Was heisst Entwicklung? Überlegungen zu einem schillernden Begriff
Alle wollen sich entwickeln - aber wohin?
Nächsten Montag beginnt das Haager Forum zu Bevölkerungswachstum und Entwicklung. Einmal mehr steht dabei das Zauberwort „Entwicklung“ im Zentrum der Erörterungen. Seit Jahrzehnten gibt es aber unterschiedliche Ansichten darüber, was Entwicklung überhaupt bedeuten soll.
„Entwicklungshilfe“, „Entwicklungszusammenarbeit“, „Entwicklungspolitik“ - dies sind nur ein paar wenige Schlagworte einer Diskussion, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Dauerbrenner geworden ist. Eingebettet ist diese in die Nord-Süd-Problematik, welche sich aber spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in immer wieder neuen Facetten präsentiert. Periodisch geraten dabei Themen wie Armut, Bevölkerungswachstum oder wirtschaftliche Abhängigkeiten ins Zentrum der Debatte. Angesichts der momentanen Turbulenzen in den weltweiten Finanzmärkten ist letzterer Aspekt ins Scheinwerferlicht gerückt - um wohl bald wieder von anderen abgelöst zu werden.
„Entwicklung“ beschreibt dabei jenen grundlegenden Prozess, der die angesprochenen Probleme überwinden soll. Anders gesagt, der Begriff ist positiv besetzt und bringt einen erwünschten Wandel bestimmter menschlicher Gesellschaften oder der Menschheit als Ganzes zum Ausdruck. Mit dieser ersten Festsetzung macht man sich noch keine Feinde, denn erst die Fragen nach der Richtung und dem Ziel, dem Tempo und den Akteuren des Wandels spalten die Gemüter.
Erhellendes bringt dabei ein kurzer Blick in die Geschichte. Bis zum Beginn der Moderne verstand man Entwicklung im Sinn einer heilsgeschichtlichen Teleologie: Gott gab die Leitlinien vor und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft war dadurch im wesentlichen vorbestimmt. Die Aufklärung wandelte dieses Bild: Entwicklung wurde zur Aufgabe des einzelnen Individuums, zum „Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie der deutsche Philosoph Immanuel Kant sagte. Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder auch Karl Marx entwarfen später ein Historismus, der ein „Sich-Entwickeln“ der Gesellschaft nach inneren Gesetzen annahm. Die Ökonomen und liberalen Theoretiker des 19. Jahrhunderts sahen in Entwicklung primär das Schaffen von Wohlstand. Im 20. Jahrhundert wurden mit dem Entwicklungsbegriff auch Fortschritte im Bereich Soziales und Menschenrechte verknüpft. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Begriff stark mit der Nord-Süd-Frage verknüpft und dem Umgang der Industriestaaten mit den nachkolonialen Ländern der Dritten Welt.
Die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs wurde angesichts dieser vielfältigen Ansätze vorgespurt. Wichtig ist, dass Entwicklung sowohl beschreibend (indem man den historischen Wandel untersucht) wie wertend (indem man Ziele formuliert) verwendet werden kann. Wenn heute von Entwicklung die Rede ist, so findet letzterer Wortgebrauch Anwendung. Eine Definition des Begriffs ist also eng mit der Frage nach den Zielvorstellungen verknüpft, die durch Entwicklung erreicht werden sollen.
Redet man heute von Entwicklung, gibt man sich beinahe automatisch in das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Hier lauern viele Gefahren. Unbestritten ist, dass Traditionen menschlichen Gesellschaften Halt geben und deshalb nicht ersatzlos gestrichen werden können. Unbestritten ist auch, dass die Moderne nach europäisch-westlichem Muster eine Reihe von Segnungen gebracht hat, auf die eine grosse Mehrheit der Menschen nicht mehr verzichten will. Die Verbreitung der westlichen Moderne als Leitbild war aber kein humanitäres Projekt, sondern getrieben von Eigeninteresse, was kritische Distanz rechtfertigt. Umsomehr auch deshalb, weil genügend Beispiele bekannt sind, wo ein unangepasstes Übertragen westlicher Modelle in der Dritten Welt grossen Schaden angerichtet haben. Andererseits darf man auch nicht in eine Kulturromantik verfallen, welche die negativen Seiten fremder Kulturen leugnet und damit leicht in einen rigiden Traditionalismus münden. Denn viele Menschen in der Dritten Welt erfahren die eigenen Traditionen als Fesseln, die sie überwinden wollen - denkt man etwa an das indische Kastenwesen.
