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Wenn der Hase dem Hirn auf die Sprünge hilft

In der Rehabilitation von Personen mit Hirnschädigungen setzt man zunehmend auf Computerspiele. Besonders profitieren Kinder und Jugendliche. Von Markus Christen

Sarah schlägt zu und der Hase geht zu Boden. Erneut wurde eine Karotte vom gierigen Zugriff des Tiers gerettet. Tierschützer muss das aber nicht empören. Der Hase existiert nur in der virtuellen Realität eines Computerspiels, das Sarah mittels zweier Datenhandschuhe steuert.

Sie erlitt vor einigen Monaten eine Hirnschädigung, welche die Bewegungsfähigkeit von Armen und Beinen schwer in Mitleidenschaft zog. Mühsam musste Sarah am Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis lernen, ihre Arme und Beine wieder zu benutzen.

Das Greifen üben

Dabei konnten ihre Therapeuten auf ein neues Tool zurückgreifen, das am Institut für Neuroinformatik (Universität/ETH Zürich) und der neurologischen Klinik des Unispitals Zürich entwickelt wurde: Ein Computerspiel, mit dem zentrale Funktionen wie das Greifen oder das Drehen des Unterarms trainiert werden können – und zwar abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten.

«Durch den Spielcharakter werden die Kinder und Jugendlichen motiviert, aktiver und häufiger zu trainieren», sagt Andreas Meyer-Heim, Kinderarzt und Leiter der Forschungsgruppe in Affoltern. Dies ist für die Neuro-Rehabilitation von grösster Bedeutung, denn «je höher die Dosis, desto besser das Resultat», so Meyer-Heim. Repetitives Üben der immergleichen Bewegung ist mühsam und langweilig. Durch das Computerspiel wird die Motivation der Patienten deutlich erhöht, wie erste Testresultate zeigen.

Das Spiel wird die klassische Ergotherapie nicht ersetzen. «Es muss zum Beispiel darauf geachtet werden, dass die Patienten im Spielfluss nicht in falsche Bewegungsmuster fallen», erläutert die Ergotherapeutin Sonja Schlegel. Andreas Meyer-Heim sieht im Computerspiel vielmehr eine Ergänzung zu bestehenden Therapien, wobei aber wichtige Neuerungen möglich werden. «Es können Gruppen von Patienten unter fachlicher Aufsicht gleichzeitig arbeiten, so dass ein spielerischer Wettbewerb entsteht und bei gleichen Personalressourcen die Therapiedosis erhöht werden kann.» Dabei lassen sich allfällige Fortschritte messen und dem Patienten unmittelbar mitteilen, was ein weiterer Motivationsfaktor sei. Mittelfristig sollen solche Geräte auch für ambulante Therapien zu Hause genutzt werden können.

Wie im Spiegelbild

Für die beteiligten Neurowissenschafter ist die ganze Sache aber nicht einfach ein Spiel. Der Ansatz basiert unter anderem auf der Theorie der sogenannten Spiegelneuronen. Das sind Nervenzellen mit einer ganz besonderen Eigenschaft: Sie werden nicht nur aktiviert, wenn wir selber eine Bewegung ausführen, sondern auch dann, wenn wir bloss beobachten, wie andere Personen diese Bewegung ausführen. Diese Nervenzellen reagieren also gewissermassen spiegelbildlich auf die Bewegungen von anderen.

Solche Neuronen haben bei der Planung und Ausführung von Bewegungen eine wichtige Rolle. «Wir vermuten, dass bei der Rehabilitation bereits die Beobachtung eines virtuellen Arms der Bewegungsfähigkeit helfen kann», sagen Kynan Eng und Daniel Kiper vom Institut für Neuroinformatik.

