Die Cochlea als «akustische Linse»
Die Schneckenform begünstigt das Hören tiefer Töne
Die Gehörschnecke (Cochlea) ist ein akustischer Sensor mit komplexer Biophysik. Forscher haben nun gezeigt, dass die Form der Cochlea für das Hören tiefer Töne von grosser Bedeutung ist.
Die Cochlea ist eine zentrale Schnittstelle im Hörprozess, in der das Schallsignal in Nervenimpulse übertragen wird. Man kann sich die Cochlea als schneckenförmig aufgerollten, mit Flüssigkeit gefüllten Schlauch vorstellen, der entlang der Längsachse von einer Membran (Basilarmembran) geteilt wird. Via Trommelfell und Mittelohrknöchelchen werden Schallwellen auf die Flüssigkeit übertragen. Damit gerät die Basilarmembran in Bewegung. Die an der Membran befestigten inneren Haarzellen nehmen die Bewegung wahr und übertragen sie in Nervensignale. Dieser Prozess wird entscheidend von den biophysikalischen Eigenschaften der Gehörschnecke geprägt, die eine Verarbeitung des akustischen Signals auf vor-neuronaler Ebene ermöglichen. So sorgt die variierende Steifigkeit der Basilarmembran dafür, dass Schallwellen verschiedener Frequenz die Membran an unterschiedlichen Stellen in Resonanz versetzen: Hohe Töne führen zu einer maximalen Anregung an der Basis (Beginn) der Cochlea, während tiefe Töne dank diesem Effekt am Apex (Ende) wahrgenommen werden.
Nun ist die Rolle einer weiteren physikalischen Besonderheit der Cochlea für die Hörwahrnehmung geklärt worden: ihre Schneckenform. Bisher war man davon ausgegangen, dass damit lediglich eine Platzersparnis erreicht wird. Amerikanische Forscher der Vanderbilt Universität in Nashville, Tennessee, und der National Institutes of Health in Bethesda, Maryland, haben nun aber anhand eines biophysikalischen Modells der Cochlea gezeigt, dass die Schneckenform zu einer verbesserten Wahrnehmung tiefer Töne beiträgt.¹ Demnach wird die Energie tieffrequenter Schallwellen, die bis in das Ende der Cochlea vordringen und dort die Hörwahrnehmung hervorrufen, durch die zunehmende Krümmung der Cochlea am äusseren Rand des cochleären Schlauches konzentriert. Damit entsteht senkrecht zur Ausbreitungsrichtung ein Unterschied in der Amplitude der voranschreitenden Welle. Dies führt zu zusätzlichen Scherkräften in der Basilarmembran – also zu Kräften senkrecht zur Achse der Cochlea.
Es sind nun aber genau diese Scherkräfte, welche die Ionenkanäle der an der Membran befestigten Haarzellen öffnen und damit das Nervensignal auslösen. Damit hat die Schneckenform der Cochlea gewissermassen den Effekt einer «akustischen Linse» für tiefe Töne: die Wellenenergie dieser Töne und damit die Verteilung der Kräfte auf der Basilarmembran werden derart verändert, dass tiefe Töne besser wahrgenommen werden. Die Forscher bemessen diesen Verstärkungseffekt auf bis zu 20 Dezibel. Sie sehen zudem eine Analogie zum berühmten Effekt in der Flüstergalerie der Londoner Saint Paul's Kathedrale. Der Schall wird in dieser kreisförmigen Galerie durch die gebogenen Wände immer wieder zurück in das Innere des Rings reflektiert, so dass ein geflüstertes Wort auf die andere Seite der Kuppel getragen werden kann. Da in der Cochlea die Krümmung zunimmt, je mehr man sich dem Apex nähert, tritt zusätzlich der akustische «Linseneffekt» auf.
Markus Christen
¹ Physical Review Letters 96, Art.-Nr. 088701 (2006).