Paradies mit Geschichte
Die Hawaiianer auf dem Weg zu einer neuen Souveränität
Im Schatten der amerikanischen Politik erwachen im US-Bundesstaat Hawai’i totgeglaubte Geister: Die Nachkommen des einstigen Königreiches stellen die Frage nach der Souveränität des Landes. Das Paradies im Pazifik muss sich seiner Geschichte stellen, denn derzeit berät der internationale Gerichtshof in Den Haag einen Fall, welche die fragliche Legitimität der vor hundert Jahren stattgefundenen Integration Hawai’is in die USA offenlegen könnte. Der Wahlsieg von George W. Bush dürfte die Position der Souveränitätsbewegung aber schwächen.
„Hawai’i ist ein unabhängiger Staat.“ Steve Tayame, der sich stellvertretender Verteidigungsminister des Königreichs Hawai’i nennt, spricht diese Worte ungerührt aus, als sei dieser Sachverhalt selbstverständlich. Das Erstaunliche ist, dass er eigentlich gar nicht so unrecht hat.
Nur sprechen die Fakten eine ganz andere Sprache. Die „Souveränität“ des Königreichs Hawai’i erstreckt sich über die wenigen Quadratmeter des Dorfes Puuhonua O Waimanalo, das sich im ärmlichen Südosten der Insel O’ahu befindet. In einfachen Hütten leben dort an die hundert Menschen, die sich um den Aktivisten Dennis „Bumpy“ Kanahele gescharrt haben. Der grosse, wuchtige Mann, selbsternannter Staatschef des Königreichs Hawai’i, kämpft seit Jahrzehnten für die Anerkennung der Tatsache, dass streng genommen ein rechtliches Fundament für die Annexion der Inseln durch die USA vor genau hundert Jahren gar nicht vorhanden ist. „Bumpy“ meint: „Die Leute wissen einfach nicht, dass die USA Hawai’i ungerechtfertigt besetzt halten. Die meisten glauben, wir seien ein US-Bundesstaat.“
Zumindest ein Teil der Kanaka Maoli – so nennen sich die ursprünglichen Einwohner Hawai’is – glaubt dies nicht. Sie leben sogar teilweise nach den Gesetzen der damaligen konstitutionellen Monarchie. Eine Führerprüfung für Privatfahrzeuge war damals beispielsweise nicht vorgesehen. Lance Paul Larsen, ein Einwohner von „Big Island“, versah 1998 seinen Pick-up-Truck mit königlichen Nummerschildern, fuhr ohne Führerschein und wurde im vergangenen Jahr prompt verhaftet. Die Gerichte auf Hawai’i quittierten seinen Hinweis auf das königliche Recht mit Gelächter, doch Larsen zog seinen Fall bis vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag, der sich seit Mitte Dezember mit diesem Fall befasst – für Larsen ein wichtiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeitsbewegung hofft, dass das Gericht feststellen wird, dass die Annexion Hawai’is selbst gemäss der US-Verfassung widerrrechtlich gewesen war. Larsen selbst wollte mit einem hawaiianischen Pass in die Niederlande einreisen, was ihm aber von den Zöllnern verweigert wurde.
Das Wiedererstarken der Souveränitätsbewegung
Die Aktivisten um „Bumpy“ mögen vielleicht in einer Traumwelt leben. Sie sind aber Ausdruck einer vielfältigen Bewegung, welche die Frage der Souveränität der Hawaiianer neu stellt. Ein machtvolles Symbol dieser Bewegung war am 12. Januar 1998 unübersehbar. Etwa 6000 Hawaiianer brachen in einen unbeschreiblichen Jubel aus, als exakt um 12 Uhr mittags die hawaiianischen Flagge über dem Königlichen Palast bei Honolulu gehisst wurde – vor genau hundert Jahren wurde sie eingeholt und durch das Sternenbanner ersetzt. Fünf Jahre zuvor hatte US-Präsident Bill Clinton die „Apology Bill“ unterzeichnet: die offizielle Entschuldigung der Regierung der Vereinigten Staaten für ihre illegale Beteiligung am Putsch vor damals genau hundert Jahren.
