Textversion für blinde und sehbehinderte Personen sitemap
Home Brainform Textraum Hochzeit Arbeit Forschung Spielverlag encyclog

"Ich versuche Couchepin zu verstehen"

Bundesrat Couchepin will den Zugang zur Psychotherapie limitieren. Es soll schwieriger werden, auf Kosten der Krankenkassen eine Psychotherapie zu machen. Ein richtiger Entscheid?

Mehrere Gründe bewegen mich, nein zu sagen. Zum einen sind Psychotherapien nachgewiesenermassen effektive Behandlungsmethoden. Ihre Begrenzung wird v.a. notleidende Menschen treffen, die sich nicht wehren können. Zum andern wird das vorgeschlagene administrative Untersuchungsverfahren die Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut belasten, z.B. weil der Behandelnde zum Gutachter wird und gezwungen ist, die Problematik der Patienten besonders drastisch und in harten Krankheitsbegriffen darzustellen – zum Schrecken der Betroffenen, wenn sie es lesen. Zudem geht dadurch kostbare Zeit für die Therapie verloren.

Couchepin muss sparen.

Ich versuche, Bundesrat Couchepin zu verstehen – frage mich aber, was die Gründe für dieses Vorhaben sind. Das Gesundheitsobservatorium – eine Institution des Bundes – sagt, die Psychotherapie sei heute untervertreten. Ich habe mir die Zahlen angeschaut: 2004 hat man in der Grundversorgung 400 Millionen Franken für Psychotherapie ausgegeben. Für Medikamente zur Behandlung von Störungen des zentralen Nervensystems, das dürften hauptsächlich Psychopharmaka sein, waren es 900 Millionen.

Couchepin hat bei den ärztlich verordneten Psychotherapien aber ein „Anschwellen der Leistungen“ festgestellt. Dem will er Einhalt gebieten.

Wirklich? Weltweit gesehen haben vor allem die Psychopharmaka in den vergangenen Jahren enorm zugelegt – in den USA beispielsweise in der letzten Dekade kostenmässig um 600 Prozent. In der Schweiz haben sich die Kosten für Psychotherapien von 2000 bis 2004 um rund 30 Prozent erhöht. Über die Zuwachsraten bei den Medikamenten habe ich mich beim Gesundheitsobservatorium informiert, aber keine genauen Informationen erhalten.

Da möchte man natürlich wissen, was besser funktioniert: Psychotherapie oder Psychopharmaka.

Man muss Depressionen entsprechend der Schwere und des Stadiums der Krankheit behandeln. Es gibt Menschen, die sind von einer Depression wie von einer Lawine zugedeckt. Da geht es darum, sie zunächst wieder atmen zu lassen. Habe ich also einen schwer depressiven Menschen vor mir, dann werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden, auch pharmakotherapeutischen Methoden, versuchen, ihn aus seiner depressiven Verschüttung herauszubringen.

Und bei leichteren Fällen?

Neuere Forschungen zeigen, dass bei leichten bis mittelschweren Depressionen die Psychotherapie mindestens ebenso gut ist wie die Pharmakotherapie und längerfristig wahrscheinlich sogar besser ist. Pharmakotherapien werden wegen den Nebenwirkungen auch öfters abgebrochen als Psychotherapien. In England wird vermehrt davon ausgegangen, dass man leichte und mittelschwere Depressionen mit Psychotherapie behandeln sollte.

Kritisiert wird ja vor allem, dass Psychotherapien zu lange dauern – manche hören ja nie auf.

Auch länger dauernde Psychotherapien sind durchaus effektvoll und können dazu führen, dass Patienten weniger somatische Therapien in Anspruch nehmen und weniger Arbeitsausfälle haben. Solche Therapien können also einen guten Kosten-Nutzen-Effekt aufweisen. Ich sage das, weil genau solche wirtschaftlichen Überlegungen die heutige Diskussion prägen.

Wie gut wirken Psychopharmaka?

Frühere Studien zeigten, dass die besten Psychopharmaka bei Depressionen in rund 60 Prozent der Fälle wirken, Placebos in 40 Prozent der Fälle. Neuere Studien sind hinsichtlich der Wirksamkeit etwas kritischer, weil auch mittelschwere und leichte Formen von Depression einbezogen wurden. Trotz diesen nicht gerade umwerfenden Zahlen muss man deutlich sehen: Es gibt einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Placebos und Antidepressiva.

Viele kritisieren, dass die Psychiatrie zu wenig "wissenschaftlich" sei und fordern eine Annäherung an die Biologie. Der Nobelpreisträger Eric Kandel etwa möchte die Wirksamkeit von Psychotherapien mit „objektiven Kriterien“ messen.