Da Entwicklung im heutigen Sinn verstanden immer auch die Frage nach den Zielen einschliesst, kommt man unweigerlich zum Problem, wie man zu solchen Zielen kommt. So hat man zum einen die Möglichkeit, bestehende Leitbilder zum Vorbild zu nehmen. Gemäss der These vom „Sieg des Kapitalismus“ würde dann das Leitbild der westlichen Demokratie den Unterentwickelten den Weg zur Erlösung leuchten. Dieses Modell hat aktuell einen schweren Stand, denkt man an die derzeitige Weltwirtschaftskrise, welche vor allem die Länder in Südostasien und Lateinamerika schwer treffen.
Doch auch die andere Vorstellung, die Entwicklungsländer selbst sollen ihre Ziele festlegen, stösst bald an grenzen. Zum einen stehen laufende Entwicklungsprozesse oft unter grossem Einfluss von internationalen Institutionen und deren Experten, so dass man die Autonomie der Entscheidungsträger mit Recht bezweifeln kann. Zum anderen sind viele Entwicklungsländer beileibe nicht demokratisch organisiert, so dass die Entwicklungsinteressen der Entscheider (ein schöner neuer grosser Staudamm) mit jenen der grossen Mehrheit (deren Felder durch den schönen neuen grossen Staudamm überflutet werden) nichts zu tun hat.
Trotz dieser Schwierigkeiten kann man einen auf breite Zustimmung stossenden Entwicklungsbegriff derart festlegen. Der Sozialwissenschaftler und Entwicklungspolitiker Johannes Müller sieht in Entwicklung jene Bemühungen, die menschliches Leid in all seinen Formen und Dimensionen überwinden bzw. in Grenzen halten sollen. Dabei kann man sich auf die Gewissheit stützen, dass es offensichtliche Formen von Leid wie Hunger, Krankheit und Folter gibt, die in allen Kulturen als solches empfunden werden.
Die heutige Entwicklungsdiskussion fokussiert dabei insbesondere die Armut, vor allem in ihrem absoluten Sinn: Armut, welche die Deckung der Grundbedürfnisse Ernährung, Unterkunft und Bekleidung verunmöglicht. Die Definiton der International Labour Organisation für die Grundbedürfnisse umfasst zusätzlich Aspekte wie das Inanspruchnehmen lebenswichtiger Dienste (sauberes Trinkwasser, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen) ein gewisses Recht auf Arbeit, auf politische Freiheiten und auf eine gesunde Umwelt. Ein weiteres Merkmal dieser Form von Armut ist ihr Zwangscharakter: Sie ist also nicht eine Folge eines vorübergehenden Zustandes wie Kriegszerstörungen - wo also Hoffnung auf Besserung besteht. Sie umschliesst den Menschen ein Leben lang: er wird arm geboren und stirbt arm. Diese Form von Armut ist die grundlegende Herausforderung heutiger Entwicklungspolitik.
Geht es darum, diese Armut in Zahlen zu fassen, treten aber sofort eine Reihe schwerwiegender Probleme auf. Diese fangen schon damit an, dass in den betroffenen Ländern kaum brauchbare statistische Zahlen gewonnen werden. Ländervergleiche bezüglich pro-Kopf-Einkommen sind deshalb immer mit grosser Vorsicht zu geniessen und haben bestenfalls qualitativen Charakter. Internationale Organisationen versuchen diese Unsicherheiten damit abzuschwächen, indem sie kombinierte Indikatoren verwenden: Seit 1990 verwendet das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen den sogenannten Human Development Index, der drei Dimensionen umfasst: Die Lebenserwartung bei Geburt, Der Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen und das nach realer Kaufkraft korrigierte Bruttoinlandprodukt pro Kopf.
In der heutigen Diskussion um den Entwicklungsbegriff wird zudem immer mehr auf das Dreieck Bevölkerungswachstum, Armut, Umweltzerstörung hingewiesen. Die Wechselbeziehung dieser drei Faktoren führt zum Teufelskreis der Unterentwicklung, hält beispielsweise der englische Wirtschaftswissenschaftler Partha S. Dasgupta fest. Gross in Mode gekommen ist schliesslich auch der Begriff der nachhaltigen Entwicklung.
REST FEHLT