Bioinformatiker – heiss begehrte Grenzgänger zwischen den Disziplinen
Innert weniger Jahre hat eine kaum bekannte Disziplin mit mässiger Reputation einen dramatischen Imagewandel erlebt: Bioinformatik. Sie gilt heute als Schlüsseldisziplin des Postgenom-Zeitalters. Fieberhaft versuchen derzeit staatliche wie private Institutionen, die nötigen Ausbildungsstätten zu schaffen, was durch den Mangel an geeigneten Dozenten erschwert wird. Die zunehmend enge Verknüpfung von Informatik mit weiteren naturwissenschaftlichen Disziplinen ist jedoch ein absehbarer Prozess und verlangt nach einer strukturellen Anpassung der Ausbildungsgänge in den Hochschulen.
Molekularbiologische Laboratorien von heute sehen zuweilen ganz anders aus, als man es sich vorstellt: Statt einer Vielzahl von Substanzen, Reagenzgläsern und fleissigen Forschern trifft man auf kaum bevölkerte, industrielle Hallen, vollbepackt mit Sequenzierrobotern. Diese weitgehend automatisierte Entschlüsselung des Erbguts von Lebewesen ist ein Hauptgrund für ein enormes Wachstum der Menge an genetischen Daten.
Damit stellen sich für die Biologie neuartige Herausforderungen: So müssen diese Daten systematisch gesammelt, geordnet und verfügbar gemacht werden, damit die Molekularbiologen die relevanten Informationen in der Datenflut sichtbar machen können. Wissenschaftler haben nach der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts mehrfach betont , dass heute eigentlich nur gigantische Ketten von „Erbbuchstaben“ vorliegen. Die Gene, deren funktionelles Zusammenspiel und die nach Anleitung der Gene gebildeten Proteine müssen erst noch erkundet werden.
Forschen in silico
Ausserdem stehen dank der enorm gesteigerten Rechnerkraft den Biologen neue Analyse¬methoden zur Verfügung. Das Verhalten der regulatorischen Netzwerke im Erbgut oder die Prognose der Struktur und Funktion unbekannter Proteine wird man vermehrt in silico, also mit Hilfe von Computersimulationen, klären können.
Derartige Fragestellungen verlangen nach Forschern, die methodisch mit Mathematik und den Computerwissenschaften vertraut sind, inhaltlich aber über das Wissen der modernen Biologie verfügen – Bioinformatiker eben. Victor Jongeleen, Direktor des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik (SIB), erklärt dazu: „Wir sind in der Bioinformatik mit neuartigen Fragestellungen konfrontiert, die weit über das Anwenden wohlbekannter Technologien hinausgehen“.
Von Bioinformatikern wird beispielsweise erwartet, das Problem der „Genvoraussage“ lösen zu können: Wie findet man in einer gegebenen Sequenz von Erbbuchstaben die Gene und die dazugehörenden Kontrollelemente? In Analogie zur Sprache lässt sich dieses Problem verdeutlichen: Eine Abfolge von Buchstaben ist gegeben. Wo sind die Sätze (Gene) und Satzzeichen (Kontrollelemente)? Bioinformatische Methoden werden künftig sogar das experimentelle Design miteinschliessen. Stuart Kauffmann, ein Pionier in der Anwendung mathematischer Methoden in der Biologie, meinte dazu: „Wir erwarten von den Bioinformatikern die Generierung von überprüfbaren Hypothesen.“
Dieser Wandel hat Auswirkungen auf die Reputation der Disziplin. „Das Image der Bioinformatik hat sich unter den Biologen drastisch verändert“, so Jongeneel. Deutlich wird dies anhand der Aufrufe in internationalen Wissenschaftszeitschriften, mehr für die Ausbildung von Bioinformatikern zu tun. Die Studentenzahlen steigen schnell: Am SIB hat im Herbst der zweite einjährige Ausbildungsgang (Masters Degree) in Bioinformatik begonnen. Von 50 Kandidaten wurden 20 zugelassen. Vor einem Jahr durften noch alle 14 Interessenten beginnen.
