Wer reden will muss hören - so früh wie möglich
Die Entwicklung der Hörfähigkeit beim Kleinkind durchläuft in den ersten Lebensjahren mehrere kritische Phasen. Diese sind für die Ausbildung der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit entscheidend. Die Erkennung von Hörschäden muss deshalb so früh wie möglich erfolgen. Probleme in der auditiven Wahrnehmung können zudem anderen Störungen zu Grunde liegen, so etwa dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.
„Das Auge öffnet uns die Welt der Objekte, das Ohr erschliesst uns die Welt der Menschen.“ Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat mit dieser Feststellung die grosse Bedeutung des Hörsinns für die Schaffung der sozialen Umwelt jedes einzelnen auf den Punkt gebracht. Störungen in der auditiven Wahrnehmung sind deshalb eine grosses Hindernis bei der Ausbildung der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit und sollten bei Kindern so früh wie möglich erfasst werden. Wenn Kinder geboren werden, ist das Gehör - abgesehen vom noch wachsenden Gehörgang - im wesentlichen ausgebildet. Die dem Ohr nachgeschalteten Verarbeitungszentren des Gehirns hingegen sind noch nicht ausgereift. Die Fähigkeit des Hörens muss demnach von der Fähigkeit, aus dem Gehörten Sinn machen zu können, unterschieden werden. Erstere ist (im Normalfall) schon vorgeburtlich vorhanden, letztere entwickelt sich im Laufe der Jahre, wobei die verschiedenen Zentren der neuronalen Verarbeitung unterschiedlich lange Zeit haben, auszureifen. Anstoss für deren Entwicklung ist das, was das Kind hört. Wenn also aufgrund einer Schädigung des Gehörs keine oder nur unvollständige auditive Information die neuronalen Zentren erreicht, reifen diese nur ungenügend. Wird das Zeitfenster des jeweiligen Zentrum für diese Entwicklung verpasst, so kann dort die Information nicht sachgerecht verarbeitet werden, was die Funktion des Hörsystems insgesamt beeinträchtigt.
Was dies für Folgen haben kann, wurde anlässlich der kürzlich stattgefundenen und vom Schweizer Unternehmen Phonak Hearing Systems unterstützten „European Conference on Pediatric Amplification Solutions“ in Barcelona eindrücklich demonstriert. So hat Christine Yoshinaga-Itano, Wissenschaftlerin an der Universität von Boulder/Colorado (USA), die Wichtigkeit des Neugeborenen-Screenings aufgezeigt - also der Test aller Neugeborenen auf mögliche Hörschäden. Der US-Bundesstaat Colorado ist diesbezüglich vorbildlich und identifiziert hörgeschädigte Kleinkinder durchschnittlich 2.5 Monate nach der Geburt. Kommt es zu keinem solchen Screening, werden Hörschäden durchschnittlich erst nach gut zwei Jahren entdeckt. Die erfassten Kinder erhalten Hörhilfen wie Hörgeräte oder - im Fall schwerster Schädigung - Cochlea-Implantate. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass über 80 Prozent der früherfassten Kinder im Verlauf ihrer Entwicklung ein normales Sprachverständnis erreichen, im Fall der später erfassten Kinder sind dies nur rund 30 Prozent.
Zeitfenster der Entwicklung
Ein entscheidendes Zeitfenster sind gemäss Yoshinaga-Itano die ersten sechs Monate, da sich in diesem Zeitraum die Grundlagen für den späteren Aufbau des Wortschatzes des Kindes entwickeln. Fehlt in diesem Zeitraum der auditive Input, wird es viel schwieriger, das Sprachverständnis des Kindes später zu fördern. Unterstützt wird diese These von einer jüngst veröffentlichten Studie eines europäisch-japanischen Forscherteams. Die Forscher stellten mittels optischer Tomografie (ein Verfahren, das Hirnaktivität anhand des Blutflusses misst) fest, dass die linke Gehirnhälfte bereits kurz nach der Geburt auf Sprachreize reagiert. Schon zu diesem Zeitpunkt können also (hörende) Kinder Sprache von anderen akustischen Reizen unterscheiden.
