Ist das globale Finanzsystem noch robust?
Die Erforschung komplexer Systeme macht Krisen verständlich und vermeidbar
Die aktuelle Finanzkrise ist Ausdruck eines Systemwandels, der das Wirtschaftsgefüge in den vergangenen Jahren schleichend aber tiefgründig verändert hat. Diese These ergibt sich aus einer Analyse der Finanzwelt aus der Perspektive der Theorie komplexer Systeme. Die Kernfrage lautet demnach: welche Eigenschaften machen das Finanzsystem robust?
R. James Breiding, Markus Christen und Dirk Helbing
Ist die derzeitige Finanzkrise anders als die Vorangegangenen? Zu dieser Frage finden sich derzeit die unterschiedlichsten Antworten. Doch nicht die Antworten sind interessant, sondern die Beschreibung des Finanzsystems, welche ihnen zugrunde liegt. Offensichtlich hat die gängige mathematische Modellierung der ökonomischen Prozesse und der damit verbundenen Risiken versagt – und dies in einer Zeit, in welcher sie bitter nötig gewesen wären. Diesem Versagen liegt unserer Ansicht nach weniger ein fehlerhaftes Anwenden der Risikobewertungsmodelle, sondern eine falsche Beschreibung des Finanzsystems zugrunde. Seit den frühen 1980er Jahren hat sich das Finanzsystem grundlegend umgestaltet, was als Ausdruck systemischer Veränderungen der Finanzmärkte zu werten sind. Stichworte hier sind die Schaffung neuer Finanzinstrumente wie Derivate, eine Beschleunigung auf allen Prozessebenen und ein umfassender Abbau von Hindernissen für den internationalen Kapitalverkehr. Die derzeitige Aufarbeitung der Krise konstatiert zwar durchaus diese Sachverhalte, ohne aber den Systemaspekt genügend herauszuarbeiten – sie ist daher inadäquat und lückenhaft. Unserer Ansicht nach muss die Robustheit des Finanzsystems untersucht werden – ein Begriff aus der Komplexitätstheorie, die nach universellen Mustern des Verhaltens und der Entwicklung komplexer Systeme sucht. Wir wollen zeigen, dass dieser Ansatz für die Erklärung der momentanen Krise nützlich ist, weil er deutlich macht, wie die oben angesprochenen Veränderungen des Finanzsystems dessen Robustheit unterminiert haben.
Komplexe Systeme erfassen
Komplexe Systeme sind charakterisiert durch zahlreiche interagierende Akteure und Faktoren. Beispiele dafür sind soziale oder ökonomische Systeme, der Strassenverkehr, das Verhalten von Massen oder Ökosysteme. Deren Verhalten ist oft durch die interne Dynamik dominiert. Versuche, sie von aussen zu steuern, führen häufig zu unerwarteten Ergebnissen. Einblick in solche Systeme kann man über drei Schritte erlangen. Zuerst gilt es, die Akteure und ihre lokale Interaktionen möglichst umfassend zu erkennen und in einem Netzwerk abzubilden. Danach wird festgehalten, welche Eigenschaften des Systems für seinen Zustand und seine Dynamik fundamental sind. Die Festlegung, was ein „guter“ Zustand ist, bringt dabei ein normatives Element ins Spiel. Drittens werden die wichtigen externen Einflüsse auf das System bestimmt, auf die das System selbst keinen Einfluss hat.
Viele derart erfasste komplexe Systeme – ob natürliche oder künstliche – zeigen gemeinsame Eigenschaften: So existieren Phasen, in welchen sich das Systemverhalten kaum ändert, obgleich Interaktionen innerhalb des Netzwerkes sowie äussere Einflüsse durchaus stärker schwanken. Das System ist stabil – nicht im Sinn, dass nichts passiert, sondern dass Veränderungen begrenzt und voraussehbar sind, auch wenn dies nicht von den einzelnen Akteuren beabsichtigt ist. Ändern sich aber äussere oder innere Bedingungen des Systems, kann diese Stabilität zusammenbrechen – man spricht von einem regime shift: Das Systemverhalten ändert sich massiv. Zum Beispiel verschwinden etablierte Akteure, und neue tauchen auf. Die entsprechenden Prozesse sind oft kaskaden- oder lawinenartig und ihre statistische Häufigkeit (so genannte long-tail-Verteilungen) weicht deutlich von der Normalverteilung ab, welche Grundlage vieler heutiger Risikomodelle bilden. Die Fähigkeit eines Systems, solche Umwälzungen zu vermeiden, nennt man Robustheit. Diese Robustheit soll hier im Zentrum der Analyse des Finanzsystems stehen – denn oft sind es interne Interaktionen, welche dessen Robustheit bestimmen.