Die meisten heutigen Bioinformatiker haben eine Grundausbildung in Biologie oder Medizin, reine Informatiker finden sich eher selten. Trotzdem will das SIB Leute aus beiden Bereichen anziehen. In je einem Modul erhalten Biologen und Mediziner das notwendige Informatikwissen sowie Informatiker Grundlagen der Biologie. Die Schwerpunktsetzung ist unterschiedlich. Jongeneel: „Gesucht werden heute primär Experten für das Data-Handling. Daneben braucht es Fachleute für Simulationstechnologien und eigentliche Software-Entwickler.“ Für letztere Problemstellung werden Leute mit einer Basis in Informatik gesucht, die sich aber ein ein interdiziplinäres Team mit Biologen einfügen können.
Enormer Mangel an Fachleuten
Das Vertiefungsstudium am SIB, das zusammen mit den Universitäten Genf und Lausanne angeboten wird, ist derzeit der einzige umfassende Studiengang für Bioinformatik in der Schweiz. Ausbildungsmöglichkeiten bestehen aber auch in Deutschland (siehe den Hinweis am Schluss des Artikels). Das SIB gilt weltweit als Pionierinstitution, doch die Voraussicht ihrer Gründer kann den enormen Bedarf an Fachleuten nicht decken. Hauptschwierigkeit ist das Fehlen von Lehrpersonal (Assistenten und Dozenten), denn auf der ganzen Welt werden derzeit Institute für Bioinformatik aus dem Boden gestampft.
Auch schweizerische Hochschulen bemühen sich um den Aufbau von Lehrkapazitäten in der Bioinformatik. Das Biozentrum in Basel will mindestens zwei Professoren in dieser Disziplin, hat aber grosse Schwierigkeiten, sie zu finden. „Die Leute, die wir wollen, sind derzeit einfach nicht zu haben“, erklärt dazu Andreas Engel, Vorsteher des Biozentrums. Auch das Curriculum für den Ausbildungsgang ist noch nicht vorhanden. In dieser Hinsicht kooperiert das Biozentrum mit dem SIB. Künftig sollen am Basler Biozentrum aber jährlich fünf bis zehn Studenten ihre Ausbildung in Bioinformatik erhalten.
Auch in Zürich werden entsprechende Anstrengungen unternommen. "Die ETH und die Universität planen den Aufbau eines Zentrums für funktionelle Genomik, in welchem die Bioinformatik eine wichtige Rolle einnehmen wird", erläutert Alexander Borbély, Prorektor Forschung an der Universität Zürich. Offen sei derzeit, ob Bioinformatik als Nebenfach oder als Postgraduierten-Ausbildung angeboten werden soll. Ein genauer Zeitplan existiere zwar noch nicht, doch der Aufbau des Zentrums soll "so rasch wie möglich" geschehen, meint Borbély. Hans Hengartner, Vorsteher des Departementes für Biologie der ETH Zürich, macht deutlich, dass im Wintersemester 2000/01 an der ETH ein völlig neuer Lehrplan für Biologie in Kraft treten wird und in naher Zukunft bezüglich Ausbildung in Bioinformatik grössere Neuerungen geplant sind: "Wir wollen die Biologie für andere Disziplinen wie Chemie und Informatik durchlässiger machen." Konkrete Entscheide sollen noch in diesem Jahr fallen. Ein Kurs "computational biology" wird an der ETH bereits seit einem Jahr angeboten.
