Das Gehirn – ein unbegreiflicher „Macher des Geistes“?
An öffentlicher Aufmerksamkeit mangelt es den Hirnforschern derzeit nicht. Manch andere Forschungsgebiete – vorab aus den Sozial- und Geisteswissenschaften – fühlen sich zuweilen eingeschüchtert oder genötigt, Erkenntnisse der Hirnforschung in die eigene Arbeit einzubringen. An einem Symposium in Freiburg suchten Vertreter dieser unterschiedlichen Disziplinen das Gespräch über Gehirn und Geist.
Der Ausdruck der „Veränderung des Menschenbilds“ wird meist dann bemüht, wenn neue Erkenntnisse oder Theorien mit grossem Geltungsanspruch auf der Bühne der Wissenschaft auftreten. Nach der Genforschung beherrschen derzeit die Neurowissenschaften dieses Podium und zeigen mit bunten Bildern aus dem Inneren unserer Köpfe, wo was aktiv wird, wenn die Maschinerie unseres Geistes angelaufen ist. Solche und andere Analysen sollen dazu beitragen, die Mechanismen unseres Denkens aufzuklären und damit das „Menschenbild“ verändern. Doch bereits ein scharfsinniger Gedanke des deutschen Philosophen Michael Pauen weckt Fragen an einem solchen Anspruch. Unser Menschenbild umfasst eine Sammlung von Begriffen wie Selbstbewusstsein und Verantwortungsfähigkeit, die den Menschen etwa von Tieren abgrenzen. Erklärt man solche Unterschiede auf eine neue Weise, eben mit Bezug auf Hirnprozesse statt auf eine Seele, so ändert nur die Art der Erklärung – nicht aber das Wissen, dass der Unterschied besteht. Insofern ist durchaus fraglich, ob die Hirnforschung wirklich unsere über viele Jahrhunderte gereifte Vorstellung von uns selbst nachhaltig verändern wird.
Der Gedanke von Pauen ist Beispiel einer Überlegung, welche an der Schnittstelle zwischen Hirnforschung und Philosophie oft auftaucht. Sie zeigt die Wichtigkeit, sich erst über die verwendeten Begriffe im Klaren zu sein, will man sich über Gehirn und Geist verständigen. Ein Symposium in Freiburg unter dem Titel „Hirnforschung und Menschenbild“ hat Ende vergangener Woche sehr intensiv diese Schnittstelle erkundet. Die von der dortigen Universität, den Schweizer Akademien über Medizin, Geistes- und Sozialwissenschaften und der Stiftung Schweiz der europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste getragene Veranstaltung wagte den Versuch, sehr unterschiedliche Denktraditionen zu versammeln. Auch wenn es nicht immer gelungen ist, dass aus den Präsentationen verschiedener Standpunkte ein echtes Gespräch entstehen konnte, zeigte das Symposium deutlich auf, welche Fragen und Probleme auftreten, wenn die Hirnforschung vermehrt komplexe geistige Phänomene erklären will.
Gehirn „realisiert“ Geist – aber wie?
Jeder Mensch ist sich des alltäglichen Unterschieds zwischen Gehirn und Geist bewusst: Ersteres kann gut oder schlecht funktionieren und auch mit allerlei Medikamenten und Drogen beeinflusst werden, doch der Geist ist letztlich nur aus einer Innenperspektive erlebbar. Wie wirken Gehirn und Geist zusammen und wie kann man das überhaupt wissenschaftlich untersuchen? Dieses Problem ist beileibe nicht neu: Es ist wissenschaftlich zwar unbestritten, dass unser Denken durch Prozesse in unserem Gehirn realisiert wird – ein auch am Symposium akzeptierter Sprachgebrauch. Die Tücke ist natürlich, was „realisiert“ denn nun heisst. Die modernen neurowissenschaftlichen Zugangsformen durch die so genannten bildgebenden Verfahren zeigen, so die Ausführungen des Zürcher Neuropsychologen Lutz Jäncke, auch heute lediglich Korrelationen zwischen experimentell festgelegten Wahrnehmungs- und Denkvorgängen und den dabei gemessen Aktivierungsmustern im Gehirn. Kausalität – also eine eindeutige und definierte Ursache-Wirkungs-Beziehung – ist damit nicht gewonnen.
Mit dieser methodischen Grundfrage geht ein weiteres, sehr schwieriges Problem einher: Selbst um nur Korrelationen zwischen neuronalen und geistigen Phänomenen zu erreichen, müssen beide scharf bestimmt sein. Bereits auf der neurowissenschaftlichen Ebene ist dies offenbar keineswegs der Fall – wie sonst ist die Randbemerkung des Lausanner Hirnforschers Olaf Blanke zu werten, dass in Bildgebungs-Experimenten selbst kleine Variationen im Experiment die Resultate markant verändern können. Dies weist darauf hin, dass die im Experiment gemessenen neuronalen Zustände nicht stabil genug sind, um gleichsam „generisch“ das zu untersuchende psychische Phänomen zu repräsentieren.
