Hirnforschung: Was bringt die Zukunft?
Alte Werte und neue Menschenbilder
Die Neurowissenschaften gehören heute zu den am schnellten wachsenden Wissenschaftszweige. Die Fortschritte werden die Gesellschaft nicht unbeeinflusst lassen. Im folgenden Beitrag werden einige mögliche Entwicklungen aufgezeigt, mit der sich Bioethiker bereits heute auseinandersetzen müssen.
Von Alberto Bondolfi und Markus Christen
Der zentrale Stellenwert des Gehirns für unser Menschsein ist heute unbestritten. Das Gehirn ist das Organ des Geistes. Bei Diskussionen um den Beginn und um das Ende des menschlichen Lebens spielen Argumente über den strukturellen und funktionalen Zustand des Gehirns eine enorme Rolle: Fehlt das Gehirn, so wird Föten der Status des Person-Seins abgesprochen. Dieses Argument wird in der heutigen Diskussion um die Zulässigkeit von Forschung an embryonalen Stammzellen angeführt. Der Hirntod wiederum ist ein _ mancherorts weiterhin umstrittenes _ Kriterium zur Bestimmung des Todes eines Men-schen, das insbesondere bei der Organtransplantation von Bedeutung ist.
Dazu kommt die ungeheure Faszination der Erforschung dieses durchschnittlich rund 1,3 Kilogramm schweren Gewebeklumpen in unserem Kopf, der komplexesten uns bekannten Struktur im Universum. Das Hirn ist Quelle von menschlichem Wahrnehmen, Denken und Fühlen und die Forschung in diesem Bereich erfreut sich einem anhaltenden gesellschaftlichen Interesse.
Aristoteles und das Gehirn
Vom heutigen Standpunkt aus ist dabei kaum verständlich, dass man einst ganz anders dachte: In der Antike stritten sich die Denker, welcher Teil des Körpers das zentrale Organ des Menschen sei. Hippokrates gab dem Hirn diese Rolle. Einflussreich blieb aber für lange Zeit die Meinung des Aristoteles, der dem Herzen den Vorzug gab. Das Hirn war für ihn lediglich eine Apparatur, welche die animalische Wärme (das vom Herzen erzeugte Lebensprinzip) regulierte, indem es als Kühlorgan wirkte. Diese Ansicht hat Spuren in unserer Sprache hinterlassen, nehmen wir uns doch Dinge «zu Herzen» und nicht «zu Hirne».
Aristoteles hatte Unrecht, wie wir heute wissen. Der bekannte griechische Philosoph, der sich bei der Beobachtung der Phänomene des menschlichen Körpers selbstverständlich nur auf sehr rudimentäre Instrumente verlassen konnte, hatte hingegen eine ausgefeilte Theorie der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Handelns entwickelt. Aristoteles ist also, naturwissenschaftlich betrachtet, überholt, aber philosophisch weiterhin aktuell. Die Komplexität des Phänomens «menschliches Leben» wird mit Hilfe der Kategorien «Leib» und «Seele» interpretiert. Der heutige Leser aristotelischer Texte hat eine gewisse Mühe diese Kategorien angemessen wahrzunehmen und zu interpretieren. Vor allem die Seele sollte nicht als eine magische Grösse verstanden werden. Die Seele ist das Organisationsprinzip (anima forma corporis) des Leibes und insofern mit ihm stets verbunden, solange jemand lebt. Eine solche Vorstellung _ dies sei hier als These formuliert und nicht weiter ausgeführt _ ist ohne weiteres mit den neueren Errungenschaften der Neurowissenschaften kompatibel.
Entwicklung der modernen Hirnforschung
Diese neueren Errungenschaften seien nachfolgend kurz skizziert: Die moderne Hirnforschung entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Naturwissenschafter wie Johann Evangelista Purkynje (1838 Entdecker der Nervenzelle), Camillo Golgi und Santiago Ramón y Cajal erkundeten die Struktur des Gehirns. Zur selben Zeit entstand die moderne Psychologie (als deren Mitbegründer man den Amerikaner William James nennen kann), die mit experimentellen Methoden Leistungen des Geistes untersuchten. Diese zwei Forschungsstränge _ Psychologie und Neurobiologie _ begannen sich Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu vereinen. Man begann, von Neurowissenschaften bzw. kognitiven Wissenschaften zu sprechen.