Ein Prozess mit noch unklarem Ziel ist damit sichtbar geworden. In der vergangenen Legistalurperiode befasste sich der US-Kongress mit einer Eingabe des demokratischen Senators aus Hawai’i, Daniel Akaka. Die „Akaka-Bill“ hätte den Kanaka Maoli den Status eines indigenen Volkes und das Recht, sich selbst zu verwalten, geben sollen. Erstaunlicherweise stimmte das Repräsentantenhaus am 26. September diesem Begehren ohne Gegenstimme zu. Die Zustimmung des Senats schien nur noch Formsache, denn Akaka galt als über die Parteigrenzen hinweg als geachteter Politiker.
Doch plötzlich machte sich republikanischer Widerstand bemerkbar, angestachelt von Gegnern der Souveränitätsbewegung auf Hawai’i. Zudem liess das Hickhack um das Budget und danach das alles lähmende Theater um die US-Präsidentschaftswahlen die „Akaka-Bill“ in der Traktandenliste immer weiter nach hinten rücken. Am 12. Dezember starb die „Akaka-Bill“ den „stillen Tod“ durch Nichtbehandlung, wie die örtliche Presse zu berichten wusste. Akaka hofft nun auf den 107. Kongress, sieht sich dann aber mit einem repubikanischen Präsidenten konfrontiert, welcher der Sache Hawai’is weit skeptischer gegenüber stehen wird als ein Vertreter der Demokraten.
Warum dies so ist, hat historische Gründe – und da sind wir schon inmitten einer unglaublich scheinenden Geschichte um ein betrogenes Volk. Bereits die „Akaka-Bill“ hääte der wahren Situation nicht wirklich entsprochen. Denn die Kanaka Maoli sind kein Indianerstamm – wie die repubikanischen Opponenten im Senat reklamierten – , sondern Abkömmlinge eines Staates, der sich im 19 Jahrhundert beinahe erfolgreich durch die Stürme des Kolonialismus navigieren konnte – und dann doch scheiterte. Es ist die Geschichte Hawai’is, welche jetzt an die Oberfläche dringt und ihren Tribut fordert.
Hawai’i wurde von den Polynesiern besiedelt, jenem Volk, das bereits vor 2000 Jahren mit einfachen Mitteln herausragende seefahrerische Leistungen erzielte und damals zur Erschliessung der pazifischen Inseln ansetzte. Der genaue Zeitpunkt der Besiedelung Hawai’is ist zwar Gegenstand historischer Debatten. Klar ist aber, dass die Polynesier über tausend Jahre vor den ersten Weissen auf den Inseln Hawai’is ankamen.
Als am 20. Januar 1778 Kapitän James Cook als erster Weisser seinen Fuss auf die Insel Kaua’i setzte, traf er auf ein hochentwickeltes Sozialsystem und wurde freundlich empfangen. Damit waren die Inseln mit ihren geschätzten mehreren hunderttausend Einwohnern in das Blickfeld des westlichen Expansionsdranges geraten. Cook nahm die Auswirkungen seiner Entdeckung vorweg, als er in sein Logbuch schrieb: „Wir führten unsere Bedürfnisse ein und unsere Krankheiten“. Cook selbst wurde übrigens ein Jahr später auf Big Island bei einem Handgemenge mit Hawaiianern getötet.
Im Fokus des Kolonialismus
Mit drei westlichen Einflussfaktoren mussten die Hawaiianer im 19. Jahrhundert zurecht kommen: Der gravierendste war die durch die Europäer eingeschleppten Krankheiten: Wie an so vielen anderen Orten der Welt war das Immunsystem der Ureinwohner auf Europas Bazillen nicht vorbereitet – die Hawaiianer starben zu Tausenden. Allein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren die Inseln schätzungsweise 50 Prozent ihrer Bewohner.
Dazu kam als zweiter Faktor die strategisch wichtige Lage der Inselgruppe: Sie war ein bevorzugter Anlegeplatz für Handelsschiffe wie für Walfänger. Hawai’i wurde dadurch für die grossen Kolonialmächte England, Frankreich und die USA interessant.