Mit Kurt Wüthrich kann die ETH auch einen Pionier in der Kombination von Biologie und Informatik vorweisen. Der Professor am Institut für Molekularbiologie und Biophysik entwickelt in seiner Forschungsgruppe seit über 20 Jahren Software für Problemstellungen der strukturellen Biologie, welche heute weltweit Anwendung finden. Seiner Ansicht nach muss nun rasch gehandelt werden: „Der enorme Bedarf an Bioinformatik war voraussehbar, kommt heute aber doch Knall auf Fall. Wir können nicht Jahre warten, bis Ausbildungsgänge aufgebaut sind und diese von der ersten Studentengeneration durchlaufen werden“, so Wüthrich. Bioinformatik als Lehrfach auszubauen sei zwar richtig, doch kurzfristig werde man Medizinern und Biologen in Nachdiplomkursen das notwendige Wissen in der Informatik beibringen müssen. Wüthrich: „Informatiker allein werden die anstehenden Probleme nicht lösen können, dazu fehlt es ihnen am notwendigen biologischen Wissen.“
Den Trend verschlafen
Der eklatante Mangel an Fachleuten lässt die Frage aufkommen, ob die Forschungsförderung eine voraussehbare Entwicklung verschlafen hat. Klare Worte kommen diesbezüglich von Otmar Pfannes, Geschäftsführer des Basler Bioinformatik-Start-up GeneData: „Jetzt wollen die Universitäten plötzlich Geld für Bioinformatik, doch vor wenigen Jahren hielten sie die Bioinformatiker für bessere PC-Supporter. Die europäischen Hochschulen haben diesen wichtigen Trend schlicht verschlafen.“ Dies sei auch ein wichtiger Grund, warum Europa in Gebieten wie die Expressions-Analyse und bei der funktionellen Bestimmung der Gensequenz gegenüber den USA derart ins Hintertreffen geraten sei. Lediglich bei der Proteinforschung seien europäische – insbesondere schweizerische – Forschungsinstitute an der Weltspitze dabei.
Bioinformatik-Unternehmungen sehen sich deshalb mit einem ausgetrockneten Markt für Fachleute konfrontiert. GeneData beschäftigt derzeit 36 Personen, davon 30 Bioinformatiker, „es könnten aber auch 40 mehr sein“, so Pfannes. Das Unternehmen muss seine Experten grösstenteils selbst ausbilden. Die Firma will deshalb in den Ausbildungsmarkt einsteigen. Pfannes: „Ab 2001 bieten wir öffentliche Kurse an. Wir wollen dabei insbesondere Biologen ansprechen und ihnen die Grundlagen der Bioinformatik vermitteln.“ Die genaue Ausgestaltung und Preise der Kurse werden derzeit ausgearbeitet.
Die Genfer Firma GeneBio gehört zu den Pionieren der Bioinformatik in der Schweiz. Das 1997 gegründete Unternehmen steht in einer engen Beziehung zum SIB, vertreibt sie doch unter anderem die Lizenzen für die am Institut entwickelten Produkte. Erik Baas, CEO von GeneBio, macht denn auch deutlich, wie wichtig die Ausbildungsaktivitäten des SIB sind. „Von den anderen Universitäten erwarte ich, dass sie sich der enormen Bedeutung der Bioinformatik für die moderne biologische Forschung und pharmazeutische Produktentwicklung bewusst werden“, so Baas. GeneBio will künftig ebenfalls Kurse in Bioinformatik anbieten, wobei aber deren industrielle Anwendungen im Zentrum stehen.
