Der Kaiser braucht neue Kleider
Die Pharmabranche steht vor einem Umbruch
Von R. James Breiding und Markus Christen
Abnehmende Innovationskraft, neue Mitbewerber und der demographische Wandel lassen die Gewinnmöglichkeiten der Pharmaindustrie schrumpfen. Generika und Biotechnologie sind die Kernstrategien, um den sich anbahnenden Strukturwandel zu überleben.
Am zweiten Dezember 2006 verloren Investoren 25 Milliarden Dollar, als der weltgrösste Pharmakonzern Pfizer die Entwicklung seines Cholesterinmittels Torcetrabib abbrach. Die Serie an Fehlschlägen, neue Blockbuster mit einem Jahresumsatz von mindestens einer Milliarde Dollar auf den Markt zu bringen, reisst damit nicht ab. Im Oktober stellte AstraZeneca die Forschung an einem viel versprechenden Wirkstoff gegen Schlaganfall ein, und im November wurde die Verzögerung der US-Zulassung des Diabetes-Medikaments Galvus von Novartis bekannt.
Diese Rückschläge sind kein Zufall. Sie zeigen, dass die Pharmabranche vor einem Strukturwandel steht. Über Jahrzehnte profitierte die Pharmaindustrie von meist zweistelligen Wachstumsraten und etablierte sich als eine für Anleger profitable Branche. Ein Blick auf die Entwicklung des FTSE-Weltindex der Pharma- und Biotech-Branche über die vergangenen drei Jahre (siehe Abbildung) zeigt aber eine anhaltende Wachstumsschwäche – obgleich fast alle der heutigen Mitbewerber im Pharmamarkt behaupten, ihre Performance sei überdurchschnittlich. Diese mathematische Unmöglichkeit ist ein Symptom der Krise mit drei Kernelementen.
Abnehmende Innovationskraft
Erstens nimmt die Innovationskraft der Pharmabranche ab (siehe Abbildung). In den USA, ein für dieses Problem repräsentatives Beispiel, haben sich die Forschungskosten seit den 1990er Jahren mehr als verdoppelt – doch die Zahl neuer Wirkstoffe hat abgenommen (siehe Abbildung). Die Gewinne pro Wirkstoff haben sich zwar im gleichen Zeitraum um rund 40% erhöht - doch das zeigt das grössere Klumpenrisiko in der Branche, also die steigende Abhängigkeit von Blockbustern. So realisiert Pfizer rund ein Viertel seines Umsatzes - im Jahr 2006 voraussichtlich rund 13 Milliarden Dollar - mit einem einzigen Medikament (Lipitor). Bei allen grossen Pharmakonzerne hängen über 70 Prozent des Umsatzes von jeweils maximal zehn Produkten ab.
Die markant höheren Gewinne pro neuen Wirkstoff korrelieren dabei nicht notwendigerweise mit einem entsprechend gestiegenen Nutzen der Medikamente für die Patienten. Erinnert sei an die Kritik der ehemaligen Chefredaktorin des New England Journals of Medicine, wonach nur sieben der 78 im Jahr 2002 von der US Food and Drug Administration (FDA) neu zugelassenen Medikamenten eine Innovation darstellen würden. Selbst die als Erfolg gefeierten Wirkstoffe haben oft eine eher dürftige Leistungsbilanz. Beispielsweise das als derzeit innovativstes und gewinnträchtigstes Krebsmedikament geltende „Avastin“, verlängern das Leben der Patienten nur um wenige Monate (Indikation: Darmkrebs) und kostet dennoch rund 50’000 Dollar pro Jahr..
Derzeit werden von der Pharmaindustrie grosse Hoffnungen in die Biotechnologie gesteckt. Doch rund dreissig Jahre Forschung haben bislang erst drei unangefochtene Gewinner produziert - Amgen, Biogen Idec und Genentech - deren Jahresumsatz nur 3.8 Prozent des derzeit (2005) rund 567 Milliarden Dollar umfassenden Globalumsatzes der Pharmabranche entspricht. Zwar stammt die Zahl der neuen Wirkstoffe heute mehrheitlich aus der biotechnologischen Forschung, doch die Umsatzzahlen zeigen, dass die Biotechnologie die Wachstumsschwäche der Pharmabranche in den kommenden Jahren zwar mindert, aber nicht beheben kann.