Der dritte wesentliche Einflussfaktor waren die Missionare: Die Calvinisten Neuenglands sahen in Hawai’i ein prädestiniertes Gebiet für ihre Mission. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erreichten zwar insgesamt nur etwa 180 Missionare (etwa 80 Männer und 100 Frauen) die Inselgruppe, doch diese sollten einen entscheidenden Einfluss auf die späteren Geschehnisse haben.
Zunächst konnten aber die Hawaiianer mit viel Geschickt mit diesen Einflussfaktoren umgehen: Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts vereinigte König Kamehameha I in mehreren Kriegen die meisten Inseln zu einem Königreich. Unter dem Einfluss der Missionare führte später Kamehameha III 1840 die erste Verfassung Hawai’is ein, es folgten die Wahlen für ein Parlament sowie die Einsetzung eines Gerichtshofs. Hawai’i wurde zu einer konstitutionellen Monarchie – vergleichbar mit europäischen Staaten wie England oder Dänemark.
Eine wichtige Episode erfolgte 1843: Für wenige Monate wurde Hawai’i durch den britischen Marineoffizier Lord George Paulet in einem kolonialistischen Handstreich besetzt. Dessen Vorgesetzter, Admiral Sir Richard Thomas, reiste danach eigenhändig auf die Insel und restaurierte die Monarchie. Die Souveränität des Staates wurde 1843 von den Kolonialmächten Frankreich und Grossbritannien anerkannt, 1849 erfolgte ein entsprechender Vertrag mit den USA. Für das hawaiianische Königshaus waren diese Ereignisse ein Beweis, dass sie von den europäischen Mächten als unabhängiger Staat respektiert wurden. 1854 erklärte sich der Staat Hawai’i als neutral. Die Flagge Hawai’is widerspiegelt das Ausbalancieren zwischen den grossen Mächten: Sie ähnelt der US-Flagge. An Stelle der Sterne ist aber die britische Flagge eingeklingt und die Farben der Streifen erinnern an die französische Flagge.
Das Land wurde käuflich
Die Missionare spielten als Berater des Königshauses bereits damals eine entscheidende Rolle. Als Calvinisten waren sie eigentlich zutiefst antimonarchistisch eingestellt. Die Vorstellung, unter britischer Flagge leben zu müssen, war aber noch schlimmer. Nach der erfolgreichen Behauptung der Souveränität empfahlen die beiden Missionare Gerrit Judd und William Richards – als Berater des Königs angestellt, um diesem die Prinzipien des Kapitalismus zu lehren – Kamehameha III eine umfassende Landreform: Das Land solle zu je drei gleichen Teilen der Regierung, den hawaiianischen Fürsten (den alii) und der Bevölkerung abgegeben werden. Die Missionare hofften dadurch, die „lasterhafte Mentalität“ der Hawaiianer – sie genossen das Leben anstatt zu arbeiten – zu brechen, indem die Leute ihr eigenes Land bebauen konnten.
Die westliche Vorstellung von Landbesitz war den Hawaiianern aber zum grossen Teil nicht vertraut – ganz im Gegensatz zu den (westlichen) Ausländern, welche 1850, zwei Jahre nach dem Beginn der Reform, ebenfalls das Recht zum Landerwerb erhielten. Die Landreform erhielt damit eine durch die Regierung nicht mehr kontrollierbare Dynamik: die (westlichen) Landbesitzer bauten riesige Zuckerrohrfarmen auf und gehörten zu den Gewinnern, die Mehrzahl der Hawaiianer hingegen stand als Verlierer dar.
Hawai’is Ökonomie wuchs mit den Zuckerrohrfarmen, welche das Sozialsystem der Inseln tiefgreifend änderten. Dies insbesondere wegen des grossen Arbeitskräftebedarfs, welchen die Hawai’ianer weder decken wollten noch konnten. Japaner wanderten ab 1885 in grosser Zahl ein. Der Prozess der ethnischen Diversifizierung begann.
