Nachdenken über die Zeit
Im Alltag vergeht die Zeit einfach - manchmal zu schnell, oft auch zu langsam. Unablässig wird der Fluss der Zeit vom Ticken der Uhr zerhackt. Doch was ist Zeit eigentlich? Diese Frage haben Philosophen wie Wissenschaftler gleichermassen seit Jahrtausenden zu beantworten versucht. Und die Antworten zeigen einen verwirrenden Einblick in etwas Selbstverständliches.
Was wäre, wenn es keine Zeit gäbe? Auf solch seltsame Fragen können natürlich nur Philosophen kommen. Der Lauf der Zeit ist für uns derart selbstverständlich, dass es schlicht sinnlos erscheint, sich eine zeitlose Welt vorzustellen. Schon die reinste Form der Abstraktion - das Denken - scheint unweigerlich an die Zeit gekoppelt zu sein. Als etwa der französische Philosophe René Descartes in seiner von allem sinnlichen Ballast befreiten Welt nur das „Ich denke, also bin ich“ gelten liess, braucht dieses denkende Irgendwas doch Zeit, um diesen ach so tiefen Satz zu ersinnen und in seiner Bedeutung zu erkennen- oder etwa nicht? Vielleicht ist dieser Satz einfach einmal da und unser Gefühl, dass wir in der Zeit denken, ist eine von vielen Illusionen, die uns das Leben schwer machen. Oder erschafft sich unser Hirn die Zeit, um die Welt überhaupt verstehen zu können? Philosophiert man über die Zeit, wird bald klar: die Frage „Was ist Zeit?“ schlüsselt sich in viele unterschiedliche Teilfragen auf, die im Laufe der Zeit zu überraschenden Antworten geführt haben.
Zeit gleich Veränderung
Heikel ist es sicher immer, wenn derart selbstverständliches wie der Fluss der Zeit hinterfragt werden soll. Der Alltag weist uns zwar darauf hin, dass das Empfinden von Zeitabschnitten durchaus subjektiv geprägt ist. Doch unsere unbestechnlichen Atomuhren sollten doch den Lauf der Dinge klar und objektiv strukturieren. Was gibt es da zu hinterfragen? Offenbar haben aber Philosophen wie Wissenschaftler eine ganze Menge Einwände und Überlegungen ersonnen. So spielten Fragen eine Rolle wie: Was ist das Wesen der Zeit? Wie wichtig ist Zeit? Gibt es eine absolute Zeit oder ist diese relativ zu anderen Dingen? Hat es Zeit schon immer gegeben? Je nach Epoche haben einzelne dieser Fragen eine grosse Bedeutung für das „Seelenheil“ des intellektuellen Lebens gehabt, wie im folgenden deutlich wird.
Eine Übereinstimmung gab und gibt es bei der Frage nach dem Wesen der Zeit. Zeit bedeutet Veränderung. Anders gesagt: würde alles immer gleich bleiben wäre es nicht möglich, den Fluss der Zeit zu erkennen. Veränderung kann sich dabei verschieden ausdrücken: Dinge können sich bewegen, Situationen können sich ändern, Lebewesen wachsen und vergehen. Dass sich also dauernd etwas ändert, wird ein Mensch auf den ersten Blick nicht bezweifeln können. Der Mensch hat es sogar geschafft, periodische Veränderungen als solche zu erkennen und hat diese in Maschinen - Uhren - gefesselt; auf dass man immer weiss, wie spät es ist. Der Zusammenhang zwischen dem Lauf der Zeit und ihrer Messung hat gerade in der modernen Physik erstaunliche Erkenntnisse zutage gebracht.
Die frühen Philosophen hatten aber zuerst eine ganz andere Frage im Kopf. Sie thematisierten den Stellenwert der Zeit: Ist diese ein zentraler Bestandteil unserer Realität oder blosser Schein? Bereits im alten Griechenland führte diese Frage zu einer Kluft zwischen zwei Ansichten, die tiefe Spuren in der Geschichte der Wissenschaft hinterlassen hat.
