Schuld und Sühne im Zeitalter der Hirnforschung
Ist ein Rechtsbrecher schuldig oder vielmehr "Opfer" seines falsch geschalteten Gehirns? Eine Tagung vom vergangenen Wochenende zeigt: die Kontrahenten dieser schon seit einigen Jahren geführten Debatte nähern sich an, denn das wahre Problem ist der Umgang mit jenen Menschen, die schon seit frühester Kindheit gewalttätig werden.
Untergraben die Ergebnisse der Hirnforschung das philosophische Fundament des Rechts? Seit nun schon mehreren Jahren bewegt eine Debatte über Willensfreiheit und rechtliche Verantwortung (deutschsprachige) Koryphäen von Hirnforschung, Strafrecht und Philosophie. Einige dieser Exponenten fanden am vergangenen Wochenende in Bern im Rahmen einer Tagung über "Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung" zusammen. Hier zeigte sich eine Annäherung der Positionen - vorab im Sinn einer Relativierung der Negation des "freien Willens" durch die Hirnforschung. Zur Erinnerung: Noch vor wenigen Jahren fanden sich Beiträge mit Titeln wie "Verschaltungen legen uns fest: wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen" (so der deutsche Hirnforscher Wolf Singer) und markierten damit eine "harte Position" hinsichtlich der Unmöglichkeit menschlicher Freiheit. Demnach wäre es unsinnig, im Strafrecht von Schuld und Verantwortung zu sprechen.
Willensfreiheit als "soziale Tatsache"
Bereit im ersten Beitrag durch den deutschen Psychologen Wolfgang Prinz zeigt sich diese Abkehr von der - vorab im öffentlichen Diskurs verlautbarten - "harten" Position. Demnach sei der "freie Wille" zwar keine Naturtatsache, aber eine "soziale Tatsache", die nicht weniger real sei als Erstere. Der nachfolgende Reigen von Rechtswissenschaftlern und Philosophen machte dann deutlich, mit welch vielfältigen Schwierigkeiten die "harte Position" konfrontiert ist. Zum einen stützen die derzeitigen Erkenntnisse der Hirnforschung keinen für den Alltag relevanten "neurobiologischen Determinismus". Zum anderen behauptet das Recht auch gar nicht, der Mensch benötige einen "freien Willen" derart, dass er in jeder Situation prinzipiell anders handeln könne. Vielmehr gehe es darum, so der deutsche Strafrechtsprofessor Bjöärn Burckhardt, dass der Mensch im "Bewusstsein der Freiheit" handle. Jeder normale Mensch wisse, dass seine Zukunft offen ist und bis zu einem gewissen Grad durch das eigene Handeln gestaltet wird. "Menschen erleben sich nicht als frei, weil sie frei sind, sie sind frei, weil sie sich als frei erleben", so Burckhardt. Der Basler Rechtsphilosoph Kurt Seelman ergänzte, dass eine sinnbezogene menschliche Interaktion ohne den Begriff der Verantwortung nicht auskommen könne.
Auch Gerhard Roth, der prominenteste Hirnforscher an der Tagung, machte deutlich, dass sich seine Überlegungen nur gegen eine "bestimmte Form" von Willensfreiheit wenden würde: die Idee, man könne kurz vor einer bestimmten Handlung auch eine alternative Handung machen, ohne dass irgendwelche anderen Umstände anders wären. Dieses abstrakte Konstrukt von Willensfreiheit ist in der Tat fraglich - seine Ablehnung verlangt aber auch nicht eine Totalrevision des Strafrechts, denn Gründe und Zwänge als Folge etwa von Lebensumständen eines Straftäters sind seit langem Gegenstand der rechtlichen Beurteilung. Die an der Tagung kontrovers diskutierte Frage, wie viele Strafrechtler sich einem solchen abstrakten "freien Willen" verpflichtet fühlen, erschien demnach als rein akademischer Streit.
Was tun mit den gewalttätigen 5%?
Viel schwieriger sind aber die Fragen, welche durch die von Roth aufgeworfenen empirischen Befunde aufgeworfen werden: Nach einer Meta-Analyse von psychologischen und neurowissenschaftlichen Längsschnittstudien, die viele tausend Kinder und Jugendliche über mehrere Jahre untersuchten, sind etwa 5% aller männlicher Jugendlichen bereits seit dem frühen Kindesalter sozial auffällig und gewalttätig. Bei diesen Personen finden sich auffällige neurobiogische Befunde wie beispielsweise bestimmte Läsionen im Vorderhirn. Doch selbst hier kann von einem direkten neurobiologischen Determinismus nicht die Rede sein, denn zwei Drittel dieser 5% entwickeln Kompensationsmechanismen und sind im Erwachsenenalter nicht weiter strafauffällig. Die restlichen Personen aber machen eine Karriere als Gewalverbrecher und wurden vom Justizsystem strafrechtlich verurteilt - "obwohl man in diesen Fällen nicht von einer Schuld ausgehen könne", so Roth. Diese Personen unterlägen in ihrem Handeln Faktoren, die ihre Wirkungen bereits vorgeburtlich, in der Kindheit und in der frühen Jugend entfaltet hätten und nicht der Willensbildung der Straftäter unterliegen würden, meinte er. Eine Strafe nütze in solchen Fälle nichts, Früherkennung und Prävention oder Verwahrung wären vielmehr angemessenere Reaktionen der Gesellschaft.
Nachträgliche Sicherheitsverwahrung
Diese von Roth aufgeführten Fälle sind zwar keine Widerlegung des Angemessenheit des strafrechtlichen Schuldbegriffs sondern eher ein Hinweis darauf, dass die Justiz Gewalttäter hinsichtlich ihrer Schuldfähigkeit nicht genügend abklärt. Dennoch bleibt die wichtige Frage, wie denn mit solchen Menschen umgegangen werden kann. Frank Urbaniok, Chefarzt des psychiatrisch-psychologischen Dienstes des Justizvollzugs des Kantons Zürich kennt diese Problematik aus der Praxis. Er wandte sich gegen ein präventives "Screening" von Neugeborenen zwecks Diagnose neurologischer Abnormität - also gegen die negative Utopie eines Überwachungs- und Kontrollstaates. Vielmehr würden solche Personen bereits heute früh als sozial auffällig erkannt und man könne gezielt einwirken. Er befürwortete auch eine "nachträgliche Sicherheitsverwahrung" einzelner Straftäter, bei denen sich klar zeigen liesse, dass ihr Handeln Zwangscharakter habe. Er verwies auf eine interne Untersuchung, wonach in den vergangenen Jahren in Zürich acht Personen identifiziert werden konnten, die für eine nachträgliche Sicherheitsverwahrung in Frage gekommen wären. Alle acht wurden rückfällig und führten zu Opfern, die vermeidbar gewesen wären.
Insgesamt gesehen zeigte sich, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung keineswegs eine grundlegende Reform des philosophischen Fundaments des Rechts verlangen. Hingegen sind sie geeignet den Begriff der Schuldunfähigkeit genauer zu charakterisieren. Doch auch hier ist noch ein grosser Forschungsbedarf vorhanden. So wäre es interessant, mehr über die von Roth angesprochenen "Kompensationsmechanismen" zu wissen, die offenbar auch ein "gewalttätig gestimmtes Gehirn" zu einem sozial akzeptablen Verhalten bringen. Zum anderen sollten in der ganzen Debatte auch historische Aspekte nicht vergessen werden. Das "Verbrechergehirn" war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein prominentes Thema der Hirnforschung und eingebunden in eine zur Eugenik führenden Debatte. Fehler der Vergangenheit sollen hier nicht wiederholt werden.