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René Riedo: Integration ist geben und nehmen

Zur Person: René Riedow ist Generalsekretär der Eidgenössischen Ausländerkommission und wissenschaftlicher Berater in Integrationsfragen. Riedow studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und befasste sich in seiner Dissertation mit Ausländerpolitik. Er ist mit einer Wienerin ungarischer Abstammung verheiratet.

Die eidgenössische Ausländerkommission

Die eidgenössische Ausländerkommission (EKA) befasst sich mit Fragen, die sich aus der Anwesenheit der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz ergeben. Dies betrifft soziale, wirtschaftliche, kulturelle, politische, demographische und rechtliche Aspekte. Sie wurde 1970 als Expertenkommission des Bundesrates gegründet, mit der Aufgabe, Möglichkeiten des Zusammenlebens von einheimischen und Ausländern aufzuzeigen - vor allem im Hinblick auf die ausländischen Arbeitskräfte. Dieser Auftrag hat sich im Laufe der Zeit erweitert: Heute befasst sich die EKA mit vielen Aspekten der Migrationsproblematik. Im Vordergrund steht dabei die Aufgabe, die Integration der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz zu fördern - mit Fragen der Asylpolitik befasst sie sich hingegen nicht. Die EKA dient insbesondere auch als Ombudsstelle und Drehscheibe zwischen den Ausländerorganisationen und -dienststellen sowie den Bundesbehörden und richtet sich mit ihren Empfehlungen an die einheimische wie ausländische Bevölkerung gleichermassen. Derzeit besteht die EKA aus 28 Mitgliedern, darunter sechs ausländischer Herkunft. Sie ist dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unterstellt.


Stellen wir uns vor, Sie würden in einem Land der Driten Welt unter erbärmlichen Bedingungen leben. Würde Sie die Schweiz anziehen?

Würde ich an einem Ort leben, der kaum Perspektiven bietet, an dem ich aber durch die modernen Medien Kenntnis über das Leben in der Schweiz erhalte, so wäre die Schweiz zweifellos attraktiv für mich. Vor allem, wenn ich ein junger Mensch wäre und in einem Land mit hoher Jugendarbeitslosigkeit leben würde - und dadurch keine Zukunftsperspektive hätte. Ich verstehe den Wunsch nach einem besseren Leben, wenn auch die Gefahr nicht vergessen werden sollte, dass man die Schweiz als vermeindliches Paradies idealisiert.

Nehmen wir an, Sie würden aufbrechen ins „Paradies Schweiz“. Würden Sie lügen, um als Asylbewerber Aufnahme zu finden?

Wenn ich mich in die Rolle dieser Leute versetzen würde, so würde ich persönlich jede sich bietende Möglichkeit nutzen, um in die Schweiz zu kommen. Dass diese Bereitschaft vorhanden ist, muss man einfach sehen. Es sind denn auch die Schlepper, welche diese Hoffnung und Bereitschaft ausnutzen und davon profitieren.

Soll die Schweiz also nur „klassische Verfolgte“ aufnehmen, also Menschen, die in einem Unrechtsstaat wegen ihrer politischen Ansichten verfolgt werden?

Dieses Kriterium scheint mir zu eng gefasst. Denken sie etwa an die frauenspezifischen Fluchtgründe, die ebenfalls beachtet werden müssen. Doch Menschen, die ihre Flucht primär mit ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage begründen, sollten nicht als Asylbewerber gelten.

Sozialethiker sprechen oft von einem „Recht auf Arbeit“. Kann denn dieses nur national gelten?

Natürlich, denn man kann dieses Recht auf Arbeit nicht von anderen Faktoren wie politische Stabilität, Bildungsniveau u.s.w. trennen. Auf diese Faktoren hat nur der Einzelstaat Einfluss.

Manche Migrations-Experten sprechen vom „harm principle“, d.h. ein Staat muss Menschen aufnehmen, wenn dieser Staat für die Zustände im Heimatland mitverantwortlich ist. Ist das ein sinnvolles Prinzip?

Es tönt sinnvoll, bietet aber in der Praxis immense Schwierigkeiten. Betrachten sie das Beispiel Jugoslawien. Welche ausländischen Staaten sind mitverantwortlich für die dortige Situation? Soll man etwa bis zum Zweiten Weltkrieg oder gar bis zu den Türkenkriegen zurückkehren, um Mitschuldige zu suchen?

Gibt es denn irgend eine Art von Verantwortung der reichen Staaten gegenüber den ärmeren?

Auf jeden Fall. Wahrgenommen wird diese Verantwortung aber primär durch die Entwicklungshilfe und nicht durch eine ungebremste Aufnahme armer Menschen. Beachten muss man aber die Grenzen der staatlichen Souveränität. Manchmal hat auch Entwicklungshilfe kaum eine Wirkung, weil das politische Umfeld im betreffenden Staat nicht stimmt. Hier einzugreifen, ist realpolitisch sehr schwierig.