Das von ihnen entwickelte Spiel führt damit einen Ansatz fort, den der indische Hirnforscher Vilayanur Ramachandran bei Patienten bereits erfolgreich eingesetzt hat. Bei einem Hirnschlag beispielsweise ist oft nur eine Seite von einer Lähmung betroffen. Ramachandran setzte seine einseitig gelähmten Patienten in eine Apparatur, so dass diese das Spiegelbild des gesunden anstelle des gelähmten Arms sahen. Indem sie die Bewegungen des gesunden Arms beobachteten, konnte die Rehabilitation unterstützt werden.

Motivation steigern

Das Tool von Eng und Kiper ermöglicht es nun, diesen Therapieansatz in eine virtuelle Welt zu verlegen und mit einem Spiel anzureichern – was insbesondere die Motivation zur Nutzung dieser Therapie erhöhen dürfte.

Inwiefern sich die Therapie günstig auf das Gehirn der Patienten auswirkt, ist allerdings noch offen. In Affoltern sucht die Psychologin Karin Wick mittels bildgebender Verfahren nach allfälligen Veränderungen. Am Projekt arbeiten neben Neurowissenschaftern auch Ingenieure, Therapeuten, Ärzte und Game Designer zusammen. Letztere befinden sich an der Zürcher Hochschule der Künste, wo einer der europaweit wenigen Studienbereiche, welche im Bereich Serious Games arbeitet, zu Hause ist (siehe Kasten).

Im klinischen Alltag

Die Entwicklung dieses therapeutischen Computerspiels begann im Jahr 2005. Bisher wurde es in den Kliniken und Rehabilitationszentren von Valens, Wald und Rheinfelden sowie dem Unispital und Kinderspital Zürich an kleinen Patientengruppen getestet. «Die bisherigen Ergebnisse haben klar gezeigt, dass der Einsatz dieses Instruments im klinischen Alltag machbar ist und den Patienten Verbesserungen bringt», sagt der klinische Projektleiter Claudio Bassetti an der neurologischen Klinik. In einem nächsten Schritt wolle man nun herausfinden, in welchem Zeitfenster nach einer Hirnschädigung und bei welchen Patientengruppen die besten Resultate erzielt werden können.

In Rheinfelden beispielsweise werden Schlaganfall-Patienten behandelt. «Grundsätzlich dürfte etwa ein Drittel aller von einem Schlaganfall Betroffenen von diesem Tool profitieren», sagt die zuständige Forschungsleiterin Corina Schuster. Doch nicht alle lassen sich gleichermassen für das Spiel begeistern. «Die Motivation der Leute hängt ab von der Schwere der Beeinträchtigung und der Vertrautheit mit dem Computer», sagt sie.

Dennoch sieht sie ein grosses Potenzial in dieser Methode. Und Andreas Meyer-Heim doppelt nach: «Die Nutzung virtueller Realität wird künftig in der Rehabilitation eine wichtige Rolle einnehmen. Es ist eine grosse Chance, dass wir in der Schweiz von Anfang an vorne mit dabei sein können.»


«Serious Games» als Ergänzung für therapeutische Behandlungen

Millionen von Menschen bewegen sich täglich in den zunehmend komplexer werdenden virtuellen Welten von Computerspielen. Dabei dienen solche Spiele längst nicht nur unterhaltenden, sondern auch wissenschaftlichen Zwecken. Seit einigen Jahren werden sogenannte «Serious Games» entwickelt. Darunter versteht man etwa Spiele für das Erlernen spezifischer Wissensinhalte (Lernspiele im engeren Sinn) oder für das Training bestimmter motorischer Fähigkeiten (s. Artikel). Auch als Ergänzung für therapeutische Behandlungen, z. B. bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, werden Spiele eingesetzt.

Zentral ist dabei, dass ein «Serious Game» den Charakter eines Spiels behält – es muss also eine funktionierende Fiktion aufbauen, in welche der Spieler eintauchen kann und ein durch das Spiel vorgegebenes Ziel erreichen soll. «Der Benutzer muss seine Erfahrungen angenehm erleben und das Spiel geniessen können», so Ulrich Götz, Leiter des Studienprogramms Game Design der Zürcher Hochschule der Künste.

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