Liegt die Zukunft der Philosophie im Rechner?
Markus Christen, UFSP Ethik, Universität Zürich
Anstatt über die Zukunft der Anderen zu philosophieren, sollten sich die Philosophen vielleicht einmal überlegen, was die Zukunft für ihr eigenes Fachgebiet bringen könnte. Also tun wir das doch einmal, inspiriert von Gedanken wie jenen von Nick Bostrom, der uns eine «Superintelligenz» prophezeit. Natürlich kann man es sich einfach machen und die Utopie gleich so konstruieren, dass sich die gewünschten Thesen wie von selbst ergeben. Der künstlich intelligente Rechner wäre dann wahlweise der Philosoph, der die bestbegründetsten Antworten auf all unsere Fragen geben könnte – oder aber ein denkendes System, das die Welt derart anders sieht, dass wir gar nicht erst in einen vernünftigen Dialog mit diesem treten können. Im schlimmsten Fall würde der Rechner die Menschheit gleich als fundamentales Problem erkennen, das vom Erdball getilgt werden müsste, wie uns Science-Fiction Geschichten bereits zur Genüge erläutert haben. Gehen wir also einen Schritt zurück und spekulieren wir über die Effekte der Digitalisierung unseres geistigen, philosophischen Lebens.
Was tun (akademische) Philosophinnen und Philosophen heute eigentlich? Eine persönliche Erinnerung geht zurück in die 1980er Jahre, als in einem an ein Hexenhäuschen erinnernden Gebäude in verrauchten Seminarräumen tiefschürfende Debatten geführt wurden. Nun ja, das Rauchen hat sich definitiv aus den Seminarräumen verabschiedet und zur Beurteilung der Qualität der heutigen Seminarraum-Debatten fehlt mir die statistische Basis. Klar ist aber, dass Philosophen Texte produzieren sollen, viele Texte. Und das hat sich natürlich durch die ersten Schübe der Digitalisierung – computergestützte Textverarbeitung und danach Zugang zu digitalisierten Texten via Internet – deutlich vereinfacht. Die Vorstellung, philosophische Texte heute mit Schreibmaschine oder gar von Hand zu verfassen, erscheint im heutigen akademischen Betrieb undenkbar. Wer will solche Seminararbeiten schon korrigieren, welche Datenbank handschriftliche Notizen digitalisieren, sofern sie nicht von den alten Meistern kommen? Die Nebenwirkungen solcher Behelfsmittel sind wohlbekannt: Abkupfern (auch von sich selbst), Philosophie als «Sampling» gewissermassen. Und quasi als Gegenschlag entstanden die Programme, welche die Originalität der neuen Texte mit immer grösser werdenden Datenbanken abgleichen, um so die akademischen Betrüger zu identifizieren. All das ist wohlbekannt.
Gehen wir nun einen Schritt weiter: Was ist zu erwarten, denn unsere digitalen Hilfsmittel nicht nur die syntaktischen Muster unserer philosophischen Texte erkennen, sondern auch in die Semantik eindringen können – in einem gewissen Sinn also «verstehen», was die Texte meinen. Ignorieren wir dabei einmal die wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf die künstliche-Intelligenz-Forschung, die ja immer wieder mit diesem nicht eingelösten Versprechen hausieren gegangen ist. Wir sollten uns realistischerweise darauf einstellen, dass solche Systeme kommen werden, auch wenn sie nicht perfekt sind. Was wird das zur Folge haben? Verschiedenes ist denkbar. Erstens dürften solche Systeme noch viel stärker als früher als «Mittelsmänner» zwischen dem philosophierenden Menschen und dem philosophischen Text wirken. Wer heute Interpretationen zu wichtigen philosophischen Werken schreibt, schätzt vermutlich die simplen Such- und Annotationsfunktionen heutiger Software. Künftig wird man sich mit freisprachlichen Fragen zum Text an diesen «Mittelsmann» wenden können – und dieser liefert dazu passende Textstellen. Vielleicht lernt das System auch das «Interpretationsmuster» des Philosophen und macht Vorschläge, an die man selbst noch gar nicht gedacht hat. Ob die damit produzierten Texte dann besser werden und was «besser» dann überhaupt bedeutet, ist so klar nicht.
Zweitens würden solche Systeme vermutlich zu einer grossflächigen Ernüchterung bezüglich des bestehenden philosophischen Textkorpus führen. Automatische inhaltserkennende Systeme werden Inhalte auch klassifizieren können, was neue Masse für Textähnlichkeit erlaubt. Es dürfte sich bestätigen, was viele schon vermuten: die erkundete Welt der Gedanken ist kleiner, als wir vermuten; der Grad an Wiederholung und die Menge des «alten Weins in neuen Schläuchen» dürfte (ironischerweise) ernüchternd gross sein. Man wird sich neu überlegen müssen, was ein «Plagiat» ist – ein Feld, das man hoffentlich nicht nur selbstgerechten Plagiatsjägern und Anwälten überlassen wird. Es wird sich auch eine neue Form des «Redens über Texte» entwickeln. Schon jetzt findet man die Netzwerkdiagramme der gegenseitigen Beeinflussung von Philosophen ganz hübsch, doch die Menge an visualisierender Hilfs-Software wird sich deutlich vergrössern. Auch die Philosophie wird sich der «Big Data» Zugangsweise zur Welt nicht ganz verschliessen können. Wir müssten wohl damit rechnen, dass der «data philosopher» zumindest eine ökologische Nische im philosophischen System besetzen wird.
Die dritte Entwicklung dürfte aber die interessanteste sein; wir kennen es bereits von der Musik: Mit künstlicher Intelligenz ausgerüstete Systeme werden beginnen, philosophische Texte zu schreiben, ähnlich wie Systeme heute bereits Musik komponieren. Die Rede ist dabei nicht von den simplen Textgeneratoren, welche als «postmodernism generators» bereits in den 1990er Jahren Zufallstexte erzeugten, um die Postmodernisten zu verulken. Nein, Systeme welche beginnen Inhalte zu «verstehen» (ohne das Wort in seinem ganzen Bedeutungsumfang zu verwenden) kreieren damit auch ein quantitatives Verständnis von Ideenräumen und erkennen damit auch kaum oder nicht begangenen Orte in diesem Raum. Natürlich wären solche Texte «sinnlos» dahingehend, dass der Rechner (zumindest bis auf weiteres) keine intrinsische Motivation hat, einen neuen philosophischen Beitrag zu leisten. Doch für den menschlichen Philosophen entstünde damit ein Ideengeber, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Kurz gesagt müssen sich die Philosophinnen und Philosophen auf eine Form des «digitalen Enhancement» von Philosophie einstellen – mit einer ganzen Bandbreite von positiven und negativen Nebenwirkungen. Und eine dieser Wirkungen ist vielleicht ganz angenehm: ein hoffentlich verstärktes Bewusstsein dafür, dass philosophieren ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist. Wer weiss, vielleicht kehren die rauch- und debattengeschwängerten Seminarräume mit all ihren Leidenschaften, schrägen Originalen, Intimitäten und Reibereien wieder zurück im Wissen, dass für all dies der Rechner denkbar ungeeignet ist.