Ausgetrockneter Markt
Die grossen Schweizer Pharmakonzerne unterhalten eigene Bioinformatik-Gruppen. Novartis beschäftigt nach Aussage von Mischa Reinhardt, Leiter der Abteilung Life Science In-formatics, „mehrere Dutzend“ solche Fachleute, „reine“ Bioinformatiker wie entsprechend intern weitergebildete Molekularbiologen. "Die Chance, qualifizierte Leute auf dem Markt zu finden, ist derzeit gleich Null", so Reinhardt. Der in Deutschland ausgebildete Forscher sieht diese Situation ebenfalls als Folge falscher Schwerpunktsetzung in der Forschungsförderung: "In Deutschland war es zu Beginn der 90er Jahre unmöglich, Forschungsgelder für Bioinformatik zu erhalten. Die wenigen an diesem Gebiet interessierten Leute wurden in die Industrie vertrieben und nun fehlt es bei den Hochschulen an den institutionellen Strukturen für die Ausbildung des Nachwuchses.“
Roche begann 1989 mit dem Aufbau einer Bioinformatik-Gruppe durch den jetzigen Leiter der Abteilung "Science and Technology Relationships", Klaus Müller. "Viele waren damals eher skeptisch", erinnert er sich. Gut dreissig Bioinformatiker beschäftigt Roche derzeit. Müller hält dabei den ständigen engen Kontakt der Bioinformatiker zu den eigentlichen wissenschaftlichen Problemen für unumgänglich: "Mitarbeiter mit einer vorwiegenden oder gar ausschliesslichen Informatikausbildung neigen dazu, die wissenschaftlichen Probleme zu Gunsten von eleganten Lösungen zurecht zu biegen, die dann aber den Problemen oft nicht gerecht werden." Aus diesem Grund sollten seiner Ansicht nach die Universitäten nicht Bioinformatik-Institute gründen, sondern vielmehr die Thematik in die bestehenden naturwissenschaftlichen Fachgebiete einbinden und die disziplinären Grenzen durchlässiger machen. "Wesentlich ist, dass die Hochschulen ihre guten Leute im Mittelbau halten können. Leider ist heute die Sogwirkung des Marktes derart stark, dass selbst hervorragende Institute wie das Europäische Bioinformatik-Institut in Cambridge seine besten Leute verliert. Dies ist zweifellos eine problematische Situation", meint Müeller.
Auch alteingesessene Firmen der IT-Branche sind aktiv in verschiedenen Anwendungen der Bioinformatik. IBM-Forscher entwickeln derzeit mit "Blue Gene" einen neuen Supercomputer, der aus Aminosäuresequenzen eines Proteins dessen dreidimensionale Struktur vorhersagen soll. Am Schweizer IBM-Labor in Rüschlikon arbeitet die Computational Material Science Group um Wanda Andreoni unter anderem an der Simulation biomolekularer Systeme. Die aus Fachleuten der Physik und Chemie bestehende Gruppe sucht derzeit den Kontakt zu Biologen der universitären Forschung. Andreoni: "Derartige Kooperationen zwischen den Disziplinen werden immer wichtiger. Nicht nur in der Biologie gewinnen Simulationstechniken eine enorme Bedeutung."
Unaufhaltsame Computerisierung
Damit wird deutlich: Bioinformatik ist heutzutage lediglich der sichtbarste Ausdruck für die enge Kombination von Informatik mit Naturwissenschaften. Die grosse Datenmenge einer zunehmend automatisierten Forschung müssen bewältigt werden. Zudem werden Mittel für eine Forschung in silico, also für die Modellierung und Simulation natürlicher Prozesse wie beispielsweise in der Klimaforschung, entwickelt. Ein Grossprojekt wird beispielsweise in der Hirnforschung diskutiert, denn die weltweit über 50'000 Neurowissenschaftler produzieren grosse Mengen schwierig zu nutzender Daten. Der Aufbau von Datenbank-Netzwerken soll dem abhelfen.
In der Hirnforschung werden aber der Bioinfiormatik vergleichbare Fortschritte um einiges schwieriger zu erreichen sein. Kevan Martin, Professor am Zürcher Institut für Neuroinformatik, meint dazu: „Technisch gesehen sind Gen- und Proteindatenbanken um einiges einfacher als solche aus den Neurowissenschaften. Beispielsweise die Methoden der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung sind nicht standardisiert und die damit gewonnen Daten deshalb nicht einfach so vergleichbar.“ Martin glaubt vielmehr, dass Erkenntnisse über die Informationsverarbeitung in biologischen Systemen dereinst die Informatik beeinflussen werden – auch eine Form von Verschmelzung, welche interdisziplinärer Netzwerke bedarf.
Umfassende (deutschlandlastige) Informationen über Ausbildungsmöglichkeiten in der Bioinformatik finden sich in: Ralf Hofestädt (Hrgs.) „Bioinformatik 2000. Forschungsführer Informatik in den Biowissenschaften“, ISBN 3-928383-11-6.