Zum Verständnis von Robustheit ist es hilfreich, die Stabilitätseigenschaften anderer komplexer Systeme zu eruieren, zum Beispiel von Ökosystemen. Diese waren im Verlauf der Evolution zahlreichen Störfaktoren ausgesetzt und haben dennoch (oder gerade deshalb) eine erstaunliche Stabilität erreicht. Fünf Schlüsseleigenschaften komplexer Systeme haben sich im Verlauf der Evolution als vorteilhaft für deren Robustheit erwiesen: Vielfalt, Redundanz, Kompartimentierung, geringe Vernetzung („sparseness“), und aufeinander abgestimmte Zeitskalen. Vielfalt – also das Vorhandensein unterschiedlicher Akteure im System – ermöglicht Anpassungsfähigkeit und garantiert, dass nicht alle Akteure gleichzeitig in eine Stabilitätskrise geraten. Redundanz erlaubt es dem System, mit dem Ausfall von Komponenten umzugehen. So müssen erst mehrere Stricke gleichzeitig reissen, bis sich ein Problem zur Krise auswächst. Falls die Störung dennoch zu gross ist, etwa durch die unglückliche Koinzidenz mehrerer Probleme, hilft Kompartimentierung. Die Unterteilung des Netzwerkes von Verbindlichkeiten in untereinander wenig verbundene Teilnetzwerke, würde es beispielsweise erlauben, Teilsysteme mittels „Sollbruchstellen“ voneinander zu entkoppeln, um damit eine Ausbreitung von Störungen über das gesamte Finanzsystem zu verhindern – ein Prinzip, das beispielsweise die Royal Navy erstmals für den Bau von Schlachtschiffen angewandt hatte, um diese trotz eines Torpedotreffers einsatzfähig zu halten. Die Forderung nach Sparseness ist im Sinne dieser Entkoppelung. Sie trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass Interaktionen zwischen Akteuren Ressourcen verbrauchen. Ein System mit vielen Interaktionen oder Verknüpfungen ist also ineffizient. Zusätzlich sind abgestimmte Zeitskalen erforderlich, d.h. die Dauer der Prozesse im System muss derart koordiniert sein, dass sie sich gegenseitig nicht in die Quere kommen.
In komplexen Systemen sind aber auch Prozesse am Werk, welche natürlicherweise destabilisierend wirken. Wichtig sind insbesondere ein als „selbstorganisierte Kritikalität“ bezeichneter Effekt, Intransparenz als Folge einer „Überkomplexität“ und Zeitverzögerungen (delays). Im Fall des Finanzsystems beinhalten zudem auch die Marktmechanismen selbst ein instabiles Element.
Kritikalität und Intransparenz
„Selbstorganisierte Kritikalität“ meint, dass sich ein System selber in einen kritischen Zustand manövriert. Sie resultiert in unserem Fall daraus, dass Banken um Kunden konkurrieren. Irgendwann werden die Margen so gering, dass die Risiken wachsen und eine unerwartete Entwicklung zur wirtschaftlichen Schieflage führen kann. Das entsprechende Unternehmen könnte Konkurs gehen oder übernommen werden – ein natürlicher Vorgang der Marktbereinigung in einer marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie. Gefährlich ist allerdings, wenn sich viele Akteure gleichzeitig auf den kritischen Zustand hinbewegen – was in der aktuellen Krise tatsächlich der Fall war, weil die aussergewöhnlich tiefe Inflation in den letzten 20 Jahren die Investoren zum Eingehen höherer Risiken motivierte. Die Banken befriedigten diesen Risikoappetit durch mortgage backed securities, welche höhere Rendite mit scheinbar gleich bleibenden Risiko versprachen. Doch je mehr Hypotheken gekauft wurden, desto geringer wurde die Rendite und desto mehr stiegen die Hauspreise: Die Preise im amerikanischen Hypothekenmarkt etwa haben von 2000 bis 2006 verdoppelt, während die US-Löhne im gleichen Zeitraum um nur 14 Prozent stiegen – ein typisches Beispiel selbstorganisierter Kritikalität.
