Jeder Gentest braucht Beratung
Gen-Beraterin: Suzanne Braga hat sich schon früh in ihrer medizinischen Laufbahn auf den Bereich Genetik konzentriert und ist heute eine der bekannten Schweizer Expertinnen im Bereich Gen-Diagnostik. In dieser Funktion ist sie Mitglied der EJPD-Kommission, die das Genomanalyse-Gesetz erarbeitet hat. Dieses wird noch in den kommenden Wochen in die Vernehmlassung geschickt. In ihrer Praxis für genetische Beratung in Bern hilft Braga Frauen bzw. Paare bei Fragen der pränatalen Diagnostik sowie Menschen, die von Erbkrankheiten betroffen sind.
Bieler Tagblatt: Nehmen wir an, der Gentest für Fettleibigkeit sei schon da. Nun kommt ein Paar zu Ihnen und will eine entsprechende pränatale Diagnose. Was sagen Sie diesem Paar?
Suzanne Braga: Ich würde zuerst einmal fragen, wie das Paar dazu kommt, dass Fettleibigkeit für sie ein Problem darstellt. Hier können sehr viele Dinge hineinspielen wie Ängste oder eigene Erfahrungen. Aus diesem Grund ist eine genetische Beratung immer auch gekoppelt mit einer psychologischen Hilfestellung und ich bin auch entsprechend ausgebildet. Im geschilderten Fall könnte man beispielsweise fragen, ob die Mutter schon eigene Erfahrung mit Fettsucht hat und inwieweit diese bei positivem Befund dem Kind helfen könnten, mit dem Problem umzugehen.
BT: Aber ist Fettleibigkeit eine Krankheit?
Braga: In gewissen Fällen schon. Zudem muss man sehen, dass der Begriff der Gesundheit auch seelische und soziale Komponenten einschliesst. Wird man ausgegrenzt, weil man dick ist, so kann dies für die betroffene Person sehr schwer sein.
BT: Sollte man nicht die Gesellschaft entsprechend ändern anstatt nach „Fett-Genen“ zu suchen?
Braga: Man muss hier zwei Dinge unterscheiden: Zum einen gibt es eine Gesellschaft, die in ihrer Werthaltung mitbeteiligt ist, wie Menschen ihre Gebrechen einschätzen. Sie haben mich aber nach einem Problem eines individuellen Paares gefragt. Hier muss ich Sorgen und Ängste zuerst einmal ernst nehmen. Ich empfehle auch nie irgendwelche Gen-Tests. Am Anfang steht das Gespräch. Erst dann wird sich zeigen, ob und warum bestimmte Gen-Tests angebracht sind. Man muss also das individuelle Problem von der gesellschaftlichen Problematik unterscheiden. Bei der individuellen Seite gibt es keine Patentrezepte. Dort müssen alle Fragen im Zusammenhang mit der jeweiligen Situation betrachtet werden.
BT: Nimmt der Druck auf Frauen zu, sich einer pränatalen Diagnose zu unterziehen?
Braga: Ich erlebe da verschiedenes. Zum einen gibt es Ärztinnen und Ärzte, die solchen Tests immer kritische gegenüber stehen. Andererseits höre ich auch von Fällen, wo den betroffenen Frauen gesagt wurde, man mache solche Tests einfach. Das weitaus wichtigste Instrument der pränatalen Diagnostik, der Ultraschall, ist aber unbestritten. Würde ein Arzt einer Frau den Ultraschall verweigern, gäbe es wohl eine Palastrevolution. Ich könnte mir aber vorstellen, dass in Zukunft gewisse Gentests so leicht wie Schwangerschaftstests handzuhaben sind. Dabei muss man aber eins klar sehen. Solche Testergebnisse werden nie eine Garantie abgeben, ob ein Kind gesund ist.
BT: Von Behinderten wird oft eingeworfen, die pränatale Diagnostik mache sie „vermeidbar“ und sie fühlen sich in ihrem Selbstverständnis verletzt. Was sagen Sie dazu?
Braga: Ich kann dazu eine Geschichte erzählen. Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis hatte einen Bruder, der an Muskelschwund starb. Als sie ihr erstes Kind erwartete, sagte sie, sie wolle keine vorgeburtlichen Tests, denn sie würde sonst ihren Bruder in Frage stellen. Bei ihrem zweiten Kind wollte sie dies unbedingt. Sie sagte mir, sie sei nun Mutter eines fröhlichen, lebendigen Kindes und sieht dazu den Kontrast zu ihrem Bruder, der sein Leben im Rollstuhl verbrachte und am Schluss kaum mehr atmen konnte.