Sicher kann man mit den neuesten bildgebenden Verfahren feststellen, dass bei bestimmten Depressionen jene Hirnregionen weniger aktiv sind, welche für Aktivität, Koordination und Planung zuständig sind. Man kann auch nachweisen, dass Psychotherapie zu einer Veränderung der Hirnaktivität führt und dass sich zum Beispiel der Cortisol- und Serotonin-Spiegel wieder normalisieren. Solche Studien werden und sollen auch gemacht werden. Aber was ist denn am Schluss das Entscheidende: Dass sich die Hirnaktivität verändert hat – oder dass sich die Person nicht mehr depressiv fühlt? Es gibt bisher keinen gesicherten biologischen Marker für Depression.

Doch genau das müsste man doch anstreben. Könnte man die Wirksamkeit der Psychotherapie hirnphysiologisch beweisen, wäre auch Couchepin zufrieden.

Wenn man selber Hirnforschung macht, weiss man wie komplex das Gehirn ist. Da sollte man vorsichtig sein mit der Interpretation lokalisierter Befunde. Übrigens: Wie will man einen biologischen Marker anders bestimmen als unter Bezugnahme auf das subjektive Empfinden des Patienten? Bei der Depressionsdiagnose ist entscheidend, wie sich jemand fühlt und welchen Antrieb eine Person hat. Man findet allenfalls Hinweise darauf, was in diesem speziellen depressiven Zustand im Gehirn verändert ist. Aber es gelingt heute nicht, eine Veränderung im Gehirn zu finden, die bei allen depressiven Menschen identisch ist.

Die Weltgesundheitsorganisation prognostiziert, dass Depressionen bis in einigen Jahren, global gesehen, das Gesundheitsproblem Nummer zwei würden. Sie arbeiten seit Jahren mit Depressiven. Haben Sie das Gefühl, das Problem werde grösser?

Mit Sicherheit hat die Zahl der Behandlungen von depressiven Patienten und Patientinnen stark zugenommen. In unserer Klinik hat sie sich im stationären Bereich in den letzten 15 Jahren vervierfacht. Das kann aber verschiedene Ursachen haben. Zum Beispiel dürfte die Schwellenangst kleiner geworden sein und die Behandlung sich verbessert haben. Ich denke aber nicht, dass die Zunahme nur damit zu tun hat.

Sondern?

Ich vermute, dass die Menschen heute unter einem grösseren Druck stehen und sich heute viele behandeln lassen, die sich früher mit einer leichteren Depression noch relativ ordentlich durchs Leben gebracht hatten. Leicht depressive Menschen können in stabilen Verhältnissen recht gut zurechtkommen. Sie sind etwas verlangsamt und neigen zur Ordentlichkeit, Genauigkeit und auch Treue. Vor zehn, zwanzig Jahren waren das gesellschaftlich noch hohe Werte. Heute aber muss man flexibel, anpassungsfähig und teamfähig sein. Dieser Wertewandel trifft gerade jene Patienten, die leicht depressiv sind und dadurch Gefahr laufen, schwerer depressiv zu werden.

Gibt es eigentlich vergleichsweise mehr Arme oder Reiche, die depressiv sind?

Wirtschaftlich schlechter gestellte Menschen sind häufiger betroffen. Je grösser die soziale und individuelle Belastung, je höher die Depressionsrate. In den staatlichen Kliniken und sozialpsychiatrischen Ambulatorien des Kantons Zürich sind mindestens zwei von drei Patienten arbeitslos oder erwerbsunfähig. Bei den niedergelassenen Ärzten finden sich gut situierte Personen viel häufiger. Ein Drittel dieser besser gestellten Klientel leidet an Belastungsreaktionen, ein Viertel an eigentlichen Depressionen.

Der Manager ist also eher überlastet als depressiv?

Nicht notwendigerweise. Er kann durchaus depressiv werden. Man spricht zwar häufig von Burnout und meint damit einen Erschöpfungszustand. Erschöpfung charakterisiert aber auch das depressive Geschehen. Menschen in Überforderungssituationen, ohne Aussicht auf eine Lösung, reagieren oft depressiv. Sie werden von ihrem Organismus ausgebremst. Die Aktionshemmung, die dem depressiven Geschehen zugrunde liegt, zwingt sie zu einem Halt. Das gilt auch für Manager. Nur haben arme und isolierte Menschen schlechtere Bedingungen, damit umzugehen. Deshalb ist die Depression nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung ersten Ranges.

Zur Person: Professor Dr. med. Daniel Hell ist Klinikdirektor an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und ein international bekannter Depressionsexperte. Seine Arbeiten betreffen die Interaktionen depressiver Menschen und die Wechselwirkungen zwischen psychosozialen und neurobiologischen Bedingungen. Er wendet sich dabei gegen eine blosse Reduktion psychischer Erkrankungen auf Hirnschädigungen. Im Mai dieses Jahres erschien die völlig überarbeitete Neuauflage seines Buches „Welchen Sinn macht Depression?“, das als Standardwerk gilt und als Rowohlt Taschenbuch auch für Laien gut verständlich ist.

Textversion für blinde und sehbehinderte Personen © 2024 goleon* websolutions gmbh