Das Gehirn mittels Simulation verstehen
Zwei Jahre nach dem Start zieht das «Blue Brain»-Projekt an der ETH Lausanne eine erste Bilanz
An der ETH Lausanne haben Wissenschafter das Verhalten von 10 000 Neuronen eines Rattenhirns mit einem Computer simuliert. Damit ist die erste Phase des «Blue Brain»-Projekts abgeschlossen.
Das Gehirn des Menschen und anderer Säuger verdankt seine aussergewöhnliche Leistungsfähigkeit der Hirnrinde. Sie besteht beim Menschen aus rund 100 Milliarden Neuronen und mindestens ebenso vielen Gliazellen, die ein Netzwerk schier unermesslicher Komplexität bilden. Dennoch sind strukturelle Regelmässigkeiten erkennbar. So organisieren sich jeweils mehrere tausend Nerven- und Gliazellen in sogenannten Säulen. Diese entstehen beimWachstum des Gehirns und bilden die Bausteine der Hirnrinde. Inwieweit sie nicht nur strukturelle, sondern auch funktionelle Einheiten sind, also gewissermassen die «Basis-Prozessoren» des Gehirns darstellen, ist zwar noch offen – andere Theorien favorisieren Netzwerke von nur wenigen Neuronen (microcircuits) oder von 80 bis 100 Neuronen (minicolumns) als funktionelle Grundeinheiten. Dennoch ist zumindest für die sensorischen Gebiete der Hirnrinde klar, dass zentrale Verarbeitungsschritte tatsächlich in solchen Säulen stattfinden.
Unmengen an Detailwissen
Die Modellierung einer solchen Säule aus der somatosensorischen Hirnrinde der Ratte, also jenem Bereich, der für das Körpergefühl zuständig ist, ist das Ziel von «Blue Brain», einem 2005 gestarteten Forschungsprojekt an der ETH Lausanne, für das beim Projektpartner IBM ein Supercomputer des Typs «BlueGene/L» gekauft wurde, der sonst vor allem in der Genforschung Anwendung findet. Mit dem Modell soll unter anderem das rasant zunehmende Detailwissen über die Vorgänge im Gehirn in einer fassbaren Weise geordnet werden – laut Henry Markram, dem Direktor des Projekts, erscheinen jedes Jahr rund 35 000 neurowissenschaftliche Publikationen.
Das Lausanner Projekt ist zwar nicht der einzige Versuch, neuronale Schaltkreise zu modellieren, aber weltweit wohl der ambitionierteste, denn «Blue Brain» ist aussergewöhnlich Biologienah. Auch diese Simulation wird allerdings kein 1:1-Modell einer ganz bestimmten Säule sein, sondern «nur» einen bestimmten Typ Säule darstellen; schliesslich basiert «Blue Brain» auf den Daten von unzähligen seit den 1990er Jahren untersuchten Hirnschnitten. Während in anderen Simulationen jedoch Neuronen stark vereinfacht modelliert werden – etwa als Sammler von Inputs, bis das Neuron bei einem Schwellenwert feuert –, versucht man in Lausanne, das in Experimenten gewonnene Wissen über den molekularen und zellulären Aufbau der Neuronen und ihres Netzwerks möglichst detailgetreu abzubilden. Eine im Modell abgebildete Zelle würde man also nicht genau so im Rattenhirn wiederfinden, doch die modellierte Säule setzt sich aus denselben Typen von Nervenzellen zusammen wie das Original, und die Lage dieser Zellen innerhalb der Säule, ihre jeweilige molekulare Ausstattung – etwa mit Ionenkanälen – und ihre Verknüpfungen mit anderen Neuronen sind typisch für eine Säule im somatosensorischen Teil des Rattenhirns.
Neue Fragestellungen entwickeln
Wie Ende November an einer Presseveranstaltung an der ETH Lausanne berichtet wurde, ist in der nun abgeschlossenen ersten Phase des Projektes ein Modell einer Säule von 550 Mikrometern Durchmesser, 1200 Mikrometern Höhe und 10 000 Nervenzellen erstellt worden, das auf der strukturellen Ebene dem biologischen Vorbild entspricht. Dazu mussten in erster Linie computertechnische Fragen gelöst werden – beispielsweise die automatische Modellierung der vielen tausend Neuronen gemäss der experimentell bestimmten Struktur echter Nervenzellen oder die Visualisierung der Neuronen auf eine Weise, die es erlaubt, etwa Unterschiede im Membranpotenzial einzelner Zellen darzustellen.