Umgekehrt macht die präzise begriffliche Bestimmung des psychischen Phänomens noch mehr Probleme. Die Philosophen bemühen sich ja seit Jahrhunderten um eine exakte Kartographie des geistigen Innenlebens des Menschen unter Verwendung der naturwissenschaftlich verpönten Introspektion. Das Fehlen einer allgemein akzeptierten „Karte“ ist nicht Ausdruck eines „Scheiterns“, wie dies der verstorbene Gen- und Hirnforscher Francis Crick einst süffisant bemerkte, sondern vielmehr ein Ausdruck der Schwierigkeit dieses Problems. Der Konstanzer Philosoph Gottfried Seebass jedenfalls machte in seinen Ausführungen deutlich, dass schon nur die Suche nach neuronalen Korrelaten unseres Seelenlebens klare Definitionen auf beiden Seiten benötigt.
„Schattenmenschen“ durch Hirnstimulation
Unabhängig von diesen sehr grundlegenden Problemen erlauben praktische Befunde aus der Medizin und dem Experiment dennoch erste Brückenschläge, um die Kluft zwischen Gehirn und Geist zu überwinden. Erstere, genauer gesagt die Neurologie und klinische Neuropsychologie, kann freilich auf eine bereits viele Jahrzehnte zurückreichende Geschichte zurückgreifen. Der Ausfall bestimmter Hirnregionen durch Verletzungen oder Hirnblutungen hat charakteristische Verhaltensauffälligkeiten zur Folge, wie etwa die Neuropsychologin Marianne Regard ausführte. Selbst die Psychiatrie versucht deshalb heute, ihr Diagnoseschema besser mit solchen neurologischen Kenntnissen abzustimmen, wie der Berner Psychiater Werner Strick ausführte.
Die Neurowissenschaft wiederum steht, so Lutz Jäncke, an einer neuen Schwelle, indem heute auf vielfältige Weise auf bestimmte Hirnregionen eingewirkt werden kann, um das Verhalten des Systems zu beeinflussen – beispielsweise durch starke Magnetfelder oder Elektroden. Ein interessantes Beispiel lieferte Olaf Blanke. Er schilderte den Fall einer 22-Jährigen Epilepsiepatientin, welcher für die Lokalisation des Epilepsieherdes im Gehirn mehrere Elektroden implantiert wurde. Im Zug von Experimenten wurden einzelne Elektroden gereizt. Dabei zeigte sich, dass die Stimulation eines einigen Ortes der Hirnrinde (siehe Bild) der Frau das Gefühl der Anwesenheit eines „Schattenmenschen“ gab, der sie gar in den Arm zwickte. Dies zeigt, dass sehr einfache Stimulationen des Gehirns komplexe psychische Vorstellungen erzeugen können. Blanke untersucht mit solchen Ansätzen auch weitere Phänomene wie die Erfahrung, dass den Geist den Körper verlässt und diesen quasi von Aussen betrachten kann („out-of-body-experience“) – eine Erfahrung, die offenbar fünf bis zehn Prozent aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben machen.
Solche und andere am Symposium präsentierte Forschungsresultate und die Überlegungen von Philosophen lassen erahnen, welche Wege die Hirnforschung künftig gehen wird und welche Formen von Zusammenarbeit dafür nötig werden. So stellt sich zum einen die Frage, inwieweit die philosophische Methodik der Introspektion (wieder) Teil der Hirnforschung werden kann. Diskutiert wird diese Frage unter dem Stichwort „First-Person-Neuroscience“. Zum anderen versucht die Hirnforschung nicht nur die Einzelperson, sondern auch deren Interaktion mit neurowissenschaftlichen Methoden zu erfassen. Diese Ausweitung auf das Soziale ist von grosser Bedeutung, da manche komplexe Begriffe, mit denen psychische Phänomene erfasst werden, ihre Bedeutung erst in einer Sprachgemeinschaft erhalten. Diese beiden neuen Forschungswege werden die Neurowissenschaftler wohl nicht alleine gehen können. Der kritische Geist der Philosophie dürfte hier sowohl in methodischer wie ethischer Hinsicht gefragt sein, zumal der experimentelle Eingriff in die Gehirne gesunder Menschen – ein gangbarer und zumindest wissenschaftlich nötiger Weg zum Testen von Hypothesen über unsere Hirnfunktion – nicht leichtfertig passieren darf.