Werden beim Neugeborenen-Screening Hörschäden entdeckt, kommen in der Regel Hörgeräte zum Einsatz. Die Eltern spielen bei dieser therapeutischen Intervention eine wichtige und oft unterschätzte Rolle. Sie müssen so in den Prozess integriert werden, dass sie die Behandlung mittragen können. So sollten die Eltern über den Gebrauch und den Unterhalt der Hörgeräte genau informiert werden - schliesslich ist ein Hörgerät keine billige Investition. Da Kinder in der Regel sehr aktiv sind, ist beispielsweise eine Versicherung für verlorengegangene Hörgeräte angebracht. Christine Yoshinaga-Itano präsentierte eine Reihe von Studien, welche die Rolle der Eltern bei der therapeutischen Intervention untersuchten. Interessanterweise zeigte sich, dass Erwachsene von Kindern mit leichten und mittelschweren Hörschäden sich gestresster fühlen als Erwachsene von Kindern mit schweren Hörschäden. Sie erklärte dies mit der höheren Erwartungshaltung in ersterem Fall. Gemäss Yoshinaga-Itano zeigten auch diese Untersuchungen, dass Familien von Kindern mit früh erkannten Hörschäden und entsprechender Intervention bessere Formen von Kommunikation zwischen Eltern und Kind entwickeln, was die soziale Entwicklung des Kindes fördert.
Auch die Technologie muss den besonderen Ansprüchen eines sich entwickelnden Hörsystems gewachsen sein. Da die Anpassung von Hörgeräten optimalerweise in den ersten sechs Lebensmonaten geschehen soll, müssen diese genügende Flexibilität aufweisen, damit die Geräte dem sich entwickelnden Hörsystem kontinuierlich angepasst werden können. Aus diesem Grund sind digitale Hörgeräte vorzuziehen, erläuterte Andrea Bohnert von der Johannes Gutenberg Universität. Von grossem Vorteil ist zudem deren Fähigkeit, das Sprachsignal gegenüber den Umgebungsgeräuschen besser hervorzuheben. Dies ist wichtig, da sich Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen schwerer tun, Sprache bei hohem Lärmpegel zu verstehen. Eine solche Situation kann beispielsweise im Klassenzimmer eintreffen. Sandra Gabbard von University of Colorado Hospital wies diesbezüglich auf die Vorzüge von funkunterstützen Hörgeräten (FM-Systeme) hin, welche die Stimme der Lehrkraft direkt an das Hörgerät übermitteln.
Verhaltensstörungen aufgrund von Hörschäden?
Zwei an der Konferenz präsentierte Untersuchungen befassten sich schliesslich mit einem Thema, das erst seit kurzem Gegenstand der Wissenschaft ist, die auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS). Mit diesem Begriff werden Störungen der auditorischen Informationsverarbeitung bezeichnet, die trotz scheinbar normalem Gehör auftreten. In der Wissenschaft wird derzeit kontrovers diskutiert, ob AVWS überhaupt existieren und, falls ja, welche Kriterien eine entsprechende Diagnose erlauben. Josephine Marriage umriss den bisherigen Wissensstand bezüglich AVWS: So zeigt sich im Audiogram keine Abnormität, hingegen haben AVWD-Patienten verschiedene Probleme bei der Sprachwahrnehmung. Solche Kinder haben Mühe, Sprache bei vorhandenem Hintergrundsgeräusch zu verstehen, sie können ähnlich klingende Wörter nicht unterscheiden oder sie können Sätze zwar wiederholen, aber nicht verstehen - sie haben also ein Problem bei der Begriffserfassung. Grund für diese ungenügenden Leistungen des auditiven Systems könnten auch hier Entwicklungsrückstände von neuronalen Zentren des Hörsystems sein, welche dann komplexe akustische Signale (wie eben Sprache) zu langsam verarbeiten.
Einen sehr interessante Fragestellung präsentierte Edgar Friederichs, Mediziner mit einer Praxis in der deutschen Stadt Heiligenstadt. Er stellte die Vermutung auf, dass bei einigen Kindern, bei welchen Hyperaktivität (Attention Hyperactivity Deficit Disorder, ADHD) diagnostiziert wird, vermutlich Hörprobleme im Sinn des AVWD die entscheidende Ursache sind. Dies hat Auswirkungen auf die therapeutische Intervention bei ADHD, welche heute üblicherweise mit dem (umstrittenen) Medikament Ritalin geschieht. Jüngere Studien zeigen, dass die mit ADHD einhergehenden Symptome unterschiedlich bewertet werden: Während Fachleute der Pädiatrie hier weitgehend ein Problem der Verhaltenssteuerung sehen, halten Audiologen manche der Symptome als ein Resultat von akustischen Wahrnehmungsstörungen. Würde die Sichtweise der Audiologen zutreffen, wäre eine technische Intervention in Form von Hörgeräten zumindest bei einigen von ADHD betroffenen Kindern dem Problem angemessener als der Einsatz von Ritalin. Derzeit läuft eine Pilotstudie, welche diesen äusserst interessanten Zusammenhang genauer untersuchen will.