Parmenides versus Heraklit
Auf der einen Seite stand der Philosoph Parmenides von Elea (geboren um 540 v.Chr.). Für Parmenides war klar: Das Sein des Menschen ist im wesentlichen durch Unveränderlichkeit und Unbeweglichkeit gekennzeichnet. Zu diesem Schluss kam er nicht durch eine Analyse helvetischer Politik. Vielmehr hielt er den Ablauf der Zeit an sich für eine Illusion. Sein Schüler Zenon entwickelte daraus eine Reihe bekannter antiker Paradoxien, die unter anderem auch beweisen sollten, dass das Empfinden der Zeit eine Illusion sei. Auch der grosse Platon (geboren 427 v.Chr.) kann man in diese Tradition einordnen. Er entwickelte ein Erkenntnisideal, das lange wirkte. Platon meint: die ewigen Formen sind zeitlos, die beobachteten Dinge jedoch sind nur Schatten ihres wahren Wesens. Damit wird auch die Zeit unbedeutend, denn nur die unvollkommenen Dinge zeigen Anzeichen der Veränderung. Und der Ablauf der Zeit lässt sich eben nur durch Veränderungen feststellen.
Eine ganz andere Antwort auf die Frage „Welchen Stellenwert hat die Zeit“ geht auf Heraklit von Ephesus (ebenfalls geboren um 540 v.Chr.) zurück. Ihm wird das berühmte „panta rhei“ (alles fliesst) zugeschrieben. Die Veränderung und damit der Fluss der Zeit sind für Heraklit zentral. Auf diesen Fluss des Geschehens sollte sich deshalb alle Versuche von Erklären und Erforschen richten. Aristoteles (geboren 384 v.Chr.), die klassische Gegenposition zu Platon, lässt sich in diese Tradition einreihen. Er versuchte eine erste genauere Bestimmung des Wesens der Zeit und bestimmte diese als Kontinuum - die Zeit fliesst gleichmässig ohne Ecken und Kanten.
Diese tiefe Kluft zwischen den Ansichten über die Bedeutung der Zeit hatte bereits in der Antike grosse Auswirkungen auf die Wissenschaft. Sie bestimmte, was „wahre Erkenntnis“ sein kann und damit auch, über was man überhaupt forschen sollte. Die frühe griechische Mathematik und Naturwissenschaft stand eindeutig auf der Seite von Parmenides. Sie beschäftigte sich mit vollkommenen Kreisen, invarianten Harmonien, der Bedeutung der reinen Zahlen - also mit dem, was wir heute statisch nennen würden. Aristoteles wiederum setzte ganz andere Schwerpunkte. Nich das vollkommene, zeitlose Sein, sondern die erfahrbare Welt mit ihrem Werden und Vergehen soll von der Wissenschaft untersucht werden.
Auch in der neueren Geschichte der Wissenschaft zeigen sich Anzeichen dieser Kluft: Am Anfang der modernen Wissenschaft zu Beginn der Neuzeit stand die Bewegung im Zentrum des Interesses - also ein Vorgang in der Zeit. Von Galileo Galileis Fallexperimenten und Keplers Gesetze über die Bewegung der Gestirne bis hin zu Isaak Newton (wir befinden uns da im 16. und 17. Jahrhundert) - der Zeit wurde ausdrücklich eine tragende Rolle zugestanden.
In der Zeit nach Newton entwickelte sich eine Sichtweise, die immer einflussreicher wurde und schliesslich bis vor relativ kurzer Zeit die Weltanschauung der meisten Physiker bestimmte. Man entdeckte, dass es in der Natur Erhaltungsgrössen gibt. Die Gesamtenergie oder der Gesamtinpuls beispielsweise von abgeschlossenen Systeme bleiben erhalten. Damit ergab sich eine höchst elegante Beschreibung der Natur, wobei aber die Zeit an Bedeutung verlor. Die Unveränderlichkeit (Invarianzen) gewisser Grössen schien nun grundlegender zu sein als die Regeln, welche deren zeitliche Veränderungen beschreiben. Man hat sich also wieder dem Erkenntnisideal von Platon angenähert und die ewige Wahrheit erhielt die Form einer mathematisch ausgefeilten Theorie. Wenn sich was im Laufe der Zeit ändert, sollen doch die Ingenieure damit rechnen, so die „grossen Denker“.