Als Staat kann die Schweiz aber souverän über ihre eigene Ausländerpolitik bestimmen. Mal abgesehen vom Asylbereich - welche Ausländer darf die Schweiz als Arbeitskräfte auswählen?

Es gibt tatsächlich Staaten, die selbst im Flüchtlingsbereich nur jene Menschen nehmen, die sie auch brauchen können. Die Schweiz wiederum hat sicher das Recht, bei der Aufnahme von Einwanderungswilligen jene auszuwählen, welche die Wirtschaft brauchen kann. Doch wir kennen auch die humanitäre Aufnahme von abgewiesenen Asylbewerbern, wo diese Überlegung keine Rolle spielt.

Also, obwohl man den Ausländer- und den Asylbereich strickt trennen will, gibt es gewissermassen ein „humanitäres Aufweichen“ der Trennungslinie. Gibt es Zahlen, die aufzeigen, wieviele abgewiesenen Asylbewerber am Schluss doch aufgenommen werden?

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, solche Zahlen zu erhalten. Wenn man sie hätte, wären sie zweifellos ein Politikum und ich bin nicht sicher, ob das dann dazu beiträgt, das Problem zu lösen. Mir scheint es zentral, dass der Wert Humanität nicht nur im Asyl-, sondern auch im Ausländerbereich zur Geltung kommt - beispielsweise beim Familiennachzug. Ich kenne viele Beispiele, wo lange hier lebende Ausländer über Asylbewerber fluchen, weil diese scheinbar problemlos in unser Land können, währenddem die eigene alte Mutter nicht in die Schweiz darf.

Ist die Schweiz eigentlich ein Einwanderungsland?

Die Schweiz wollte sicherlich kein Einwanderungsland werden, doch man darf die Augen vor der Realität nicht verschliessen: Die Schweiz hat einen grossen Anteil von Menschen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu uns gekommen sind und hier mit ihren Familien und Kindern leben. Sie sind aus unserer jetzigen Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr wegzudenken. Die Schweiz ist also zumindest ein Einwanderungland gewesen.

Wenn man jetzt bedenkt, dass manche Menschen, die sich jetzt als Asylbewerber geben, eigentlich einwandern und hier eine neue Existenz aufbauen wollen, wäre es nicht sinnvoll, ein Einwanderungsgesetz zu verwirklichen?

Diese Idee hat man geprüft und verworfen. Denn man muss sehen, dass man die Anzahl der Einwanderer pro Jahr begrenzen müsste und damit würde das Problem nur auf den Zeitpunkt verschoben, bis das Kontingent voll ist.

Wie würden Sie den Begriff „Humanität“ umschreiben?

Wir können sicher nicht in dem Sinn umfassend human sein, dass wir allen die Möglichkeit bieten, in der Schweiz ein besseres Leben zu führen. Das ist schlicht nicht realisierbar, hier müssen andere Lösungen gefunden werden, etwa durch Hilfe vor Ort. Anders sieht es aus, wenn Menschen aufgrund ihrer Rasse, Religion oder vergleichbarer Faktoren an Leib und Leben bedroht werden. Dort gebietet die Humanität eine Aufnahme. Jüngst sind wir mit einem weiteren Fall konfrontiert: den Flüchtlingen aus Kriegsgebieten. Hier haben wir das Instrument der vorläufigen Aufnahme - wie jetzt bei den Kosovo-Flüchtlingen.

Doch Kriege können Jahre dauern. Ist es human, die Menschen danach zurückzuschicken?

Dieses Problem besteht zweifellos. Deshalb scheint es mir sinnvoller, Möglichkeiten zur Aufnahme der Flüchtlinge in Nachbarländern zu schaffen, in welchen auch die Umgebung vertrauter ist, als in der Schweiz. Eine solche Politik muss auch besser mit der Schweizer Entwicklungshilfe koordiniert werden.

Was aber erst in der jüngsten Zeit passiert...

Das ist richtig. Wir müssen aber sehen, wir können nur so lange human sein, wie auch das Volk mitmacht und bereit ist, unsere Asylpolitik zu tragen.

Und wenn das Volk nicht mehr mitmacht, ist es dann inhuman?

Nein, das kann man sicher nicht sagen. Doch man muss sehen: Jeder macht sich Gedanken über seine eigene Zukunft, sein eigenes Umfeld. Dass Ängste auftreten können, wenn Ausländer dieses Umfeld immer mehr verändern, muss man verstehen und ernst nehmen.

Dieses Umfeld hat viel auch mit der staatlichen Identität der Schweiz zu tun. Wie sieht diese Schweizer Identität aus?

Das ist eine sehr schwierige Frage - allein schon deshalb, weil diese Identität wandelbar ist. Gerade bei der Integration von Ausländern vergessen das viele. Die Schweiz selbst versteht sich ja als Willensnation in dem Sinne, dass verschiedene Kulturen unter einem nationalen Dach Platz finden.