Zuckerrohr bereitete auch den Weg zur engeren Bindung an die USA. 1876 erhielten die Zuckerproduzenten Hawai’is das Recht, ihre Ware zollfrei in die USA einzuführen. Als der Vertrag nach sieben Jahren endete, forderten die USA von Hawai’is Regierung das exklusive Recht, auf der hawaiianischen Insel O’ahu (Standort von Honolulu und Pearl Harbor) einen Marinestützpunkt einrichten zu dürfen. Die Farmer setzten die Regierung unter Druck, welche schliesslich auf die US-Forderung einging (die Verpachtung von Pearl Harbor an die USA erfolgte 1887) und eine Verlängerung des Vertrages um weitere sieben Jahre erreichte.
Der Verlust der Souveränität
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war eine unerbittliche Maschinerie gegen den souveränen Staat Hawai’i in Gang gekommen: Die wirtschaftliche Macht lag in den Händen von Weissen, den sogenannten „Big Five“. Die mit dem Wachstum der Farmen einhergehende Einwanderung von Japanern und der Blutzoll der grossen Epidemien liessen die Hawaiianer zur Minderheit im eigenen Land werden, die USA begannen die strategische Lage Hawai’is zu nutzen, die Ökonomie Hawai’is war mit dem Zollfreivertrag für Zuckerimporte von den USA abhängig geworden und die Söhne der Missionare schliesslich begannen auf politischer Ebene, für eine Annexion Hawai’is durch die USA zu werben.
Das hawaiianische Königshaus konterte: 1881 unternahm König Kalakaua eine Weltreise und besuchte Regierungen und Königshäuser in aller Welt. An dieser damals vielbeachteten Reise unterstrich Kalakaua die Unabhängigkeit Hawai’is und knüpfte wichtige diplomatische Bande. Das Königshaus erstrahlte zum letzen Mal in ganzer Pracht, als 1886 der fünfzigste Geburtstag von Kalakaua im erstmals von elektrischem Licht beleuchteten Königspalast – im Weisse Haus verwendete man damals noch Kerzen – gefeiert wurde.
Danach nahm der politische Druck unbarmherzig zu. Eine weisse Miliz erzwang 1887 eine Verfassungsänderung, die sogenannte „Bayonet Constitution“. Das Wahlrecht wurde an ein Mindesteinkommen geknüpft, was die meisten Hawaiianer ausschloss. Trotzdem waren immer noch drei politische Kräfte im Parlament: Die Liberal Party, (weitgehend monarchistisch eingestellte Hawaiianer), die National Reform Party (die Monarchisten, Weisse wie Hawaiianer) und die Reform Party (die Annexionisten). Letztere bestand im Wesentlichen aus den Söhnen der Missionare.
1891 hoben die USA mit dem McKinley Act die Sonderbehandlung des hawaiianischen Zuckers auf und brachen damit die Vereinbarung von 1883. Die Zuckerfarmer, obwohl eher auf Seiten der Monarchie, kamen unter wirtschaftlichem Druck. Im gleichen Jahr starb König Kalakaua und dessen Schwester Lili’uokalani bestieg den Thron. Sie war sich der kritischen Lage bewusst und begann, eine Verfassungsänderung auszuarbeiten, welche sich stark an westlichen Vorbildern orientierte, jedoch die Unabhängigkeit Hawai’is sichern sollte. Doch die unheilige Allianz zwischen den Söhnen der Missionare und lokalen Vertretern der US-Regierung stand. Man wartete auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.
Der Putsch der Missionarssöhne
Die Ereignisse erreichten im Januar 1993 ihren dramatischen Höhepunkt: Königin Lili’uokalani wusste um die Bestrebungen der Annexionisten. Sie wusste auch, dass der republikanische US-Präsident Benjamin Harrison, der einer Annexion positiv gegenüber steht, nur noch wenige Wochen im Amt sein wird. Er sollte vom bereits gewählten Demokraten Grover Cleveland abgelöst, ein persönlicher Freund Lili’uokalani, der einer Annexion nie zustimmen würde. Die Annexionisten hatten also nur noch wenig Zeit.
Anfang Januar verliess das Kriegsschif U.S.S. Boston, welches seit August 1992 ununterbrochen im Hafen lag, Honolulu. Königin Lili’uokalani nützte die Gelegenheit und liess am 14. Januar 1893 die Regierung zusammentreten, um die neue Verfassung unterzeichnen zu lassen. Zum gleichen Zeitpunkt kehrte aber die U.S.S. Boston von ihren Schiessübungen zurück. Panik erfasste die Minister. Die In-Kraft-Setzung der Verfassung wurde verschoben.