Gegen diesen Effekt wirkt die oben erwähnte Kompartimentierung. Die Bekämpfung von Waldbränden ist dabei eine gute Analogie. In Gebieten, die man einer natürlichen Entwicklung überlässt, gibt es zahlreiche, aber begrenzte Waldbrände aufgrund natürlicher Feuerschneisen. Die Unterdrückung dieses Prozesses kann viele Brände in einem frühen Stadium verhindern, aber wenn sie doch einmal ausbrechen, wird ihre Ausbreitung oft unkontrollierbar – es kommt zum Flächenbrand. Die geldpolitischen Interventionen der Fed in den vergangenen Krisen lassen sich derart interpretieren, dass sie die Bildung natürlicher Feuerschneisen verhindert haben. Gleichzeitig entzogen sich durch das Packaging von Hypotheken und deren weltweiter Verkauf rund 40% der damit verbundenen Werte der nationalstaatlichen Regulierung – man hat also gleichzeitig darauf verzichtet, in grosse Waldgebiete überhaupt das Aufkommens von Waldbränden zu kontrollieren.
Auch ein Anwachsen von Intransparenz ist an sich ein natürlicher Prozess. Die Evolution komplexer Systeme zeichnet sich aus durch eine zunehmende Differenzierung, die wiederum neue Strukturen und Prozesse ermöglicht – und im Falle sozialer Systeme folglich neue Experten erfordert, die in einer komplexer werdenden Welt Teilaspekte der Komplexität überblicken. Dies kann man in der Globalisierung der Wirtschaft, der Gesetzgebung und Rechtsprechung, sowie in den Finanzmärkten gut beobachten. Die zunehmende Komplexität reduziert die Transparenz und damit die Steuerbarkeit. Ein Beispiel dafür ist, dass in den letzten Jahren wurden immer neue und komplexere Finanzprodukte (Derivate) geschaffen wurden, die auf bestehenden aufbauten. Dies schafft zwar neue Möglichkeiten, was sich an der enormen Ausweitung der in Derivaten repräsentierten Werte widerspiegelt. Diese binden derzeit über 500 Billionen Dollar (zwei Grössenordnungen mehr als 1980) – darunter befinden sich Instrumente wie Credit Default Swaps, die es damals noch gar nicht gegeben hat, heute aber schwer zurechenbare Werte im Bereich 45-60 Billionen Dollar repräsentieren (je nach Quelle). Die Instrumente wurden also immer komplizierter. Dies wird insbesondere dann zum Problem, wenn auf der Ebene der Experten die Stabilitätsfaktoren Vielfalt (unterschiedliche Ansätze zur Risikobewertung) und Redundanz (unterschiedliche Experten untersuchen die gleichen Risiken) unter Druck geraten. Doch genau das passierte in den vergangenen drei Jahrzehnten: Im wesentlichen drei Unternehmen – Standard & Poor's, Moody's und Fitch Ratings mit einem weltweiten Marktanteil von über 90% – nehmen die Bewertung und damit die Verknüpfung realweltlicher Güter mit den im Finanzsystem gehandelten Werten vor. Dies ist nichts anderes als ein Herdeneffekt auf Seiten der Akteure der Finanzmärkte.
Beschleunigung und De-Kompartimentierung
Ist die Zeitdauer von Prozessen in komplexen Systemen nicht aufeinander abgestimmt, kommt es zu vielfältigen delay-Problemen, die sich im Finanzsystem auf unterschiedlichen Ebenen widerspiegeln. Zunächst einmal auf einer kurzfristigen Zeitskala: Als im Zug der momentanen Finanzkrise an mehreren Tagen starke Kurseinbrüche zu verzeichnen waren, kamen die Computer mit der Abwicklung der Transaktionen zum Teil nicht mehr hinterher. Die Folge war, dass Orders zeitverzögert ausgeführt wurden und das Echtzeittrading in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wenn eine Steuerung unerwartet verzögert reagiert, wird man auf das Ausbleiben des erwarteten Effektes mit stärkeren Eingriffen reagieren, was zu Überreaktionen führt. Diesen Effekt nennt man im Strassenverkehr „Stau aus dem Nichts“. Warum sollen Finanzmärkte kurzfristig nicht auf ähnliche Weise einbrechen?