Der Zeitpfeil
Befriedigen kann diese Ansicht nicht ganz. Die moderne Wissenschaft hat den Anspruch, sich auf die erfahrbare Welt abstützen zu wollen. Diese ändert sich offensichtlich dauernd. Das grösste Problem der Theoretiker ist dabei, dass die Zeit offenbar eine Richtung hat: Es gibt eine Vergangenheit und eine Zukunft, man spricht von „Zeitpfeil“. Bedauerlicherweise ist das den meisten physikalischen Gesetzen egal. Die Superhirne mögen zwar über den profanen Lauf der Dinge hinwegsehen. Ihr Denkgebäude muss aber zumindest erklären können, wie es zu einem „vorher - nachher“ kommen kann.
Einen Ausweg liefert der berühmte „Zweite Hauptsatz der Thermodynamik“. Er ist der theoretische Ausdruck dafür, dass alles immer schlimmer wird. Oder korrekter, dass sich Systeme im Laufe der Zeit von geordneten zu ungeordneten Zuständen bewegen, wenn man keine Energie von draussen hineinbuttert. In diesem Gesetz spielt die Zeit eine zentrale Rolle und es bietet auch den Theoretikern eine Erklärung dafür, warum es Vergangenheit und Zukunft geben kann.
Die heutige Wissenschaft hat zudem unter dem Stichwort „Evolution“ den Lauf der Zeit wiederentdeckt. Jetzt ist die Frage interessant: Wie kam es zu dieser komplexen Welt, die wir heute kennen? Man könnte also sagen, dass nicht Platon, sondern vermehrt wieder Aristoteles das Wissensideal der heutigen Wissenschaft beschreibt.
Schon diese kurzen Ausführungen zeigen, dass die Frage nach der Bedeutung der Zeit durchaus ihren Widerhall in der Entwicklung der Naturwissenschaft gefunden hat. Spätestens seit Newton ist aber eine andere Frage aufgeworfen worden: Gibt es eine absolute Zeit oder ist die Zeit in irgendeinem Sinn relativ und damit auch gestaltbar? Dieses Problem hat ein enormes religiöses Potential, denn es betrifft die Frage des Verhältnisses zwischen Gott und Zeit und auch die Frage, ob es einen Beginn der Zeit gegeben hat oder nicht.
Schuf Gott die Zeit?
Viele Religionen kennen einen Schöpfungsmythos. Gott oder mehrere Gottheiten haben demnach die Welt in irgend einer Weise erschaffen. Doch haben sie auch die Zeit geschaffen? Der biblische Schöpfungsmythos lässt letzteren Schluss zu. Dort steht: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ - es gab also einen Anfang. Zudem schied Gott Licht von der Finsternis und erfand damit das Zeitmass Tag. Die frühen christlichen Gelehrten, beispielsweise Augustinus, vertraten denn auch klar die Ansicht, dass die Zeit mit der Welt geschaffen wurde. Als es das Weltall noch nicht gab, gab es keine Zeit und damit auch keinen Begriff von „vorher“. Mit dieser Vorstellung konnten die Gelehrten des Mittelalters die quälende Frage vermeiden, was sich vor der Erschaffung der Welt abspielte und was Gott damals tat.