In einem nächsten Schritt sollen nun molekulare Vorgänge in den einzelnen Neuronen sowie die Interaktionen zwischen Glia- und Nervenzellen in das Modell integriert werden. Dieses soll schliesslich Experimente «in silico», also im Computer, ermöglichen. Dabei kann man im Modell einzelne Parameter – etwa die Häufigkeit bestimmter Ionenkanäle auf der Zellmembran – verändern und prüfen, wie sich das auf das Verhalten der Neuronen in der (Modell-)Säule auswirkt. Daraus kann man dann ableiten, welche Experimente im Labor sinnvoll wären – beispielsweise, ob das Blockieren gewisser Ionenkanäle möglicherweise einen therapeutischen Effekt hätte. Solche Fragestellungen lassen sich in der Simulation weit effizienter entwickeln als im biologischen Original; sie müssen dann allerdings immer noch an diesem überprüft werden.
Die Erforschung komplexer Phänomene mittels umfangreicher Computermodelle liegt in der Wissenschaft derzeit voll im Trend. Analog zu den Modellen der Klimaforschung sieht Markram denn auch die Modellierung ganzer Hirnteile als das endgültige Ziel des Projekts. Mit solchen Modellen könne man beispielsweise die Auswirkungen fehlerhafter Ionenkanäle auf das Gesamtsystem untersuchen, so der Forscher. Das wiederum führe möglicherweise zu einem neuen Verständnis jener psychischen Krankheiten, die mit solchen molekularen Störungen in Verbindung gebracht würden. Derartige Simulationen benötigten allerdings eine enorme Rechenkraft, die derzeit noch nicht zur Verfügung stehe. Markram gibt sich jedoch zuversichtlich, dass kommende Rechnergenerationen auch die Simulation ganzer Verbände kortikaler Säulen erlauben werden.
Die Untersuchung des Gehirns mittels detaillierter neuronaler Modelle ist in Fachkreisen allerdings durchaus umstritten. Zu Beginn des Projekts habe sicher die Hälfte seiner Kollegen den Ansatz für unsinnig gehalten, erinnert sich Markram. Sie seien der Meinung gewesen, dass man die Komplexität des biologischen Vorbilds schlicht nicht abbilden könne. Diese Einstellung habe sich aber zumindest teilweise geändert, meint der Projektleiter Felix Schürmann. An Konferenzen erlebe man ein wachsendes Interesse von Biologen, weil «Blue Brain» eben ein Biologie-nahes Modell sei. Offen bleibt dennoch, welchen Grad an Detailtreue das Modell erreichen muss, um Skeptiker zu überzeugen. Und da man kaum jedes einzelne Molekül in die Simulation integrieren kann, wird hier wohl immer Raum für Kritik bleiben. Zudem kann auch die von Markram präsentierte Absicht, mittels Simulationen die (derzeit breite) Kluft zwischen einer Störung auf molekularer Ebene und dem Auftreten einer psychischen Krankheit zu schliessen, durchaus kritisch gesehen werden. Denn solche Krankheiten lassen sich in der Regel nicht auf einen einzigen biologischen Prozess zurückführen, und eine rein auf die neuronalen Prozesse fokussierende Therapie würde den psychischen und sozialen Aspekten der Erkrankung wohl nicht gerecht werden.
Enge Zusammenarbeit
Bemerkenswert an dem Projekt ist jedoch allemal die enge Zusammenarbeit zwischen Biologen und Computerwissenschaftern mit standardisierten Abläufen. So sind die rund ein Dutzend Biologen mit modernstem Gerät ausgerüstet, welches beispielsweise erlaubt, die Art und Stärke einer Verknüpfung zwischen zwei benachbarten Neuronen zu messen. Das in solchen Experimenten gewonnene Wissen wird dann in eine Datenbank abgelegt, aus der die rund zwei Dutzend Modellentwickler die für die Verfeinerung und Prüfung der Simulation notwendigen Daten gewinnen. Solche Simulationen und die damit verbundene Visualisierung komplexer Prozesse dürften der Hirnforschung zudem gewissermassen einen neuen «Typus» von Erkenntnis hinzufügen: Erklärungen etwa in Form einer Animation anstatt einer Formel. Was dies alles für die künftige Entwicklung der Hirnforschung und auch ihre praktische Anwendung – etwa hinsichtlich psychischer Krankheiten – bedeutet, ist eine für Wissenschaftstheoretiker und Ethiker zunehmend wichtige Frage.
Markus Christen