Schwindende Finanzierungskraft
Zweitens mindert sich die Fähigkeit der Konsumenten Europas, Japans und Nordamerikas, wo die Pharmabranche derzeit 85 Prozent ihres Umsatzes generiert, die steigenden Gesundheitskosten zu tragen. Dieses Problem fundiert im demographischen Wandel, den die industrialisierte Welt erfasst hat. Dank verbesserter Ernährung und Gesundheitsversorgung können mehr Menschen ihr Potential an Lebenszeit ausschöpfen. Die Pharmabranche hat diese Entwicklung massgeblich mitgeprägt. Allein im Zeitraum 1986 bis 2000 sollen rund 40% der Erhöhung der durchschnittlichen Lebenszeit auf Medikamente zurückzuführen sein. Dies führte zu einer biologisch einzigartigen Altersverteilung, in welcher die älteren Semester zahlenmässig überwiegen. Da 75 Prozent aller Gesundheitskosten in den letzten fünf Lebensjahren ausgegeben werden, passiert dies nun in einer Zeit, in der die meisten Betroffenen nicht mehr im Erwerbsleben sind. Somit hat nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch das Gesundheitswesen ein Finanzierungsproblem.
Der dadurch verursache politische Druck wird die Gewinnmöglichkeiten der Pharmabranche in den Industrieländern beschränken. Hier gilt es insbesondere zu bedenken, dass die durchschnittlichen Medikamentenpreise im weltgrössten Pharmamarkt USA um rund die Hälfte höher sind als in Europa. Es ist naiv zu glauben, dass die US-Patienten weiterhin die Hauptfinanzierungsquelle der globalen Pharmaindustrie sein wollen. So erklärte denn auch nach dem Wahlsieg der US-Demokraten die designierte Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, die Regierung solle die Preise der Medicare-Arzneimittel aushandeln. Über dieses staatliche Gesundheitsprogramm läuft etwa die Hälfte aller in den USA verkauften Medikamente.
Zunehmende Konkurrenz
Während also in den Kernmärkten der Pharmaindustrie die Zahlungsbereitschaft ihrer Kunden abnimmt, verfügen die Emerging Markets noch nicht über eine vergleichbare Kaufkraft. Diese Gesellschaften erreichen erst langsam die wirtschaftliche Potenz, um flächendeckend am medizinischen Fortschritt teilhaben zu können. Die patentgeschützen Wirkstoffe der grossen Pharmaunternehmen sind deshalb oft zu teuer. Beispielsweise das Grippemedikament „Tamiflu“, das im Falle einer Vogelgrippe-Pandemie in Schwellen- und Entwicklungsländern zum Einsatz kommen würde, kostet eineinhalb Dollar pro Dosis. Dies ist für die Mehrzahl der mutmasslichen Konsumenten, die ihre Einkünfte für die unmittelbare Sicherung des Überlebens einsetzen müssen, unerschwinglich. Es überrascht deshalb nicht, dass das indische Unternehmen Cipla ein Generikum für „Tamiflu“ für jene Länder herstellt, in welchen das Roche-Patent nicht durchgesetzt werden kann.
Deshalb wird die Entwicklung hin zu Generika den Pharmamarkt in diesen Ländern prägen, zumal bis 2015 der Patentschutz von Medikamenten mit einem Jahresumsatz von insgesamt 160 Milliarden Dollar fallen wird – über ein Viertel des weltweiten Gesamtumsatzes. Damit ist für Unternehmen in Emerging Marktets ein grosser Anreiz gegeben, Kapazitäten und Wissen für die Produktion von Generika aufzubauen. Allein in Indien wurden im Jahr 2005 61 FDA-qualifizierte Produzenten gezählt, in China waren es 2002 deren 22 Werke. Hier entwickelt sich eine starke Konkurrenz für die jetzt dominierenden Pharmaunternehmen, die gleichzeitig mit markant sinkenden Gewinnmöglichkeiten aufgrund der Generika-Substitution in den Industrieländern konfrontiert sind. Ein Beispiel ist das Generikum für den Pfizer-Blockbuster „Zoloft“ (ein Antidepressivum), das der Hersteller Teva Pharmaceuticals seit August auf den amerikanischen Markt bringt.
