Eine kurze Geschichte des Lärms
Von Markus Christen
Ist die Welt lauter geworden? Man ist geneigt, diese Frage mit Ja zu beantworten. Autos, Lastwagen, Züge, Flugzeuge, Industriekomplexe, Unterhaltungselektronik geben Geräusche von sich, die mehr und mehr als Lärm empfunden werden. Doch die Antwort ist abhängig vom Zeitraum über welchen man den Lärm misst. Als in der Frühzeit der Erde zahllose Vulkane brodelten, Feuer spien und explodierten, muss der Lärm unerträglich gewesen sein – zumal das mutmasslich lauteste Geräusch der Neuzeit die Explosion des Vulkans Krakatau im August 1883 gewesen war. Nur hörte in der Frühzeit der Erde natürlich niemand hin. Dazu kommt, dass der Schritt von der Lautstärke zum Lärm kein einfacher ist und die Resultate der Lärmforschung demnach nicht einfach aus der Physik des Schalls folgern. Es gilt, die gesamte Kette vom Schall über die akustische Wahrnehmung bis zur Bedeutung dieser Wahrnehmung zu verstehen.
Vom Schall zum Sensor
Auch wenn Lärm keine physikalische Grösse ist, steht doch die Akustik am Anfang der Wissenschaft über den Lärm. Physikalisch gesehen ist Schall eine mechanische Schwingung in einem elastischen Medium – üblicherweise Luft. Schwingungen sind charakterisiert durch ihre Frequenz und ihre Amplitude. Erstere definiert die Tonhöhe bei einer reinen Schwingung, letztere die Stärke des Schalls – technisch gemessen als Schalldruck. Durch gleichzeitiges Messen beider Grössen erhält man ein Schallspektrum. Je nach Aussehen dieses Spektrums lassen sich typische Schallereignisse wie ein Knall, ein Geräusch, ein Ton oder ein Klang unterscheiden.
Schall ist demnach ein mechanisches Phänomen. Die Fähigkeit der Wahrnehmung dieses Phänomens bedingte in der biologischen Evolution die Entwicklung eines mechanischen Sensors, des Hörsinns. Die ersten mechanischen Sensoren entwickelten sich bei Lebensformen, die im Wasser lebten und diente unter anderem der eigenen Ausrichtung im Raum. Aus diesem Gleichgewichtsorgan hat sich dann bei den Wirbeltieren der Hörsensor entwickelt. Er ermöglichte später auch die akustische Kommunikation zwischen Individuen derselben Art – ein zentraler Entwicklungssprung in der biologischen Evolution.
Vom Ohr zum Gehirn
Das menschliche Gehör übersetzt das mechanische Schallsignal via Mittelohr und Innenohr in Nervenimpulse. Dieser Vorgang ist komplex und faszinierend leistungsfähig. So können (junge) Menschen über ein Spektrum von 10 Oktaven Töne wahrnehmen, die sich in ihrer Frequenz um lediglich 0.2 Prozent unterscheiden. Das Ohr kann Unterschiede im Schalldruck verarbeiten, die sich um den Faktor eine Million unterscheiden – vergleichbar mit einer Waage, welche ein Gramm wie eine Tonne gleichermassen wiegen kann. Dies ermöglicht es dem Ohr, eine grosse Bandbreite an Schallsignalen zu verarbeiten. Leise Geräusche werden aktiv verstärkt und für laute Geräusche besteht bis zu einem gewissen Grad ein Schutzmechanismus. Die Verstärkung ist die Voraussetzung dafür, dass man sich auch in einer lauten Umgebung unterhalten kann. Das Gehör verstärkt und filtert im Verbund mit dem Gehirn selektiv jene Aspekte des einkommenden Schalls heraus, die man hören will.
Ursprünglich hatte Hören eine rein passive Funktion – als Sensor, der ständig darauf aus ist, akustische Merkmale von Gefahren zu erkennen. Auch heute funktioniert unser Gehör in diesem Modus, ist es doch auch während des Schlafens aktiv, ohne dass alle akustischen Wahrnehmungen unser Bewusstsein erreichen. Weitaus zentraler ist für uns aber die aktive Funktion des Hörens, die sich mit der Fähigkeit zur Kommunikation entwickelt hat. So wie es eine optische Landschaft gibt, existiert auch eine akustische Landschaft, die vom Gehirn geschaffen wird. Diese wird von akustischen Objekten bevölkert, in der Schallwahrnehmungen zu einem einheitlichen Bild der akustischen Welt finden.
Man kann Lärm als ein störendes Objekt in der akustischen Landschaft auffassen. Der Lärmbegriff deckt sich aber nicht mit jener Klasse von (lauten) Geräuschen, die das Ohr längerfristig schädigen – also etwa der regelmässige Besuch lauter Konzerte. Es ist wissenschaftlich auch umstritten, ob die Wirkungen der als Lärm empfundenen akustischen Wahrnehmungen auf das hormonell-vegetative System (Steigerung der Herzfrequenz oder Ausschüttung von Stresshormonen) Ursache dafür sind, dass diese Geräusche negativ bewertet werden.
Lärm und das Konzept der Belästigung
Die Lärmforschung stützt sich deshalb in letzter Zeit auf den Begriff der «Belästigung». Lärmbelästigung wird definiert als Mischung aus leichtem Ärger darüber, dass man etwas hören muss (was man nicht hören will), dass man bei einer Tätigkeit gestört wird, sowie dass man gegen die Quelle relativ machtlos ist. Es hat sich gezeigt, dass Belästigung ein vergleichsweise guter Indikator der negativen Schallwirkung ist und mit den physikalischen Eigenschaften des Schalls am besten korreliert. Die Belästigung ist deshalb in der Forschung der am häufigsten erhobene Messparameter und wird auch in der Gesetzgebung als Lärmwirkungsindikator beigezogen, wenn etwa Grenzwerte festgelegt werden.
Der Begriff der Belästigung hat auch eine kulturelle Einbettung, die mit generellen Ansichten der betroffenen Personen über die Lärmquelle zu tun hat. So hat eine Fluglärmstudie der ETH Zürich kürzlich gezeigt, dass die Belästigung umso stärker empfunden wird, je negativer Fluglärm insgesamt bewertet wird, je mehr Gesundheitsprobleme aufgrund des Lärms befürchtet werden und je grösser die Furcht vor einer Zunahme des Lärms ist. Es wäre nun aber erneut ein Fehler aus solchen Überlegungen den Schluss zu ziehen, man könne beispielsweise durch entsprechende «Umerziehung» der Anwohner das Fluglärmproblem rund um Kloten lösen. Vielmehr gilt es, das psychische und letztlich auch soziale Element als inhärente Komponente des akustischen Wahrnehmungsprozesses anzusehen. Das Lärmproblem wird damit zum Teil eines immerwährenden politischen Kampfes darum, welche Welt wir eigentlich wollen.