Auf einer längeren Zeitskala zeigt sich, dass es Monate gedauert hat, bis man eine Übersicht über die Risiken und Verluste gewonnen hat. Dies ist vermutlich nicht nur Ausdruck der oben beschriebenen Dynamik, sondern Ergebnis einer De-Kompartimentierung. Seit Beginn dieses Jahrzehnts wurde in rascher Zahl neue Finanzprodukte entwickelt wie beispielsweise Verbriefungen (Securitizations), also die Schaffung von handelbaren Wertpapieren aus Forderungen oder Eigentumsrechten im weitesten Sinne. Dabei wurde – unter anderem wegen mehrstufiger Verbriefung – zunehmend unklar, welche realweltlichen Güter sich hinter diesen Papieren verbargen. Abgesichert wurde der mit diesen Produkten verbundene Bewertungsprozess von den Rating-Agenturen – mit der Intuition, man habe durch die Verknüpfung unterschiedlicher realwirtschaftlicher Bereiche das Risiko „verteilt“. In Tat und Wahrheit hat man damit die Voraussetzung geschaffen, dass sich eine Krise ungehindert ausbreiten kann.
Dies ist ein wichtiger Gedanke: Alle bisherigen Börsenkrisen zeichneten sich dadurch aus, dass sie an definierte und sachlich oder geografisch abgrenzbaren realweltliche Güter festgemacht werden konnten: Die Internet-Blase von 2000 betraf überbewertete Dotcom-Firmen, die Asien-Krise die Wirtschaft in den aufstrebenden Tigerstaaten. Innerhalb solcher Kompartimenten kommt es immer wieder zu Euphorie und Panik – aber ihre Wirkung bleibt beschränkt. Im Finanzsystem hatten staatliche Regulierungen diese Kompartimentierung aufrecht erhalten. Ein Beispiel ist die amerikanische Glass-Steagall Act, welche eine Trennung des Investment-Banking von sonstigen Bankgeschäften forderte – doch diese Kompartimentierung fiel 1999. Solche Abgrenzungen sind aber nicht nur ein sachlich, sondern auch psychologisch wichtiges Stabilisierungselement: gerade in Krisenzeiten neigt menschliches Entscheidungsverhalten zu raschen, intuitiven Urteilen, die sich an einer solchen Gliederung der (wirtschaftlichen) Lebenswelt orientieren. Zudem ist sie Voraussetzung dafür, dass staatliche Kontrollen effektiv wirken können und dass in Krisenzeiten der Prozess der Neubewertung nicht zu viel Zeit braucht.
Systemische Instabilität und Vertrauen
Schliesslich sei noch ein Blick auf die (Auktions-)Mechanismen geworfen, die an Finanzmärkten wirken. Die Möglichkeit, nicht nur mit Gewinnen, sondern mittels Leerverkäufen auch mit Verlusten Profit machen zu können, führt zu interessanten Konsequenzen. Am Auf und Ab der Märkte kann man im Prinzip schneller Geld verdienen als an einem kontinuierlichen Wachstum. Die theoretischen Gewinnchancen erhöhen sich also mit der Variabilität der Märkte, was folglich zur Volatilität der Kurse führen kann. Die Marktmechanismen sind also nicht so konstruiert, dass sie zu stabilen Aktienkursen führen. Vielmehr handelt es sich – wie beim Laufen – um das Phänomen einer Instabilität, der ständig gegengesteuert wird. Gelingt letzteres jedoch nicht, so kann das Ergebnis quasi der „freie Fall“ sein. Diese systemische Instabilität wirkt dabei umso gefährlicher, je geringer die finanzielle Absicherung der Akteure ist. In der Tat zeigt sich diesbezüglich beispielsweise in den USA ein deutlicher Wandel im Vergleich zu den frühen 1980ern: So verfünffachten sich die Verschuldung der US-Haushalte in Prozent des verfügbaren Einkommens auf derzeit rund 130% und jene der US-Banken in Prozent des BIP auf derzeit rund 110%. Unter diesen Bedingungen haben Veränderungen der Bewertungen von Unternehmen als Folge der systemischen Instabilität der Finanzmärkte einen weitaus gravierenden Effekt.
