„Psychiatrie soll Menschen nicht glücklich machen“
Embryonen und Todkranke beherrschen die medizinethische Debatte. Doch auch die Behandlung psychisch Kranker stellt schwierige ethische Fragen. Die Basler Zeitung sprach mit Daniel Hell, einer der beiden Psychotherapeuten in der neuen nationalen Ethikkommission für Humanmedizin, über Ethik in der Psychiatrie und die Herausforderungen der Hirnforschung an die „Heilkunde der Seele“.
Die heutige medizinethische Debatte kreist um menschliches Leben am Beginn (Stichwort: Embryonenforschung) und am Ende (Stichwort Sterbehilfe). Ist dies für Sie als Arzt, der sich quasi mit Problemfällen während der eigentlichen Lebensspanne eines Menschen befasst, nicht irritierend?
Daniel Hell: Es ist irritierend, doch auch verständlich. Die neuen Konfliktfelder liegen in diesen beiden Bereichen, hier findet auch der rascheste Wandel statt. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt ermöglicht heute Eingriffe, die vor zehn, zwanzig Jahren noch nicht vorstellbar waren. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass die Entscheide über den Anfang und das Ende des Lebens mitten im Leben getroffen werden. Da das Leben immer mehr als technisch beeinflussbar, ja als machbar angesehen wird, wird auch der Anspruch immer grösser, über die Entstehung und das Ende des Lebens zu entscheiden.
Die Psychiatrie scheint von dieser Entwicklung wenig berührt zu werden. Wo sehen Sie die wichtigsten ethischen Probleme in der Psychiatrie?
Die ethischen Probleme der Psychiatrie betreffen weniger den Beginn oder das Ende des Lebens, sondern quasi die Phase dazwischen. Grundsätzlich kann man drei Hauptthemen ausmachen: Die Anwendung von Zwang, die Unterlassung von Hilfestellungen und den Missbrauch von Therapien.
Was genau verstehen sie unter „Unterlassung von Hilfestellung“?
Je mehr Kosten-Nutzen-Überlegungen über den Einsatz medizinischer Interventionen bestimmen, desdo mehr besteht die Gefahr, dass kurzfristig und punktuell wirksame Therapien gegenüber personal orientierten, länger andauernden Behandlungen der Vorzug gegeben wird. Überspitzt gesagt: Psychopharmaka verdrängen das psychotherapeutische Arbeiten. Eine umfassende Ökonomisierung der Psychiatrie trägt auch dazu bei, das Psychiaterinnen und Psychiater vermehrt vor das Dilemma gestellt werden, von kostspieligen Therapien abzusehen und erst einzugreifen, wenn eine psychisch kranke Person vital gefährdet ist. Solche Notfalleingriffe sind aber häufig nur unter Anwenduung von Gewalt möglich. Handlungsbedarf besteht dort, wo der Einsatz von Zwang zu Recht juristisch begrenzt wird, aber keine Mittel zur Verfügung stehen, um Menschen in Not möglichst gewaltfrei zu helfen. Das bereits beobachtbare Risiko einer solchen Entwicklung besteht darin, dass überforderte Familien und Institutionen Hilfestellungen für psychisch Schwerkranke einschränken oder ablehnen, so dass die soziale Verelendung von psychisch Kranken zunimmt.
Steht man nicht manchmal auch vor der Situation, dass man dem Betroffenen nicht helfen sollte, obwohl man es gern täte, weil nur der Betroffene selbst sich wirklich helfen kann?
Das ist richtig. Unterlassen kann auch Toleranz bedeuten. Die entscheidende ethische Frage ist: Unterlässt man eine lebenswichtige Hilfestellung, die sich der Betroffene nicht selber geben kann? Oder ist es möglich, dem psychisch Leidenden die Verantwortung zu geben? Im Einzelfall wird man nach den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Patienten entscheiden müssen. Sicher gibt es aber psychisch kranke Menschen, welche die Fähigkeit verloren haben, für sich selbst zu sorgen. Hilfestellung ist da angebracht.
Inwiefern ist die Toleranz der Gesellschaft gegenüber psychisch Abnormen gestiegen oder gesunken: Ist heute jemand krank, der früher als schrullig galt?
Persönlich bin ich der Ansicht, dass man im höchstmöglichen Mass tolerant sein sollte und dass eine möglichst grosse Vielfalt an psychischer „Abnormität“ kein Schaden ist. Das Problem ist ein ganz anderes: Was macht man bei Leuten, deren Probleme Krankheitswert haben, mit denen man sich aber nicht abgeben möchte, weil sie schwierig, aggressiv oder sonstwie unangenehm sind? Dort sehe ich die Gefahr, dass Menschen dem Elend preisgegeben werden. In der Praxis bin ich zunehmend mit Fällen von Verelendung konfrontiert, welche menschenunwürdig sind.
Kann die Psychiatrie heute mit Sicherheit feststellen, welches Verhalten „krankheitswert“ hat und welches nicht?
