Wie Insekten hören
«Fliegenohren» als Vorbild für neue Sensoren
Insekten erreichen trotz ihrer Kleinheit erstaunliche sensorische Leistungen. Exemplarisch lässt sich das an ihrem Gehör zeigen. Forscher der Universität Zürich untersuchen mit modernsten Messmethoden die Feinmechanik von «Insektenohren». Die dabei gewonnenen Resultate weisen den Weg zu neuartigen Sensoren kleinster Abmessung, die beispielsweise in der Raumfahrt Verwendung finden könnten.
Stellen Sie sich vor, Menschen bauten einen Bewegungssensor von der Grösse des Eiffelturms. Die Messeinrichtung am Fuss des Turms würde dabei eine Schwankung der 300 Meter entfernten Spitze um lediglich 0,7 Millimeter feststellen. Eine solche Leistung erscheint unglaublich. Für Moskitos ist sie normal. Genauer gesagt sind es die männlichen Exemplare der in Tansania vorkommenden Moskito-Spezies Toxorhynchites brevipalpis, deren auditorische Sensoren eine derartige Leistung erbringen. Diese Moskitos hören mit antennenartigen, an einen Christbaum erinnernde Strukturen, die sich paarweise am Kopf des Tieres befinden. Schallwellen lassen die gut drei Millimeter langen Antennen vibrieren. Schwingungen am Ende der Antenne mit einer Auslenkung von lediglich 7 Nanometern können von der Sensorik am Fuss der Struktur, dem sogenannten Johnstonschen Organ, wahrgenommen werden.
Wer hört, hat Vorteile
Es mag auf den ersten Blick vielleicht erstaunen, dass (manche) Insekten überhaupt hören. Doch bereits das Zirpen von Grillen in der Abenddämmerung macht plausibel, dass Insekten nicht in einer völlig stillen Welt leben. Akustische Signale dienen dabei fundamentalen Zwecken: der Partnersuche _ so im Fall von T. brevipalpis _, der Jagd nach Beute oder dem Erkennen von Fressfeinden (z. B. Fledermäusen), die ihre Beute mittels Schallwellen lokalisieren.
Um diesen Zwecken zu genügen, haben sich in der Ordnung der Zweiflügler im Verlauf der Evolution zwei Varianten von Schallsensoren herausgebildet: Die Mehrzahl der hörenden Insekten bedienen sich der bereits vorgestellten antennenartigen Strukturen und dem Johnstonsche Organ. Eine Minderheit von Insektenarten besitzt eine Art Trommelfell, dessen Bewegung von sensorischen Zellen registriert und in Nervenimpulse umgewandelt wird. Man spricht hier von einem Hörorgan des tympanalen Typs. Mit dieser Art des Hörens befasst sich seit vielen Jahren die Forschungsgruppe um den Bioakustiker Daniel Robert an der Universität Zürich. Insbesondere interessieren sich die Forscher dafür, wie es Insekten mit einem solchen Hörorgan gelingt, Schallquellen im Raum zu lokalisieren.
Modellorganismen für die Erforschung des Richtungshörens bei Insekten sind die weiblichen Exemplare der in Florida vorkommenden Spezies Ormia ochracea. Dabei handelt es sich um eine parasitäre Fliege, die ihre Larven auf Grillen legt. Die Larven ernähren sich dann vom lebenden Wirtsorganismus. Die Grille hat mit ihrem Gesang statt des erhofften Partners einen todbringenden Feind angelockt.
Ortung einer Schallquelle
Das Erstaunliche am Richtungshören von O. ochracea ist, dass sie diese verblüffenden Leistungen mit sehr kleinen Sensoren erreichen. Menschen lokalisieren Schallquellen, indem deren Schallwellen die beiden Ohren zu unterschiedlichen Zeiten erreichen. Das Gehirn errechnet aus dieser Differenz den Ort der Schallquelle. Bei Insekten versagt dieses Prinzip, da die beiden Ohren zu nahe beieinander liegen und die Zeitdifferenz zu kurz ist. So sind die beiden «Ohren» von O. ochracea, die sich an der «Vorderbrust» der Fliege befinden, nur 520 Mikrometer voneinander entfernt. Bei einem derart geringen Abstand beträgt die maximale Laufzeitdifferenz der Schallwelle lediglich zwei Mikrosekunden (beim Menschen beträgt diese Zeitspanne etwa eine halbe Sekunde). Trotzdem kann die Fliege Schallquellen (in diesem Fall die Grille) sehr genau lokalisieren.