Hinzu kommt, dass der an Aktienmärkten verwendete Auktionsmechanismus quasi materielle Werte und Psychologie miteinander vermischt. So kann es vorkommen, dass durch das Ausbleiben von Kaufinteressenten Preise ins Bodenlose fallen. Daher muss auch das soziale Netzwerk, das der Bewertung realweltlicher Güter zugrunde liegt, betrachtet werden, widerspiegeln marktwirtschaftlich entstandene Preise doch auch das Vertrauen (oder Misstrauen) hinsichtlich der Brauchbarkeit des entsprechenden Gutes für den gewünschten Zweck. Dieses „eingepreiste Vertrauen“ ist der Grund, warum wirtschaftliche Transaktionen kein Nullsummenspiel sind und damit physikalisch gesehen keine Erhaltungssätze wirken. Der Bewertungsprozess ökonomischer Güter ist an ein soziales Netzwerk interagierender Personen geknüpft, wobei die Interaktion den Grad des Vertrauens zwischen den Beteiligten ausdrückt (Vertrauens-Netz). Dies bedingt einen minimalen Grad an „Intimität“ zwischen den Beteiligten – ausgedrückt unter anderem durch Häufigkeit und Dauer der Interaktion. Das dabei generierte Vertrauen verbindet das realweltliche Gut mit dessen Preis, der dann seinerseits Gegenstand von Transaktionen im Finanzsystem wird.
Doch auch dieses Vertrauens-Netz wurde in den vergangenen Jahren beschädigt. Zahlreiche Gründe haben die Häufigkeit und Dauer der Interaktion beim Prozess der Bewertung eines ökonomischen Gutes vermindert: Geografische Distanzen zwischen Geschäftspartnern nahmen zu, geschäftsintern wurden Zeitvorgaben für die Abwicklung von Deals gemacht, Zweitmeinungen wurden aus Kostengründen nicht mehr eingeholt, Sprachbarrieren nahmen zu, Anreizstrukturen innerhalb der Firmen führten dazu, dass Arbeitnehmer rascher ihre Stelle wechselten etc. Die Tatsache, dass Investoren die Aktien von Nasdaq-kotierten Unternehmen derzeit im Durchschnitt nur noch zwei Monate halten (in den 1980ern waren dies im Schnitt vier Jahre) ist nur ein Beispiel für dieses Problem. Faktisch ist ein solches Unternehmen bei jedem Quartalsbericht mit einer neuen Eigentümerstruktur konfrontiert – und das in einem forschungsintensiven Wirtschaftsbereich, der langfristige Investitionen benötigt.
Kontrolleigenschaften nutzen
Eine Analyse des heutigen Finanzsystems unter dem Blickwinkel der Theorie komplexer Systeme offenbart also ein differenzierteres Bild als die heutige Bewertung der Krise als einen „grösseren Börsencrash“. Die letzten Monate zeigten alle Anzeichen eines ausser Kontrolle geratenen Flächenbrandes. Die laufen zunehmenden Abschreibungen der Banken zeigen, dass nicht mehr klar ist, was eine „subprime mortgage“ überhaupt ist – der Name für die gegenwärtige Krise ist also irreführend. Aus diesem Grund kursieren auch sehr unterschiedliche Schätzungen hinsichtlich des gesamten Abschreibungsbedarfs in der Grössenordnung von 170 Milliarden (Bank of England) über 400 Milliarden (OECD) bis gegen eine Billion Dollar (IMF) – die Schätzungen liegen also um einen Faktor 6 auseinander.
Wir denken deshalb, dass die derzeitige Diskussion über die Nutzen und Zulässigkeit von Kapitalspritzen der Zentralbanken zu kurz greift. Sie düngen quasi ein Ökosystem, das seine Stabilitätseigenschaften weitgehend verloren hat. Die Frage der Kontrolle eines Systems muss an dafür relevanten und oben beschriebenen Eigenschaften ansetzen. Die Analyse der Faktoren, welche die Systemrobustheit beeinträchtigen oder stabilisieren, bietet dazu Lösungsansätze. Daher ist die Beschreibung sozio-ökonomischer Systeme als komplexe Systeme nicht nur ein leistungsstarker Ansatz zum besseren Verständnis dieser Systeme, sondern auch zur Milderung oder Verhinderung von Krisen. Dies verlangt jedoch einen Ausbau entsprechender Forschungskapazitäten. Die ETH Zürich hat daher kürzlich das Kompetenzzentrum „Coping with Crises in Complex Socio-Economic Systems“ gegründet. Es vereint Forscherinnen und Forscher mit Mehrfachkompetenzen in den Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die sich mit der Beschreibung und Stabilisierung von sozialen und ökonomischen Systemen befassen.
Publiziert unter ETH-CCSS