich der Affe weiterhin normal bewegen und am Leben seiner Gruppe teilhaben. Lediglich bestimmte Aufgaben – beispielsweise das Herausklauben einer Futterkugel mit Zeigefinger und Daumen aus einem Loch – konnte der Affe nicht durchführen. Dieses Modell erlaubt eine Überprüfung des Therapieprinzips und trägt gleichzeitig der ethischen Forderung, das Versuchstier so wenig wie möglich zu belasten, Rechnung.
Was sind die Resultate?
Der Erfolg war überwältigend. Die Heilungsraten erreichten 80 bis 100 Prozent. Wir dachten zunächst, die Verletzungen am Rückenmark seien falsch gesetzt worden. Umfangreiche Nachprüfungen zeigten aber, dass unser Therapieansatz in der Tat funktioniert hat.
Gab es Nebenwirkungen? Schliesslich könnte der Antikörper ja auch an anderen Orten des Nervensystems wirken…
In den toxikologischen Prüfungen, die von Novartis durchgeführt worden sind, konnten die entsprechenden Befürchtungen widerlegt werden. Deshalb sind wir jetzt in der ersten klinischen Versuchsphase beim Menschen.
Wann können Sie einen Querschnittsgelähmten heilen?
Den Begriff „heilen“ möchte ich vermeiden, da er zu grosse Hoffnungen weckt. Wir müssen uns das Bild einer Rückenmarkverletzung vor Augen halten: Es zeigt sich ein wahres Loch im Rückenmark, Millionen von Nervenfasern sind unterbrochen. Eine vollständige Wiederherstellung können wir kaum erreichen, grosse Funktionsverbesserungen sind jedoch möglich.
Was heisst „Funktionsverbesserung“?
Wir untersuchen komplexe Bewegungsabläufe wie das Laufen auf einer ebenen Oberfläche oder Schwimmen. Im Tierexperiment erreichten wir hier durchwegs hervorragende Resultate: 70 bis 80 Prozent der ursprünglichen Bewegungsfähigkeit wurden wiederhergestellt. Selbst beim Laufen auf einer unebenen Oberfläche oder beim Klettern auf einer Leiter waren die Resultate immer noch erstaunlich gut. Hier erreichen wir etwa die Hälfte der ursprünglichen Funktion. Diese Zahlen lassen sich aber nicht einfach so auf menschliche Patienten übertragen. Die wirklich erzielbaren Verbesserungen werden stark vom einzelnen Patienten abhängen – also vom Ort und Ausmass der Schädigung im Rückenmark. Ein Beispiel: Bei dem bekanntesten Querschnittgelähmten, dem leider verstorbenen Schauspieler Christopher Reeves, waren 1.5 Zentimeter des Rückenmarks im oberen Halsbereich geschädigt. Eine Überbrückung dieser Distanz zumindest für einen Teil der betroffenen Nervenfasern ist gemäss unseren Erfahrungen realistisch. Er hätte dann vielleicht wieder atmen und seine Schultern und seine Arme bewegen können – vielleicht aber nicht seine Hand und seine Beine. Derartige Funktionsverbesserungen halten wir für realistisch.
Was sind die nächsten Schritte?
Wenn sich in Phase eins der klinischen Versuche keine Probleme ergeben, folgt 2007 die Phase zwei, bei welcher die Antikörpertherapie an 50 bis 100 Patienten angewendet werden soll. Es wird es sich primär um vollständig gelähmte Patienten handeln, bei welchen kaum Spontanerholung stattgefunden hat. Sollten sich dann bei einer Anzahl von Patienten Verbesserungen zeigen, die spontan nicht auftreten würden, würde die Therapie in Phase drei an noch mehr Patienten getestet.
Wie lange dauert es nach einer Behandlung, bis funktionellen Verbesserungen eintreten?
In der Ratte dauerte es rund 10 Tage, bis klare Verbesserungen der Bewegungsfähigkeit feststellbar waren. Bei den Affen dauerte dies drei bis vier Wochen. Beim Menschen erwarten wir eine Dauer von ein bis zwei Monaten.
Wie muss man sich die künftige Therapie mit dem Antikörper vorstellen? Muss man eine Pille schlucken?
Nein. Es handelt sich um eine Infusion des Antikörpers über ein bis zwei Monate direkt in die Rückenmarkflüssigkeit. Diese medizinische Technik ist heutzutage glücklicherweise Routine, so dass sich hier keine weiteren Probleme stellen sollten.
Wie wichtig ist die Kooperation mit Novartis?