Theoretisch nein, aber in der Praxis stellt sich diese Frage weniger. Im Alltag wird es meist klar, ob z.B. demente oder psychotische Menschen noch ihr Leben meistern können oder nicht. Damit ist die Unterscheidung zwischen krank und gesund einfach zu treffen. Anders ist es im Graubereich leichter Störungen. Doch dort ist auch die ethische Herausforderung kleiner.
Sie nannten die „Anwendung von Zwang“ als zweites grosses Themengebiet einer Ethik der Psychiatrie. Wie wichtig ist heutzutage diese Problematik?
Zwang ist grundsätzlich dann zu diskutieren, wenn eine akute Gefahr von Fremd- oder Selbstgefährdung bei psychisch Kranken nicht anders abwendbar ist. Rechtlich ist die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie in den letzten Jahren gerade in Basel besser geregelt geworden. So wird der fürsorgerische Freiheitsentzug hauptsächlich durch gerichtliche Instanzen getroffen. Die Problematik hat aber auch eine nichtrechtliche Seite. Vom ethischen Gesichtspunkt her müsste alles unternommen werden, um Zwangsmassnahmen zu vermeiden. Dazu gehört auch die organisatorische und finanzielle Unterstützung langfristiger therapeutischer Beziehungen zu psychisch Schwerkranken sowie alternative Betreuungs- und Unterbringungsmöglichkeiten im Fall von Krisen.
Wie steht es um die Anwendung von Zwang während der Behandlung?
Bei Zwangsmassnahmen während der Behandlung – also beispielsweise Zwangsmedikation oder Isolierung – gilt ebenfalls die strenge Richtlinie, dass der Eingriff nur bei akuter Selbst- oder Fremdgefährung erfolgen darf. Die rechtliche Kontrolle ist in diesem Fall aber schwieriger. Ethisch ergibt sich aber die Verpflichtung für jeden Arzt, sein Tun kritisch und selbstkritisch zu überprüfen.
A propos Selbstgefährdung: Ist es in jedem Fall gerechtfertigt, den Selbstmord von psychisch Kranken zu verhindern? Unheilbar Krebskranken wird dieses Recht ja zugestanden...
Sicherlich wäre es falsch, schon den Gedanken an Selbsttötung als Symptom einer psychischen Störung zu betrachten. Meine Erfahrung als Psychiater zeigt mir aber, dass in den meisten Fällen Suizidalität ein vorübergehendes Phänomen ist. Psychisch Kranke können sich in einer Situation befinden, in der sie gar nicht mehr realistisch Hoffnung haben können. Sie können sich nicht vorstellen, dass es besser werden kann. Diese Hoffnungslosigkeit ist aber vorübergehend – beispielsweise bei depressiven Menschen, was bei unheilbar Krebskranken nicht gegeben ist. Deshalb kann es meines Erachtens gerechtfertigt sein, den Suizid psychisch Kranker mittels Zwang zu verhindern. Was ich hingegen klar ablehne, ist ein Paternalismus, der vorgibt, in jedem Fall zu wissen, was für den anderen gut sei.
Inwiefern ist die Missbrauchsproblematik ein bedeutendes Problem für die Psychiatrie?
Jeder Missbrauch stellt ein Problem für die Betroffenen dar. Leider haben wir es nicht nur mit vereinzelten Fällen zu tun. Im Bereich der Psychologie und Psychiatrie rechnet man mit einem Anteil von mehreren Prozent an Missbrauchsfällen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Behandlungen. Man muss dieses Problem also ernst nehmen.
Wird sich die neue nationale Ethikkommission für Humanmedizin, deren Mitglied Sie ja auch sind, mit diesen Problemen beschäftigen?
Wie zu Beginn gesagt, stehen derzeit ganz andere Probleme an. Ich gehe aber davon aus, dass solche Probleme durchaus auch Thema der Ethikkommission werden können.
Psychiatrie übersetzt sich als „die Heilkunde der Seele“. Ist die Psychiatrie also für „seelische Gesundheit“ besorgt?
Was heisst „seelisch“? Wenn darunter das seelische Erleben, also Fühlen und Empfinden verstanden wird, ist seelisch etwas höchst persönliches, dass Drittpersonen weder festlegen noch normieren können. In diesem Sinn halte ich den Anspruch, die Psychiatrie solle für die „seelische Gesundheit“ besorgt sein, für eine Überforderung der Psychiatrie. Wenn die Psychiatrie vor den Grenzen des Individuums nicht halt macht, sondern den Anspruch erhebt, jedes Empfinden und Fühlen von Menschen als gesund oder krank bewerten zu können, macht sie das Persönlichste des Menschen zur Sache. Sie läuft darüber hinaus Gefahr, alles, was unangenehm ist, zu pathologisieren, z.B. Scham, Schuld oder starke Traurigkeit und Angst.
Was dann ist die Aufgabe der Psychiatrie?