Derzeit sind die Neurowissenschaften weltweit eine der am schnellsten wachsenden Wissenschaftszweige. Deutlich wird dies etwa am Wachstum der US-amerikanischen «Society for Neuroscience»: 1970 bestand diese aus 500 Mitgliedern, heute vereinigt diese Organisation 28 000 Forscherinnen und Forscher. Die Menge des in den vergangenen Jahren gewonnenen Wissens ist riesig, ein umfassendes theoretisches Gebäude der Hirnforschung fehlt derzeit aber. Neurowissenschaft ist mehrheitlich ein deskriptives Unterfangen und verfolgt eine bottom-up-Strategie, ausgehend von der Erforschung der Vorgänge auf der Mikroebene _ also auf Stufe der Nervenzelle und Moleküle. Dieser reduktionistische Ansatz greift insbesondere auf das Wissen der Molekularbiologie und Genetik zurück.
Ein momentan noch kleiner Teil der Hirnforscher verfolgt einen anderen Ansatz: Mit einer top-down-Strategie sollen die Leistungen des Gehirns oder von Teilsystemen (z. B. des visuellen Systems) untersucht und mit Computermodellen erfasst werden. Dieser Ansatz entwickelte sich Mitte des 20. Jahrhunderts ausgehend von der Kybernetik, der künstlichen-Intelligenz-Forschung und der Systemtheorie sowie unter Einbindung der Computerwissenschaften. Diese «computational neuroscience» (die im amerikanischen Sprachraum gängige Ausdrucksweise) bzw. die Neuroinformatik (der in Europa verwendete Begriff) will die Informationsverarbeitung in biologischen Systemen verstehen und technisch reproduzieren.
Die ethischen Problemfelder
Basierend auf dieser kurzen Übersicht über die heutige Hirnforschung lässt sich das Feld der ethischen Probleme und Fragestellungen abstecken und gliedern. Im Folgenden unterscheiden wir drei Problemgruppen:
-
Erstens stellen sich in der Hirnforschung «klassische» Probleme der Bioethik. Genannt seien hier die bereits erwähnte Frage des Hirntodes, aber auch Fragen der Tier- und Humanversuche oder der Verteilung von Forschungsgeldern.
-
Mit dem zunehmenden Wissen über das Gehirn verschärfen sich aber auch bereits bestehende Probleme: So könnten gewisse Experimente mit Primaten einer ethischen Neubeurteilung unterworfen werden, wenn es beispielsweise gelingen sollte, einen «messbaren» Begriff von Bewusstsein definieren zu können. Auch Fragen der Psychochirurgie (soll etwa eine Hirnoperation zur Heilung von Sexualtriebtätern erlaubt sein) dürften sich erneut stellen.
-
Schliesslich stellt die Hirnforschung ernste Fragen an unser Menschenbild. So diskutieren Hirnforscher wie beispielsweise der deutsche Wissenschaftler Wolf Singer, inwieweit die Handlungen des Menschen überhaupt noch als frei zu bewerten sind. Zudem könnte die Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit gewisser Hirnleistungen sowie künftig mögliche Formen von Neuroimplantaten das „Maschinenbild“ des Menschen akzentuieren _ auch wenn das dazu notwendige Wissen derzeit noch nicht vorhanden ist.
Alle drei Bereiche weisen komplexe normative Probleme auf, welche an dieser Stelle nicht vertieft werden können. Wichtig scheint es uns, dass zur Beurteilung dieser Fragen keine ganz neue Theorie des Moralischen aufgestellt werden muss. Probleme, die zwar neu sind, weil der Mensch sie bis heute kaum zum Gegenstand der eigenen Intervention machen konnte, sind ohne weiteres mit klassischen Kriterien der Ethik bewertbar.
Von Tierversuchen zur Neuroinformatik
Im Folgenden versuchen wir dies anhand der von uns gemachten Dreiteilung kurz zu umreissen und Überlappungen der Problembereiche deutlich zu machen: In die erste Kategorie der sogenannt klassischen Probleme fallen neben den bereits erwähnte Hirntod-Diskussion auch die häufig diskutierten Probleme der Gentests bzw. der Gentherapie. Dabei wird Chorea Huntington oft als Standardbeispiel für ein Leiden eingeworfen, das sich zwar bereits Jahre vor Krankheitsausbruch diagnostizieren, aber nicht behandeln lässt. Heute weiss man, dass gewisse Formen von Parkinson oder Depression ebenfalls erbliche Komponenten haben. Die Argumentationsformen der Bioethik ändern hier nicht, nur weil das spezifische Problem direkt mit dem Gehirn zu tun hat.