Sie war unabdingbar. Wir reden hier von einem Forschungsprojekt von der Grössenordnung von mindestens 50 Millionen Dollar, was den Rahmen einer rein universitären Forschung sprengen würde. Für die Primatenexperimente und die jetzt laufenden klinischen Versuchen brauchten wir ein Kilo des Antikörpers – ohne die Infrastruktur von Novartis hätte diese Menge nie produziert werden können. Allein die Herstellung des Antikörpers kostete eine sechsstellige Zahl.
Die Antikörper-Therapie dürfte also nicht ganz billig sein?
Stimmt, aber die Kostenersparnis wird sehr gross sein sollte die Therapie tatsächlich wirksam sein. Behandlung und Pflege von Querschnittgelähmten sind nicht billig. Von der Verbesserung der Lebensqualität ganz zu schweigen. Zudem dürfte die Therapie bald in weiteren Bereichen angewandt werden.
Wo sehen Sie weitere Anwendungen?
Das nächste grosse Thema ist eine Therapie zur verbesserten Rehabilitation nach einem Schlaganfall. Wir haben bereits 1998 zeigen können, dass durch die Antikörper-Therapie nicht nur geschädigte Nervenzellen wieder wachsen können, sondern auch unverletzte Nervenzellen neue Nervenfortsätze bilden, wenn sie zum Beispiel nach einem Schlaganfall ausgefallene Hirnbereiche kompensieren.
Dies würde demnach bedeuten, dass Ihre Antikörper-Therapie gewissermassen die Plastizität des Gehirns fördern könnte.
Der Begriff „Plastizität“ offenbart eine dynamische Sicht auf das Gehirn, die in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist. Dass das Gehirn die Fähigkeit der Plastizität besitzt, wusste man bereits aus der Beobachtung, dass sich das Gehirn nach Verletzungen erholen kann. Dies war nicht mehr mit der früheren Sicht der Dinge vereinbar, wonach sich das Gehirn nach der Geburt nicht mehr verändern würde.. Aber erst in den letzten zehn Jahren wurde es mit neuen bildgebenden Verfahren, möglich, den Mechanismus der Plastizität direkt zu beobachten. Wir können nun die Aktivität von Nervenzellen mit Veränderungen ihrer Struktur verknüpfen. So wurde herausgefunden, dass mindestens zehn Prozent aller Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, einer ständigen Veränderung unterliegen: sie verstärken sich, bauen sich ab oder bilden sich neu. Ich bin überzeugt, dass die Dynamik noch weit grösser ist: Das Gehirn schafft sich ständig neu.
Wie flexibel kann denn das Gehirn auf Schädigungen reagieren?
Dies hängt vom Ausmass des Schadens ab. Der Zusammenhang ist offenbar nichtlinear: Ist beispielsweise das gesamte motorische Feld einer Hirnhälfte betroffen, so sind nur geringe Verbesserungen möglich. Sind aber lediglich zwei Drittel zerstört, ist das Potential für eine Erholung gross. Mit unserer Antikörper-Therapie können wir dieses Potential verstärken. Ein Beispiel: In einem Tierversuch für den Schlaganfall unterbinden wir die Hauptarterie im Gehirn und verursachen damit einen Schlaganfall, der das motorische Feld in einer der zwei Grosshirnhälften zum Absterben bringt. Das Tier ist dann halbseitig gelähmt. Behandeln wir dann das Tier mit unseren Antikörpern, erholt sich das Tier in seinen motorischen Fähigkeiten auf ungefähr 80 Prozent, indem die intakte Hirnhälfte die Aufgabe der zerstörten Hirnhälfte übernimmt. Hier muss also eine umfassende Reorganisation der Verschaltung stattgefunden haben.
Ist es denn vorstellbar, dass Ihre Antikörpertherapie die Plastizität des Gehirns direkt beeinflussen kann, so dass beispielsweise auch höhere Denkprozesse davon betroffen werden?
Dies ist in der Tat ein Thema unserer Forschung. Wir machen derzeit Lernexperimente mit gesunden Ratten. Hier zeigt sich, dass mit Antikörper behandelte Ratten tendenziell schneller zwei nacheinander präsentierte, unterschiedliche Aufgaben lernen können als unbehandelte Ratten. Definitive Resultate haben wir aber noch nicht.
Bahnt sich hier nicht die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Anwendung Ihrer Antikörpertherapie an – etwa im Sinn einer „Verbesserung“ der Hirnleistung?
Derartiges ist keineswegs das Ziel unserer Forschung – ausschliessen können wir solche Anwendungen aber nicht. Wichtig ist aber in diesem Zusammenhang, dass bei den derzeit laufenden klinischen Studien solche möglichen psychischen Wirkungen genau beobachtet werden. Sollten die Patienten beispielsweise hyperaktiv oder depressiv werden, wären dies natürlich ernstzunehmende Warnsignale.