Zur gleichen Zeit trafen sich etwa 50 bis 100 Annexionisten, die meisten Söhne der Missionare, im Anwaltsbüro von William Smith und gründeten das 13-köpfige „Committee of Safety“. Sie interpretierten die verschobene Verfassungsänderung als Beginn einer antimonarchistischen Revolution. Die Königin ihrerseits reagierte auf diese Provokation, indem sie festhielt, dass eine Annexion nur auf der Basis der geltenden Verfassung möglich sei. Selbst bei den zu diesem Zeitpunkt herrschenden Kräfteverhältnis hätte eine solche keine Mehrheit im Parlament gewonnen.
Das Komitee reagierte, indem es sich am 16. Januar an John Stevens, dem Gesandten der US-Regierung (US minister residence) und ein unverblümter Annexionist, wande und um Hilfe bat: „Wir können uns nicht mehr selbst beschützen und bitten um Unterstützung durch die Kräfte der Vereinigten Staaten“, lautete die seltsame Bitte – der Stevens entsprach. Am Abend landeten in friedlichen Honolulu 163 US-Marinesoldaten und bewaffnete Matrosen ohne Befehl des US-Oberkommandos und bezogen vor dem Sitz des Komitees Stellung. Stevens schrieb kurze Zeit später an das State Department: „Hawai’i ist reif, wir müssen nur noch pflücken“.
Die rechtsmässige Regierung in Hawai’i hingegen sah sich mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass eine Gruppe von kaum hundert Männern plötzlich unter dem Schutz der Vereinigten Staaten schien. Die gesamte Macht des Staates inklusive Polizei hielt zwar zur Königin. Die Annexionisten hingegen baten die USA ungerührt um Annexion.
Das enttäuschte Vertrauen der Königin
Die Königin Lili’uokalani reagierte nun mit einem klugen Schachzug. Sie übergab ihren Thron nicht dem Komitee, sondern direkt den Vereinigten Staaten. Damit zog sie direkt den Präsidenten in die Geschehnisse ein. Sie hoffte natürlich auf Cleveland, der – wie damals Admiral Sir Richard Thomas – die rechtsmässige Regierung wieder einsetzen sollte. Um Blutvergiessen zu vermeiden, verbot Sie ihren Kräften, einzugreifen.
Clevelands Vorgänger Harrison gelang es zwar noch, den Annexionsvertrag der provisorischen Regierung dem Senat vorzulegen, doch Cleveland zog das Begehren nach Amtsantritt gleich als erste Amtshandlung am 4. März 1894 wieder zurück. Er sandte den ehemaligen Abgeordneten James Blount nach Hawai’i, um die Geschehnisse zu untersuchen. Blount war ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses für internationale Angelegeheiten des Repräsentantenhauses und ein hochgeachteter Politiker. Er kam in seinem Bericht zum klaren Schluss, dass sowohl der Putsch des Komitees wie auch das damalige Eingreifen der US-Marine unrechtsmässig waren.
Nur nützte das nichts mehr, denn der Kongress verweigerte Cleveland die militärischen Machtmittel, um die Königin Liliuokalani wieder auf den Thron zu setzen. Es begann ein vierjähriges Patt, während welchem sich die neue Regierung unter Sanford Dole – Vetter des späteren Ananaskönigs James Dole und einst Richter des Obersten Gerichtshofs des Königreichs Hawai’i, der zwei Stunden vor dem Umsturz die Seiten wechselte – zu etablieren begann. 1995 versuchten Monarchisten, die Königin mit Waffengewalt wieder an die Macht zu bringen. Das Unterfangen scheiterte und Königin Lili’uokalani wurde verhaftet. Dole hoffte nun, dass der Nachfolger von Cleveland der Annexion zustimmen würde.