Die Psychiatrie sollte dazu beitragen, unerträgliches Leiden zu mildern. Sie sollte ferner Betroffene mit psychotherapeutischen Mitteln helfen, Widerstände auszuräumen, die sie daran hindern, ihrem eigenen Erleben Raum zu geben. Zudem können Hirnleistungen – wie Gedächtnis und Denkprozesse – medikamentös unterstützt oder mit Verhaltenstraining verbessert werden. Falsch wäre es, wenn die Psychiatrie sich zum Ziel setzte, die Menschen glücklich zu machen.
Patienten werden heute als "Kunden" betrachtet. Inwiefern hat dieses Denken Einfluss auf die Medizin und insbesonder auf die Psychiatrie?
„Kunde“ ist nicht gleich „Kunde“. Wir sprechen ja nicht umsonst von Heil-„Kunde“. Von der alten Wortbedeutung her ist Kunde einer, der etwas kann und kundig ist. Kranke sind oftmals gerade in ihrem Können eingeschränkt. Es ist das therapeutische Ziel, dass Kranke wieder kundig werden und dann auch Kunden im alten Wortsinn sein können. Aber viele Bestrebungen im ökonomisierten Gesundheitswesen gehen dahin, aus Kranken Kunden zu machen, die im Gesundheitsmarkt möglichst günstig, aber auch möglichst viel einkaufen. Dies ist eine Folge der Marktmechanismen, die der Ökonomisierung des Gesundheitswesens inhärent sind. Die Psychiatrie braucht durchaus kundige Kranke. Aber wenn aus der Psychiatrie ein Warenhaus gemacht wird, bleiben gerade jene, die es am nötigsten haben, unbedient.
Die moderne Hirnforschung gilt als weitere grosse Herausforderung an die Psychiatrie, indem sie etwa beansprucht, neue Erklärungsmodelle für psychische Krankheiten finden zu können. Wie beurteilen Sie diesen Anspruch?
Die Hirnforschung wird die Psychiatrie mit Sicherheit sehr stark verändern. Sie wird meines Erachtens mindestens einen ebenso tiefgreifenden Einfluss haben wie die heute vor allem diskutierte molekulare Genetik. Ich halte es für zentral, dass das Wissen über das Gehirn, welches die Neurowissenschaften zur Zeit und in den kommenden Jahren erarbeiten, in ein Menschenbild eingefügt wird, das sich am persönlichen Erleben orientiert. Ich halte es für verfehlt, das persönliche Erleben den Hirnfunktionen unterordnen zu wollen und es als nebensächlich einzuschätzen. Die meisten Hirnforscher, die ich kenne, sind sich der Grenzen ihrer Methodik bewusst. Nur die Anwender dieser Erkenntnisse unterschätzen mitunter deren Aussagekraft.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich das Menschenbild derart wandelt, dass man seelische Nöte dereinst als fehlerhafte Hirnfunktionen interpretieren könnte?
Diese Gefahr besteht. Der Psychopharmaka-Boom hat schon heute mehr mit diesem Wandel als mit einer Erweiterung der pharmakotherapeutischen Möglichkeiten zu tun. Die Hirnforschung wird teilweise erklären können, wie das „Instrument Gehirn“ funktioniert, doch sie wird nicht erklären können, wie wir auf diesem Instrument spielen, bzw. wie das Instrument selber spielt.
Aber vielleicht wird dank Hirnforschung der Traum des vollkommenen Glücks ja doch wahr...? Was wäre, wenn das „Soma“ von Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ dereinst tatsächlich existieren und funktionieren würde?
Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Schauen wir doch auf unsere heutigen „Soma“-Konsumenten: die Konsumenten von Drogen wie Heroin oder Kokain. Diese Menschen sind sehr oft in grossen Schwierigkeiten. Substanzen, welche unser Bewusstsein beeinflussen, haben Menschen offenbar schon immer konsumiert. Funktioniert hat die Sache aber nur dann, wenn der Konsum dieser Stoffe in kulturelle Riten eingebunden wurde.
Der Begriff der „Seele“ macht für Hirnforscher keinen Sinn. Wie steht es da mit der „Seelenheilkunde“ – der Psychiatrie?
Der Begriff der Seele ist aus dem Sprachgebrauch der Psychiatrie weitgehend verschwunden. Auch ich würde lieber vom seelischen Erleben – also vom persönlichen Erleben seiner selbst – sprechen, als von einer Seele. Die Seele ist ja kein Ding und keine Substanz. Dennoch sollte das abendländische Konzept des Seelischen nicht einem reduktionistischen Menschenverständnis geopfert werden. Auch nicht in der Psychiatrie.
Daniel Hell
Daniel Hell ist Ordinarius für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich und klinischer Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. In Basel und Zürich studierte er Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Er gilt als einer der weltweit renommiertesten Experten für Depression (ausgewählte Bücher: Ehen depressiver und schizophrener Menschen, Berlin, Heidelberg, New York 1998; Ethologie der Depression, Stuttgart 1993; Schizophrenien, Heidelberg, New York 1993; Welchen Sinn macht Depression?, Hamburg 2000; Mittendrin und nicht dabei - Mit Depressionen leben lernen; München 2001.