BT: Das ist die Sicht einer Nichtbehinderten...
Braga: Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass Behinderte mit Erbkrankheiten durchaus kein Problem darin sehen, dass ihre Krankheit mittels Tests pränatal abgeklärt werden. Denn sie wissen, was es heisst, mit diesem Leiden zu leben und wollen dies anderen nicht zumuten. Das heisst aber nicht, dass sie ihr eigenes Leben deshalb verneinen. Offenbar stellen sich aber vor allem jene Behindertenorganisationen ins öffentliche Rampenlicht, die einen Zusammenhang zwischen Behindertendiskriminierung und pränataler Diagnostik sehen.
BT: Was bedeutet eigentlich das „Recht auf Nichtwissen“ im Zusammenhang mit Gen-Tests?
Braga: Das „Recht auf Nichtwissen“ bedeutet, dass man nicht zu Gen-Tests gezwungen werden darf. Dies ist absolut notwendig und es wäre auch sinnlos, solche Tests zu verlangen. So lassen sich heute zwar mit Gen-Tests gewisse Krankheitsrisiken erkennen, doch eigentliche Therapien sind nicht vorhanden. Solche Tests sind also nur sinnvoll für Menschen, die bei einem allfälligen positiven Befund bereit sind, das Krankheitsrisiko durch eine veränderte Lebensweise zu senken.
BT: Warum sollten Arbeitgeber nicht in bestimmten Fällen - z.B. um bei Piloten das Risiko für Herzkrankheiten abzuschätzen - Gen-Tests verlangen dürfen?
Braga: Dies darf nicht erlaubt werden. Auch im Arbeitsverhältnis muss doch Vertrauen eine Rolle spielen. Selbst wenn wir mittels Gen-Tests alle möglichen Krankheitsrisiken von Einzelmenschen wissen könnten, wäre der soziale Preis zu hoch. So kann man doch nicht zusammenleben.
BT: Versicherungen wiederum dürfen schon heute bestimmte Diagnosen verlangen. Sollten sie auch Gen-Tests verlangen dürfen.
Braga: Hier stossen wir an die Grenzen der Solidarität. Vom Standpunkt der Versicherungen gibt es sicher gute und schlechte Risiken. Doch es sind nicht nur die Gene, die dazu beitragen. Konsequenterweise müsste man auch fragen, welche gefährlichen Sportarten jemand macht, wieviel Genussmittel man konsumiert und so weiter. All diese Faktoren halten sich, so glaube ich, über die ganze Bevölkerung gesehen mehr oder weniger die Waage. Zudem ist es unfair, solche Tests zu verlangen: Bestimmte Krankheitsrisiken lassen sich mittels Gentests ermitteln, andere nicht. Wollten die Versicherungen ihre Risiken vollständig - d.h. auch mittels Gen-Tests - ermitteln, müsste jeder einzelne sein Leben derart offenlegen, dass die Solidarität stirbt und das Zusammenleben unerträglich würde.
BT: Was würde passieren, wenn immer mehr Gen-Tests frei erhältlich wären? Jeder könnte dann sein Erbgut untersuchen...
Braga: Das darf nicht passieren. Will man solche Tests bei sich anwenden, müsste es eine Art Informationspflicht geben. Der Betroffene müsste sich also zuvor beraten lassen, damit dieser überhaupt weiss, was da getestet wird.
Stichwort pränatale Diagnostik: Mittels pränataler (vorgeburtlicher) Diagnostik wird beim Embryo oder beim Fötus abgeklärt, ob Probleme verschiedenster Art (Erbkrankheiten, Deformationen, falsche Lage) vorliegen. Das wichtigste Instrument ist der Ultraschall. Mittels Gen-Tests lassen sich heute etwa 300 Erbkrankheiten - die meisten davon sind sehr selten - abklären. Meist geschieht dies nur dann, wenn bei den betroffenen Familien derartige Krankheiten schon aufgetreten sind. Der Anteil der Gen-Tests an der pränatalen Diagnostik ist heute noch sehr klein.