Die nichtexistierende Annexion
Genau dies versuchte der republikanische Präsident William McKinley im Jahr 1897. Erneut ging ein zweiter Annexionsvertrag an den US-Senat. Doch am Tag der Abstimmung, dem 8. Dezember 1897, merkten die Annexionisten bei einer inoffiziellen Vorzählung, dass zwei Stimmen für die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit fehlten. Die Abstimmung fand nicht statt, doch die Annexionisten waren aber zuversichtlich, die notwendige Mehrheit bei einem zweiten Anlauf zu erhalten.
Nur tauchte am 9. Dezember eine hawaiianische Delegation in Washington auf. Im Gepäck hatte sie eine Petition mit 21'000 Unterschriften von Hawaiianern, die sich gegen die Annexion aussprachen. Mehrere Senatoren wechselten darauf die Seiten und bei einer zweiten „Vorzählung“ mussten die Annexionisten feststellen, dass sie bei einer Abstimmung noch deutlicher scheitern würden. Die Abstimmung über den Annexionsvertrag kam also nie zustande.
Doch die Weltpolitik hatte endgültig gegen Hawai’i Stellung bezogen: Am 24. April 1898 begann der spanisch-amerikanische Krieg: Hawai’i, obwohl völkerrechtlich zu diesem Zeitpunkt ein neutraler Staat, wurde zur Zwischenstation für die US-Truppentransporter, welche auf dem Weg zu den Philipinen waren. Der US-Kongress verabschiedete die sogenannte Newland Resolution, welche nach Ansicht von McKinley genügend Gewicht zur Annexion Hawai’is hatte. Die provisorische Regierung gab am 12. Januar 1898 die Souveränität an die USA ab und Hawai’i wurde 1900 durch den Organic Act zu einem US-Territorium.
Diese Ereignisse hatten die Hawaiianer – also die Kanaka Maoli – wie paralysiert. Während Jahrzehnten wurde die Frage nach ihrem innerhalb des Staates kaum behandelt. Dies auch deshalb, weil sich die politischen Kräfteverhältnisse in Hawai’i stärker zu Ungunsten der ehemaligen Hawaiianer verschoben haben. Die geschichtlichen Ereignisse von damals wurden aus der Sicht der Sieger beschrieben: eine glorreiche Revolution hat eine veraltete Monarchie weggefegt. Die Macht der Missionarssöhne und der (republikanischen) Zuckerbarone schien für ewig gefestigt.
Doch die Entwicklung Hawai’is ging ungeahnte Wege: Vor allem Japaner wanderten in grosser Zahl ein. Am Vorabend des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor betrug ihr Anteil an der Bevölkerung gegen 40 Prozent. Die auf dem US-Festland umgesetzte Deportation der Japaner in Lager nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg war demnach auf Hawai’i nicht möglich, nur verhältnismässig wenige wurden interniert. Die japanischen Hawaiianer waren vielmehr erpicht darauf, ihre Verbundenheit zu den USA zu zeigen. Zwei Bataillone, das 100. Infantry Bataillon und das 442. Regimental Combat Team, kämpften auf dem europäischen Kriegsschauplatz und gehörten zu den höchstdekorierten Einheiten der US-Armee.
Die Rückkehrer profitierten von Army-Stipendien für Hochschulen und bauten eine linksdemokratische Gegenkultur zum Establishment auf. Sie übernahmen regelrecht die Demokratische Partei und ab 1962 auch die Macht im 1959 aus der Taufe gehobene US-Bundesstaat Hawai’i. Seitdem ist Hawai’i ununterbrochen in demokratischer Hand.
Die Rückkehr der Souveränitätsbewegung
Im Zug dieses Demokratisierungsprozesses begannen seit den 70er Jahren auch die Kanaka Maoli wieder ihre Stimme zu erheben. Im Zentrum stand dabei die Frage nach den sogenannten „ceded lands“. Das Land der Krone sowie das ehemalige Regierungsland wurde nach dem Putsch von der provisorischen Regierung übernommen und 1898 den USA übergeben (ceded lands). Nach der Gründung des Bundesstaates wurde ein Teil des Landes wieder der Regierung Hawai’is übergeben mit der Auflage, die damit erzielten Gewinne für das Wohlergehen der Bevölkerung zu verwenden. 20 Prozent der Gelder sollten explizit den Kanaka Maoli zugute kommen, welche bis heute sozial von allen Gruppierungen Hawai’is am schlechtesten gestellt ist.
