Komplexität wird europaweit zum Forschungsthema
Mit dem 6. EU-Rahmenprogramm zur Forschungsförderung will Europa neue Impulse setzen. Nebst wissenschaftlichen „In-Themen“ wie Genforschung und Nanotechnologie soll aber auch die Erforschung so genannt komplexer Systeme intensiviert werden.
Eines der Grundziele der Naturwissenschaft ist es, die Vielfalt der Welt mittels einfacher Gesetze erklären zu wollen. Dazu zerlegt man die Welt in immer kleinere, „fundamentalere“ Einzelteile, versucht diese zu verstehen und schliesst dann zurück auf die Welt. Dies ist die Karikatur eines Forschungsansatzes, den man reduktionistisch nennt und durchaus seine Erfolge vorzuweisen hat. Im Angesicht so genannt „komplexer Systeme“ scheint dieser Ansatz aber nicht mehr zu klappen. Klassische Beispiele sind die Musterbildung bei bestimmten chemischen Reaktionen oder auch bei so genannten zellulären Automaten, einfachen Computermodellen, welche der Physiker und Mathematica-Erfinder Stephen Wolfram in seinem kürzlich erschienenen Buch „A new kind of science“ gar als universelles Modellsystem für praktisch alle natürlichen Prozesse ansehen will (was andere vehement bestreiten). Solch komplexe Systeme umschreibt man gerne mit dem Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Doch was ist denn nun ein „komplexes System“ und wie soll man solche Systeme untersuchen?
Antworten auf solche Fragen will die so genannte Komplexitätsforschung geben. Dieses im Verlauf der 1980er Jahre entstandene Forschungsgebiet geht davon aus, dass sich in sehr verschiedenen Systemen wie etwa Märkten, dem Immunsystem oder Computernetzen wie dem Internet gemeinsame Prinzipien finden, welche das Verhalten dieser Systeme beschreiben. Ein solcher Ansatz scheint auf den ersten Blick überrissen und anmassend – und ist genau besehen auch eine reduktionistische Idee. Tatsächlich existieren bis heute nur vage Ideen, wie solche Prinzipien aussehen könnten und was zentrale Begriffe wie „Komplexität“ in einem naturwissenschaftlichen Sinn bedeuten sollen. Dennoch ist in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere in den USA, ein eigentliches Netz von Instituten und Forschergruppen entstanden, welches sich explizit der Komplexitätsforschung verschrieben hat. Zu nennen sind etwa das Santa Fe Institut, das Zentrum für die Erforschung komplexer Systeme der Universität Michigan oder vergleichbare Institute an den Universitäten von Illinois und Kalifornien.
Bereits sind auch einige Firmen aus diesem Umfeld entwachsen. Ein Beispiel ist die „Prediction Company“, ansässig in Santa Fe, welche 1991 von Forschern des Santa Fe Instituts ins Leben gerufen wurde. Diese Firma entwickelt Modelle von Finanzmärkten, welche Händlern Hinweise geben sollen, wie möglichst lukrativ Investitionen in Aktien getätigt werden sollen. Bereits kurz nach der Gründung gab es Kontakte zur damaligen Schweizerischen Bankgesellschaft und heute besteht eine enge vertragliche Bindung zur UBS. Die Modelle der Predicition Company stehen den Händlern von UBS Warburg zur Verfügung. Die Gewinne, welche aus der Benutzung der Modelle resultieren, werden geteilt. Nach Auskunft von Norman Packard, einem Pionier der Komplexitätsforschung und Mitgründer der Prediction Company, zeigen die Modelle eine gute Leistungsfähigkeit, auch bezüglich des Platzens der High-Tech-Blase auf den neuen Märkten. Details hingegen sind kaum zu erfahren – mit gutem Grund, denn wenn eine Investitionsstrategie von zu vielen Marktteilnehmern angewandt wird, verliert sie ihren Vorteil.
Während die Methoden der „Prediction Company“ nur zum Teil auf der Komplexitätsforschung beruhen, so beruft sich die ebenfalls in Santa Fe ansässige BiosGroup explizit auf die Komplexitätsforschung. Auch mit dieser Firma ist ein bekannter Name der Komplexitätsforschung verbunden – der theoretische Biologe Stuart A. Kauffman. Die Firma entwickelt simulationsgestützte Entscheidungsinstrumente für Unternehmen und die US-Regierung.
Impulsprogramm „Komplexität“
Komplexitätsforschung scheint demnach wissenschaftlich wie wirtschaftlich interessant zu sein. Nun will auch Europa vermehrt in dieses Feld investieren. Innerhalb des 6. EU-Rahmen¬programms zum Thema Informationstechnologie lanciert der Bereich „Future and Emerging Technologies“ eine neue Initiative zur Förderung der Komplexitätsforschung. An einem Treffen im kommenden Frühling will die europäische Gemeinschaft der Komplexitätsforscher gemeinsame Forschungsprojekte in die Wege leiten.
Europa kann dabei durchaus eine Geschichte in diesem Feld vorweisen. Wegweisende Konzepte der Komplexitätsforschung wurden an europäischen Instituten kreiert: Der belgische Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine entwickelte eine Theorie von physikalischen und chemischen Systemen, welche sich weit entfernt von Gleichgewichtszuständen befinden. Der deutsche Physiker Hermann Haken beschrieb mit der Synergetik, wie in einem System kollektives Verhalten möglich wird. Der kürzlich verstorbene dänische Physiker Per Bak entwickelte das Konzept der „selbstorganisierten Kritizität“, welches beschreibt, wie sich Systeme in einen Zustand bringen, wo die Grössenordnung von Zustandsänderungen einer klaren Gesetzmässigkeit (einem so genannten Potenzgesetz) unterliegt. Eine Tradition in Komplexitätsforschung haben unter anderem auch die Universität Wien, die Ecole Normale Supérieur in Paris und die Universität Turin. In Deutschland wiederum existiert seit knapp zehn Jahren das Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme. In der Schweiz hingegen finden sich nur wenige Wissenschaftler, die sich diesem Forschungszweig zurechnen lassen, ein eigentliches Institut für Komplexitätsforschung gibt es nicht.