Um die genaue Funktionsweise der Ohren zu bestimmen, haben die Zürcher Forscher am lebenden Insekt die Bewegung der beiden Trommelfelle während der auditiven Wahrnehmung genau ausgemessen. Das geschah mit einem als Laser-Doppler-Vibrometrie bezeichneten Verfahren. Mittels elektrophysiologischer Methoden wurde die Umwandlung der mechanischen Bewegung in Nervenimpulse untersucht. Dabei zeigte sich ein erstaunlicher Verstärkungseffekt: Die Zeitdifferenz des Eintreffens einer Schallwelle bei den beiden Ohren wird um den Faktor 150 auf etwa 300 Mikrosekunden vergrössert _ um diese Zeitspanne unterscheiden sich die Reaktionen zwischen den Sinneszellen des linken und des rechten Ohrs. Es ist, als ob die Ohren des Insekts nicht 520 Mikrometer, sondern 2,5 Zentimeter voneinander entfernt wären. Um einen vergleichbaren Verstärkungseffekt zu erreichen, müsste die Distanz zwischen menschlichen Ohren 16 Meter betragen.
Die genaue Analyse dieses Vorgangs zeigt, dass die mechanische Kopplung der beiden Trommelfelle für die erstaunliche Leistung des Gehörs ausschlaggebend ist. Die beiden Ohren arbeiten auf der Ebene der Biomechanik nicht unabhängig voneinander; die Trommelfelle sind gewissermassen aneinander geklebt und funktionieren dadurch wie eine flexible Wippe: Die beispielsweise beim linken Ohr eintreffende Schallwelle lässt deren Trommelfell in eine Richtung schnellen. Das Trommelfell des rechten Ohrs bewegt sich augenblicklich in die andere Richtung. Die zwei Mikrosekunden später eintreffende Schallwelle trifft dadurch auf eine andere Ausgangslage, was das Schwingungsverhalten des Trommelfells derart verändert, dass eine zeitliche Verzögerung eintritt. Dieser Effekt wird durch den besonderen Mechanismus der Kraftübertragung vom Trommelfell auf die Sinneszellen weiter verstärkt. Die minimalen Gangunterschiede der eintreffenden Schallwellen werden dadurch derart vergrössert, so dass die Sinneszellen der beiden Ohren einen genügend grossen Unterschied registrieren können.
Vom Ohr zum Mikrophon
Diese Entschlüsselung der Mikromechanik des Ohrs von O. ochracea öffnet den Weg zu neuen technischen Innovationen. Die Forscher haben bereits erste Prototypen einer «in silico»-Implementierung des auditiven Sensors hergestellt. Die richtungssensitiven Mikrophone mit einer Abmessung von 500 Mikrometern erreichen derzeit zwar noch nicht ganz die mit O. ochracea vergleichbare Empfindlichkeit, doch weitere Forschungen sind im Gang. Denkbar wäre zum Beispiel, dass ein solcher Sensor im Überwachungsbereich zum Einsatz kommt und dort einer Kamera den Hinweis gibt, aus welcher Richtung verdächtige Geräusche kommen.
Die Ergebnisse der Gruppe haben zudem das Interesse der amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa geweckt. Im Frühling präsentierte Daniel Robert anlässlich eines Workshops am Center for Advanced Studies in the Space Life Sciences am Marine Biological Laboratory in Woods Hole, Massachusetts, seine Resultate. Der Grund des Nasa-Interesses liegt darin, dass dereinst ein Verbund von kleinen, billigen und autonomen Sonden auf dem Mars landen und diesen erkunden soll. Richtungssensitive Mikrophone nach dem Vorbild von Insekten könnten dann beispielsweise das Frequenzspektrum und die Richtung des auf dem Mars wehenden Windes untersuchen.