1978 wurde das Office of Hawaiian Affairs (OHA) gegründet, welches die den Kanaka Maoli zustehenden Geldern erhalten und für soziale Programme in Bereichen wie Wohnungsbau und Bildung verwenden soll. Die Verteilung der Gelder wird von neun Trustees überwacht, welche von den Kanaka Maoli gewählt werden. Das Problem ist nur, dass sich der Staat Hawai’i bisher geweigert hat, einen grossen Teil der dem OHA zustehende Summe zu zahlen. Zudem geraten die Programme – wie andernorts in den USA – unter zunehmenden politischen Druck – vor allem von Seiten der Republikaner.
Die Geschichte scheint sich dabei zu wiederholen, denn es sind wiederum die Abkömmlnge der Missionare, welche nun den Kampf gegen das OHA aufgenommen haben. Einer von ihnen, Harold „Freddy“ Rice, klagte gegen den Staat von Hawai’i, vertreten durch dessen Gouverneur Benjamin Cayetano, weil die Trustees des OHA nur von den Hawaiianern gewählt werden dürfen. Cayetano wiederum, der sich persönlich alles andere als gut mit diesen Trustees versteht, verteidigte die Sache der Kanaka Maoli nur halbherzig, so dass der Oberste Gerichtshof der USA im Februar dieses Jahres für Rice entschied. Cayetano ergriff sogleich die Gelegenheit und verlangte den Rücktritt der Trustees – und setzte damit auch den Prozess in Gang, der zu den jüngsten Erfolgen der Souveränitätsbewegung führte. Denn die Trustees wandten sich an Hawai’is Senator Daniel Akaka, der den Gesetzesentwurf in den Kongress einbrachte, welcher den Kanaka Maoli den Status eines indigenen Volkes und das Selbstbestimmungsrecht geben sollte. Damit sollten jene Rechte gesichert werden, welche attackiert werden. Die Akaka-Bill ist aber vorläufig gescheitert.
Der versuchte Hawai’i-Recount
Die jüngste Geschichte verlief aber noch verrückter: Um einem Amtsenthebungsverfahren durch den Gouverneur auszuweichen, traten die bisherigen, nur von den Kanaka Maoli gewählten Trustees, am 8. September zurück. Gouverneur Cayetano setzte Interims-Trustees ein. Parallel zu den Präsidentschaftswahlen erfolgte dann am 7. November die Wahl der neuen OHA-Trustees. Erstmals durften sich alle Hawaiianer an der Wahl beteiligen. 96 Kandidaten – so viel wie nie zuvor – bewarben sich um die neun Sitze, welche über die Verwendung der Hunderte von Millionden Dollars (die genaue Zahl ist umstritten) der ceded lands entscheiden. Erstaunlicherweise setzten sich die Kanaka Maoli durch – nur einer der Sitze ging an einen „Aussenstehenden“.
Die Amtseinführung der Trustees vom 29. begann mit einem Eklat, inspiriert vom Florida-Wahldebakel. Kau’i Amsterdam, der sich selbst als „Hawaiianer, Indianer, Jude und Mormone“ bezeichnet und in der Wahl um einen OHA-Posten unterlegen war, klagte gegen das Wahlergebnis. Er meint, es hätten nur „wahre Hawaiianer“ wählen dürfen und verlangt eine Neuauszählung der Stimmen, getrennt in Stimmen der Kanaka Maoli und der Anderen. Das Zeremoniell der Amtseinführung der Trustees wurde abgebrochen und der Fall ging an den Supreme Court Hawai’is. Dieser entschied am 11. Dezember gegen Amsterdam. Die gewählten Trustees sollen nun voraussichtlich Ende Dezember ins Amt eingeführt werden.
Dieses Wahl-Wirrwarr ist nur ein Indiz dafür, wie kompliziert die Situation geworden ist: Der US-Bundesstaat Hawai’i hat die amerikanische Idee des Schmelztiegels wohl am konsequentesten umgesetzt. Von den gut 1,1 Millionen Einwohner sind ein Viertel kaukasischer (weisser) Abstammung, ein weiteres Viertel stammt aus Japan, gut 20 Prozent sind Kanaka Maoli und der Rest verteilt sich auf ein buntes gemisch von Philippinos, Chinesen und anderen Völkern. Mit anderen Worten: keine Volksgruppe besitzt eine Mehrheit.