Die Tierversuchsfrage führt von den «klassischen» zu den «sich verschärfenden Problemen». Die Neurowissenschaft «verbraucht» einerseits vergleichsweise viele Tiere. Dies hat damit zu tun, dass diese Experimente kaum ersetzt werden können. Kulturen von Nervenzellen verhalten sich nun einmal anders als Neuronen im sich entwickelnden Gehirn. Ihre charakteristische Verschaltung kann in Zellkulturen nicht reproduziert werden. Andererseits bringt aber gerade die Hirnforschung neue Erkenntnisse über das «Geistesleben» von Tieren. Es zeichnet sich die Möglichkeit einer «bewusstseinsmässigen Verwandtschaft» zwischen Menschen und höheren Primaten ab, was Experimente an Primaten zweifellos zunehmend in Frage stellen wird. Eine verstärkte Diskussion in diesem Bereich ist bereits angelaufen und wird wohl noch an Bedeutung gewinnen.
Ebenfalls in die Kategorie der sich verschärfenden Problemen fallen die Zusammenhänge zwischen gewissen Formen abnormen Sozialverhaltens und Hirnschäden. Zunehmende Kenntnisse um diese Zusammenhänge dürfte zum Beispiel die Diskussion um die Psychochirurgie anheizen. Eingriffe wie etwa die Lobotomie wurden vor einigen Jahrzehnten an Zehntausenden von Menschen durchgeführt, ohne dass Tierversuche eine ausreichende Grundlage dafür geliefert hatten. Heute wird die Psychochirurgie sehr kritisch beurteilt und kaum mehr durchgeführt. Fortschritte in der Hirnforschung könnten aber zu ihrer Renaissance führen, was frühzeitig einer ethischen Beurteilung unterworfen werden muss. Die enormen Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren verleiten bereits jetzt dazu, abnormes Sozialverhalten mit struturellen Unterschieden im Hirnaufbau in Beziehung zu setzten. Weitergehende Forschungen könnten durchaus zum Resultat führen, dass beispielsweise gewisse Formen von aggressivem Verhalten quasi materiell exakt im Gehirn lokalisiert werden und schliesslich einem therapeutischen Eigrunff zugänglich gemacht werden könnten. Derartige Entwicklungen zeigen sich heute auch bei der Transplantation von Hirngewebe. Die Übertragung von Stammzellen in das Gehirn von Parkinsonpatienten, derzeit noch in der Versuchsphase, erscheint hier vielleicht noch harmlos. Mit ähnlichen Methoden liessen sich in Zukunft aber möglicherweise auch psychische Zustände und kognitive Leistungen beeinflussen.
Hier gelangen wird zum dritten von uns angesprochenen Problemfeld, wo auf Grund der noch sehr spekulativen Abschätzung künftiger Möglichkeiten die ethischen Probleme am schwierigsten klar zu benennen sind. Sicher scheint, dass jener Bereich der Neurowissenschaft, der im Hirn nach Inspiration für neue Technologien sucht, von der Gesellschaft mit grösster Skepsis beurteilt wird. Denn diese Forschung kann sich kaum auf medizinische Versprechungen berufen, sondern sieht sich vielmehr einer «Frankenstein-Kritik» ausgesetzt: Neuroinformatik will quasi das wichtigste Organ des Menschen nachbauen _ auch wenn dies bis in weite Zukunft kein realisierbares Unterfangen ist.
Den ethischen Vorbehalten stehen die vielversprechenden wirtschaftlichen Aussichten von Technologien gegenüber, die aus der Neuroinformatik erwachsen. Diese Schlussfolgerung lässt sich zumindest aus den OECD-Prognosen zum Wachstum der Märkte in den Bereichen «Neurogesundheit» und Informationstechnologie ziehen. Für erstere wird weltweit ein lineares Wachstum vorausgesagt, letztere Märkte wachsen exponentiell. Damit besteht eine Nachfrage nach neuen Ansätzen in der Informationstechnologie, welche wohl unter anderem von der Neuroinformatik geliefert werden.