Die zweite Auffassung geht davon aus, dass die Zeit ein absoluter Hintergrund ist und die Welt demnach in der Zeit erschaffen wurde. Zeit hat es demnach schon immer gegeben und sie fliesst für immer dahin - selbst Gott hätte da nichts zu sagen. Im Rahmen dieser Vorstellung ist es dann auch sinnvoll zu fragen, was vor der Erschaffung der materiellen Welt geschah und was nach ihrem Ende passieren könnte. Ein Vertreter der absoluten Zeit war Newton, der diese neben dem absoluten Raum postulierte. Egal was also auf dieser Welt passierte, zwei Dinge (mit Gott genaugenommen drei, denn Newton war sehr religiös) währten ewig in Newtons Welt: Der Raum als „unendliches Gefäss“ ist gegeben und in diesem verstrich die Zeit gleichförmig - unabhängig davon, was passierte.
Einstein und die Zeitreise
Spätestens mit dem Namen Albert Einstein verbindet sich eine nachhaltige Erschütterung dieser Vorstellung. Einstein ging davon aus, dass das wesentliche an der Zeit deren Messung ist. Einstein ersetzte Newtons Postulat der absoluten Zeit durch das Postulat der immergleichen Lichtgeschwindigkeit. Aus diesen Überlegungen entstand die Relativitätstheorie mit ihren absurd erscheinenden Konsequenzen: Plötzlich kann die Zeit verschieden schnell verstreichen, Uhren gehen langsamer wenn man sie bewegt - die Zeit ist relativ geworden. Dies ist keine Spinnerei, sondern durch Experimente bestätigt worden. So hat man beispielsweise zwei Atomuhren hochpräzise aufeinander abgestimmt. Eine davon schickte man mit einem schnellen Jet auf Reisen, die andere blieb, wo sie war. Ein Vergleich beider Uhren ergab, dass jene, die auf Reisen war, weniger Zeit auf dem Buckel hatte als die andere.
So hat sich der Zeitbegriff der heutigen Wissenschaft schon stark von unseren alltäglichen Vorstellungen verabschiedet. Es kommt übrigens noch schlimmer, wenn man die Quantentheorie beizieht - die Wissenschaft des ganz kleinen. Dort spricht man schon von der Möglichkeit von Zeitreisen, denn diese sind bei bestimmten Interpretationen der Quantentheorie nicht mehr ausgeschlossen. Jedenfalls erscheint es möglich, dass man widerspruchsfrei in die Zeit zurückreist und seine Eltern daran hindert, sich kennenzulernen - man wechselt einfach das Universum.
Noch bizarrer wird es, wenn man Ergebnisse der modernen Hirnforschung mitberücksichtigt. Dort kennt man das sogenannte Phi-Phänomen, das folgendermassen funktioniert: Zwei verschiedene Farbflecken leuchten in kurzer Zeit an unterschiedlichen Stellen auf. Die Versuchsperson nimmt diese als ein sich bewegender Farbfleck wahr, der in der Mitte der Bewegung seine Farbe ändert. die Versuchsperson nimmt dabei (subjektive Zeit) an, dass der Farbwechsel passiert, bevor (objektive Zeit) überhaupt der zweite Farbfleck aufgeleuchtet ist. Das Gehirn betrügt uns also und „datiert“ Ereignisse zurück. Diese und andere Ereignisse lassen Forscher zum Schluss kommen, dass zumindest unser Zeitempfinden tatsächlich eine Form von Illusion ist, die uns das Gehirn vorspiegelt, damit wir die Welt verstehen können. Hier kann man auch die Gedanken von Altmeister Immanuel Kant ( geboren 1724) einflechten: Dieser berühmte, wegen seinen riesigen Werk „Alleszermalmer“ genannte Philosoph vertrat nämlich die Ansicht, dass die Zeit gar kein Bestandteil unserer Realität sein kann. Sie ist vielmehr der Realität „vorgelagert“, indem sie es dem Menschen überhaupt ermöglicht, Realität wahrnehmen zu können. Oder komplizierter: Zeit ist bei Kant eine der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.
Nach all dem können Sie also getrost zurücklehnen, sollten Sie sich einmal verspätet haben. Vielleicht sind Sie ja nur zu schnell gerannt. Oder ist etwa Ihr Gehirn falsch getaktet?