Doch was kann die Komplexitätsforschung zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen? Denn es ist nicht einfach, überhaupt einen gemeinsamen Forschungsgegenstand auszumachen. Immerhin lassen sich charakteristischen Merkmale komplexer Systeme feststellen: Sie bestehen aus vielen verschiedenen Teilen, deren Wechselwirkung sich im Verlauf der Zeit im Rahmen eines Evolutionsprozesses ändert. Die Teile haben keine totale Übersicht über das System, dennoch lässt sich ein gemeinsames Verhalten feststellen. Vielfältig sind denn auch die Beispiele komplexer Systeme: Tierpopulationen, Neuronen-Netzwerke oder auch das kontinentale Stromverteilnetz werden genannt. Um diese Systeme zu verstehen, wird auf Konzepte wie Selbstorganisation, chaotische Dynamik und Emergenz zurückgegriffen.
Plattform für Interdisziplinarität
Diese Vielfalt an Probleme macht deutlich, dass Komplexitätsforschung in erster Linie eine Plattform für interdisziplinäre Forschung ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus sehr verschiedenen Disziplinen treffen zusammen, um Gemeinsamkeiten in ihrer Analyse festzustellen. Dies ist die Basis für die Suche nach Prinzipien komplexer Systeme. Der offene Charakter der Komplexitätsforschung zeigt sich auch in den Institutionen. Beispielsweise das Santa Fe Institut wie auch das Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme lebt vom regen Austausch der Forscher: Weit umfangreicher als an anderen Instituten werden Austauschprogramme und interdisziplinäre Workshops organisiert.
Die Interdisziplinarität ist aber nicht das einzige charakterisierende Merkmal der Komplexitätsforschung. Der Computer hat in dieser Forschung eine herausragende Stellung als Instrument zur Wissensgewinnung. Mittels Simulationen komplexer Systeme werden Hypothesen geprüft und Einsichten gewonnen. Dies aus der Überlegung, dass man ein komplexes System nicht aufgrund der Analyse der Teile verstehen kann, sondern deren Zusammenwirken im Ganzen untersuchen muss. Ganze Forschungsgebiete entstanden aus diesem Ansatz, so etwa die „Artificial Life“-Forschung, welche Lebensvorgänge auf dem Computer simuliert. Die grosse Bedeutung des Computers hat aber auch seine Schattenseiten. Insbesondere Mitte der 90er Jahre wurde der Komplexitätsforschung vorgeworfen, sie befasse sich lediglich mit künstlichen Welten im Computer statt mit der realen Welt. Diese Kritik ist heute aus zwei Gründen abgeflaut: Einerseits suchen Komplexitätsforscher vermehrt nach physikalischen und chemischen Modellsystemen. Andererseits ist der Computer heute in sehr vielen Gebieten – man denke etwa an die Klimatologie – ein wichtiges Forschungsinstrument geworden und die Simulationstechniken sind besser geworden.
Herausforderung für Sozial- und Geisteswissenschaften?
Damit könnte die Komplexitätsforschung auch zur Herausforderung an die Sozial- und Geisteswissenschaften werden. Schon heute wird die Modellierung sozialer Systeme mit so genannten Software-Agenten (kleinen Programmen, welche die Rolle beispielsweise eines Händlers in einem Mark einnehmen) vorangetrieben. Entsprechende Ansätze finden sich in den Wirtschaftswissenschaften, der Politologie, den Organisations- und Verwaltungswissenschaften und der Soziologie. So untersucht beispielsweise der Rechtswissenschaftler Randal Picker von der Chicago Law School die Wechselwirkung von Normen und Gesetzen in einer Gesellschaft mittels einem Agentenmodell. Doyne Farmer am Santa Fe-Institut benutzt solche Modelle für das Studium von Selbstorganisationsprozessen in Finanzmärkten, welches durch die Rückkopplung zwischen Händlerverhalten und Marktdynamik entsteht. Der Politwissenschaftler Ian Lustick der Universität von Pennsylvanien (USA) benutzt Agentenmodelle gar zur Analyse der politischen Verhältnisse im Nahen Osten.
Denkbar ist, dass dereinst auch einige geisteswissenschaftliche Fragestellungen mit einem solchen Ansatz untersucht werden. So könnte in der Literaturwissenschaften die Verbreitung literarischer Formen in einer bestimmten Epoche analysiert, oder in der Geschichte die Simulation von „was wäre gewesen, wenn…“-Situationen dem Computer zugänglich werden. Vielleicht liesse sich damit gar eine Form der Testbarkeit sozial- und geisteswissenschaftlicher Hypothesen gewinnen. Natürlich dürfte ein unbesehenes Übernehmen solcher Methoden oder auch Begriffen wie „Komplexität“ mehr Schaden als Nutzen anrichten. Doch angesichts der Behauptung, die Sozial- und Geisteswissenschaften verzettelten sich in zu vielen Fachgebieten, dürfte der Druck für diese Forschungsfelder, nach neuen integrativen Methoden und Konzepten zu suchen, zunehmen. Solche könnten aus der Komplexitätsforschung stammen.
Informationen zum EU-Implusprogramm Komplexitätsforschung sind zugänglich unter: http://www.complexityscience.org/index.php und http://www.cordis.lu/ist/fetco-0.htm