Neue Schnittstellen Mensch-Maschine
Die ingenieurhaften Züge dieser Form von Neurowissenschaft dürfte dazu führen, dass sich die Schnittstelle Mensch-Maschine in absehbarer Zeit bis hin in den kognitiven Bereich ausdehnt. Diesbezügliche Möglichkeiten der Neuroprothetik formulierte der Wissenschafter Miguel A. L. Nicoletis kürzlich in einem in der Zeitschrift «Nature» veröffentlichten Beitrag «Actions from thoughts»1. Dabei geht es nicht nur darum, dass das Gehirn auf künstliche motorische oder sensorische Ersatzsysteme zurückgreifen kann. Die Flexibilität des Hirns lässt es denkbar erscheinen, dass es dereinst auch mit dem Input von Apparaturen fertig werden kann, die sich nicht an menschlichen Sinnesorganen orientieren. So könnte ein Sinn für elektrische oder magnetische Felder mit dem Gehirn verschaltet werden, was die kognitiven Fähigkeiten des Menschen auf schwer voraussagbare Weise verändern könnte. Denkbar ist auch, dass Bewusstsein verstärkt zu einer manipulierbaren Grösse wird, was Philosophen wie Thomas Metzinger zur Forderung nach einer «normativen Psychologie» veranlasste. Es sollte demnach darüber nachgedacht werden, was «wünschbare Bewusstseinszustände» sein könnten. Ganz neu ist dieses Problem nicht, haben die Menschen es doch schon seit Jahrtausenden verstanden, ihr Bewusstsein mittels Drogen zu beeinflussen.
Eine technisch orientierte Neurowissenschaft wird aber zu einer Reformulierung des Begriffs «Maschine» beitragen. Bekanntlich geht das materialistische Paradigma _ und die meisten Hirnforscher sind Materialisten _ davon aus, dass letztlich «nur» komplexe Interaktionen von Materie all das verursachen, was wir Geist nennen. Neuroinformatik ist zwar kein Forschungsprogramm in Richtung eines «künstlichen Bewusstseins» in Analogie zu den computerwissenschaftlichen Programmen «künstliche Intelligenz» oder «künstliches Leben». Trotzdem wird ihr starke Fokus auf die technologische Verfügbarkeitsmachung des Hirnwissens in einem stärkeren Sinn als andere Hirnforschung zu einem „Maschinenbild“ des Menschen beitragen. Freilich stellt sich hier die Frage, ob nicht auch unsere Vorstellung von einer „Maschine“ ändern wird. Paradigma beitragen
Nicht der Phantasterei erliegen
Hier muss man aber aufpassen: Gerade dieser Bereich weckt weitgehende Phantasien einer umfassenden «technologischen Überwindung des Menschen» _ als Beispiel seien hier die Überlegungen von Ray Kurzweil genannt. Nanotechnologie und Hirnforschung stecken heute noch in den Kinderschuhen. So sind zentrale Konzepte wie der Informationsbegriff in den Neurowissenschaften immer noch nicht geklärt. Angesichts der schwerwiegenden Folgen solcher Entwicklungen gilt es aber, die Problematik des Abwägens zwischen wirtschaftlichen Chancen und wissenschaftlichem Faszinosum einerseits und der Gefahr technischer Fehlentwicklungen andererseits in diesem Bereich schärfer zu diskutieren als in anderen Bereichen des technischen Fortschritts.
Bevor man vorschnell die jetzigen und die künftigen Errungenschaften der Neuroinformatik abschliessend ethisch bewertet, scheint es uns deshalb prioritär, dass man die potenziellen Folgen ihrer Implementierung analysiert. Die sogenannte Technikfolgenabschätzung hat ein Instrumentarium entwickelt, mit dem man wahrscheinliche von unwahrscheinlichen Folgen unterscheiden kann und Szenarien skizzieren kann, die wiederum von einer gesellschaftlicher Perspektive aus eingeschätzt werden können.
Angesichts des Fortschritts in den Neurowissenschaften lassen sich somit zwei Forderungen an die Ethik stellen: Zum einen darf die klassische Bioethik nicht in der Diskussion um Gentechnik und ihre Folgen verharren, sondern muss sich vermehrt auch um den Fortschritt in den Neurowissenschaften kümmern. Zum anderen wird man auf das Instrument der Technikfolgenabschätzung zurückgreifen müssen, um den Bereich der «Hirn-inspirierten Technologie» zu beleuchten. Unser Gemeinwesen braucht an dieser Stelle keine absolute Verbote oder fixfertige Rezepte. Wesentlich nützlicher sind Empfehlungen, die uns verschiedene realistische Wege vorzeichnen, unter denen wir provisorische Präferenzen formulieren und durchsetzen können.