Rassenkonflikte im Paradies?
H. William Burgess ist einer, der aufgrund dieses Sachverhalts die Souveränitätsbewegung schaft bekämpft. Der ehemalige Anwalt – einst ein US-Marineinfanterist, der eine Hawaiianerin geheiratet hat – sieht in der aufgeflammten Diskussion um Hawai’is Geschichte die Gefahr von Rassenkonflikten: „Wir sind alle Hawaiianer. Wir dürfen nicht dazu übergehen, gewisse Gruppen anders zu behandeln, nur weil sie sich Kanaka Maoli nennen.“ Die geschichtlichen Ereignisse vor hundert Jahren hält er „für einen Regierungswechsel wie jeden anderen.“
Burgess bringt seine Ansichten unter anderem mit der Website aloha4all.com unter die Leute. Das OHA konterte umgehend mit all4aloha.com, um die Burgess’sche Sicht der Dinge anzugreifen. „Burgess gehört zu jenen Leuten, welche aus der Diskussion eine Rassenfrage machen wollen. Dies ist falsch, es geht um Recht und nicht um Rasse“, meint dazu Ryan Mielke, Pressesprecher des OHA. Es gehe auch nicht um eine Abspaltung Hawai’is von der Union. Mielke: „Hawai’i wird nie unabhängig, das ist einfach unrealistisch.“ Dies werde auch durch jüngste Umfragen des OHA unter den Kanaka Maoli gestützt. „Am meisten Interesse erweckt die Landfrage, nicht die Unabhängigkeit Hawai’is“, so Mielke.
Andere Beobachter rechnen aber zumindest mit einer zunehmenden Diskussion um Souveränität. „Vor 20 Jahren hörte den Kanaka Maoli niemand zu. Doch die hawaiianische Unabhängigkeitsbewegung deckte auf, dass sich hinter der Fassade des Touristenparadieses ein tiefer Schmerz verbirgt. Heute müssen wir zuhören“, meint Willa Jane Tanabe, Dekan der School of Hawai’ian, Asian and Pacific Studies der Universität Hawai’i. Ira Rother, Politologe an der Universität, doppelt nach: „Die Frage nach der Souveränität Hawai’is wird sicher verstärkt diskutiert werden. Der sich bereits durch das Scheiter der Akaka-Bill abzeichnende politische Wandel in der US-Politik wird sich aber verschärft auf die Souveränitätsbewegung auswirken. Der zweite demokratische Senator Hawai’is, Daniel Inouye, erklärte kürzlich, dass die Kanaka Maoli auch ohne Segen aus Washington eine eigene Regierung aufstellen könnten – was vor kurzem schlicht undenkbar war.
Der neue Präsident George W. Bush dürfte ein solches Treiben kaum akzeptieren. Rother meint: „Ein republikanischer Präsident wird den Anliegen der Kanaka Maoli um einiges skeptischer gegenüberstehen.“ Auch das hat historische Gründe, waren es doch republikanische Präsidenten, welche den Putsch der Missionarssöhne unterstützten – und demokratische Präsidenten, welche diesen rückgängig machen wollten.
Was bringt nun die Zukunft? Ein Hawai’i, dass sich von den USA abwendet und sich hin zu den Kleinstaaten des Pazifiks hinwendet? Dieser Gedanke scheint absurd, denkt man allein daran, dass sich die Inselkette im Schatten des Oberkommando der mächtigen US-Pazifikflotte befindet. Oder vielleicht doch? Hawai’i kann durchaus als eines der letzten Gebiete des Pazifiks angesehen werden, in welchem der Prozess der Dekolonisation noch nicht seinen Abschluss gefunden hat. Der Anwalt Bruss Keppeler, einer der Stimmen im vielfältigen Chor der hawaiianischen Souveränitätsbewegung meint jedenfalls: „Wer glaubt, dass ein unabhängiges Hawai’i unmöglich ist, der hat die Geschichte vergessen.“