Überlebensstrategien
Diese Probleme werden zu einer weiteren Konsolidierung der Pharmabranche führen, wobei vorab mittelgrosse Pharmaunternehmen ohne viel versprechende Wirkstoffe für zentrale Gesundheitsprobleme unter Druck geraten. Beispielhaft dafür sind die Entwicklungen in der europäischen Pharmabranche im Jahr 2006, konkret die Übernahmen von Schering durch Bayer, von Serono durch Merck und den Verkauf der Pharmasparte von Altana. Diese Entwicklung wird sich zweifellos fortsetzen.
Welche Strategien können Pharmafirmen in diesem härteren Marktumfeld verfolgen? In den demographisch reifen Gesellschaften wird man die Therapie komplexer Krankheiten (Aids, Diabetes, Krebs, etc.) fokussieren müssen, wobei der Einbezug der biotechnologischen Forschung zentral wird. Dies bedingt den Aufbau ganzer Therapiesysteme (beispielsweise für die Bekämpfung von Aids), bei welchen Aspekte wie Compliance und Pflege wichtiger werden. Hier sei insbesondere an die komplexen Krankheiten des Gehirns erinnert wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson oder Depressionen - alles Krankheiten, die aufgrund des demographischen Wandels (neurodegenerative Krankheiten) oder den gewandelten Lebensbedingungen (Depression), die noch kaum verstanden sind. In den Industriestaaten müssen gegen 30 Prozent aller Menschen ab dem 80 Altersjahr (etwa die derzeitige durchschnittliche Lebenserwartung) mit einer Demenzerkrankung rechnen, was das Ausmass des Problems verdeutlicht. Hier eröffnet sich ein enorm wichtiges Feld für die Pharmaindustrie. Doch man muss sich bewusst sein, dass die Erforschung der Krankheitsmechanismen in einem Organ, wo hundert Milliarden Nervenzellen untereinander mit 10'000 Verbindungen pro Zelle ausgestattet sind, ein schwieriges Unterfangen ist.
Fokussiert man schliesslich die Emerging Markets, muss man sich am Aufbau der Generika-Produktionskapazität beteiligen und dabei sinkende Gewinnmöglichkeiten in Kauf nehmen. Generika werden auch in den Industrieländern aufgrund der geschilderten Finanzierungsproblematik wichtiger werden. Schätzungen zur Folge sollen Generika im Jahr 2008 bereits ein Marktvolumen von weltweit 60 Milliarden Dollar erreichen – immerhin gut zehn Prozent des weltweiten Marktes.
Die beiden grossen Schweizer Pharmaunternehmen haben im anstehenden Konsolidierungsprozess gute Karten. Das Basler Unternehmen Roche ist ein Beispiel eines Unternehmens, das erfolgreich auf die erste Strategie setzt und – dank der Akquisition von Genentech – im Bereich der Krebsmedikamente sehr gute Resultate vorweisen kann. Das Basler Unternehmen Novartis bedient sich zudem der Generika-Strategie – man denke an die Generika-Offensive der Novartis-Tochter Sandoz. Insgesamt haben sich damit die beiden Schweizer Player im Pharmamarkt gut positioniert, um im anstehenden Wettkampf um Innovation bestehen zu können. Die Gewinnmöglichkeiten mögen für die Pharmaunternehmen insgesamt zwar kleiner werden, doch gerade diese neue Konkurrenzsituation ermöglicht es, neue Lösungen für die anstehenden Probleme im Gesundheitsmarkt zu finden.