Aber was bedeutet denn Integration im Angesicht einer pluralistischen Schweiz? An welche dieser sich wandelnden Identitäten sollen Ausländer sich anpassen?

Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Hier braucht es eine Diskussion über unsere eigene Identität, die bisher kaum stattfindet. Welche Grundelemente, welche Werte machen unser Land aus?

Aber die Ausländerkommission müsste doch schon eine Antwort haben. Mit welchem Kriterium kann denn die EKA sonst klären, ob eine Integration erfolgreich verlaufen ist oder nicht?

In einem gewissen Sinn hat man bisher verhindert, dass die EKA diese Frage überhaupt beantworten kann, weil uns die notwendigen Mittel gar nicht zur Verfügung gestellt wurden. Eigentlich haben wir bisher vor allem Feuerwehrübungen durchgeführt, eine langfristige Strategie konnten wir nicht verfolgen. Dafür müssten wir auch vermehrt Präsenz in den Medien erhalten.

Wann ist denn für Sie eine Integration eines Ausländers erfolgreich verlaufen?

Integration ist dann erfolgreich, wenn die Anwesenheit von Ausländern bei Schweizern nicht Ängste hervorruft derart, dass der Kontakt und die Kommunikation abgebrochen wird. Dies verlangt vom Ausländer die Bereitschaft, unsere Gewohnheiten und unsere Kultur kennenlernen zu wollen und sich bis zu diesem Grad anpassen, dass ihre Werte nicht mit unseren kollidieren.

Mit welchen Werten kann sich denn die Schweiz gegenüber anderen Kulturen profilieren, welche sollte sie vertreten?

Da sind zum einen die Grundrechte unserer Verfassung zu nennen. Einer der damit verbundenen Werte, der mit den Vorstellungen von Ausländern kollidieren kann, ist die Chancengleichheit der Geschlechter. Wenn wir etwa feststellen, dass diese in einem orthodox-muslimischen Haushalt nicht gewährleistet wird, indem Mädchen nicht in die Schule geschickt werden, kann man sich nicht auf Multikulturalität berufen. Andererseits muss man den Ritualen anderer Kulturen auch ihren Platz einräumen. Ich sehe kein Problem darin, dass man auf gewissen Friedhöfen Areale reserviert, wo Muslime gemäss ihren Vorstellungen bestattet werden können.

Aber ihre Grundwerte muss die Schweiz durchsetzen...?

Das ist richtig. Wenn wir das nicht können, verlieren wir in einem gewissen Sinn unsere Heimat und der einzelne Mensch ist auf dem Glatteis. Wie können wir uns denn mit den Werten anderer auseinandersetzen und letztlich auch annehmen, wenn wir selbst nicht bereit sind, für unsere Werte einzustehen? Wenn der Einzelne diese Unterstützung nicht erhält und dadurch im Gefühl lebt, was er denke, werde nicht anerkannt, entstehen eben gerade diese Ängste, welche die Ausländerfrage zum Problem machen. Und man kann es auch anders sehen: Oft haben die Ausländer, die zu uns kommen, klare Wertvorstellungen, währenddem viele bei uns solche nicht haben und auf der Suche nach neuen Werten sind. Die Ausländer machen uns auf unseren Wertverlust aufmerksam und wecken dadurch unsere Ängste.

Und machen manche von uns dadurch zu Rassisten...?

Ich glaube nicht, dass dieser Zusammenhang so einfach ist. Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass Rassismus auch dort auftaucht, wo praktisch keine Ausländer leben. Andererseits muss man verstehen, dass in Stadtteilen, wo der Ausländeranteil sehr hoch ist, die einheimische Bevölkerung das Gefühl erhalten kann, ihre Wurzen zu verlieren. Diese Ängste muss man wie schon gesagt ernstnehmen und ihnen durch Massnahmen wie städtebauliche Attraktivierung oder auch Änderung der Schulkreise, um den Ausländeranteil in Schulklassen zu verkleinern, entgegentreten.

Soll man denn alles tun, um Konflikte zwischen Schweizern und Ausländern zu verhindern?

Nein. Wenn verschiedene Kulturen zusammen in Kontakt treten, sind Konflike nicht zu vermieden. Doch es ist einfach falsch zu glauben, Konflikte seien per se schlecht. Wir sind leider Gottes zu wenig geschult worden, um mit solchen Konflikten in einem positiven Sinn umzugehen. Gerade im Ausländerbereich treten sofort Ängste hervor, wenn es zum Konflikt kommt: Der Schweizer hat das Gefühl, ein Rassist zu sein, wenn er seinen Standpunkt vertritt und der Ausländer glaubt, er bekomme eh nur Probleme mit der Fremdenpolizei, wenn er seine Sicht der Dinge darlegt. Diese Situation muss überwunden werden.

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