Ist die Moral natürlich?
Ethik im Experiment: Forscher suchen das Gute im Menschen
Besitzen Menschen einen natürlichen „Moralinstinkt“? Immer mehr Forscher bejahen diese Frage. Doch es gibt auch Zweifler, welche vor einer Vernachlässigung der kulturellen Komponente warnen. Von Markus Christen
Was treibt die Menschen zum Guten? Derzeit hat diese Frage bei Hirnforschern und anderen Wissenschaftlern Konjunktur. Manche, wie beispielsweise der renommierte Harvard-Psychologe Steven Pinker, postulieren gar einen „moralischen Instinkt“, der sich im Verlauf der Evolution bei den Menschen herausgebildet haben soll. Der Mensch wäre demnach von Natur aus gut – eine frohe Botschaft in unsicheren Zeiten.
Moralische Heuchelei
Doch inwieweit hat Moral wirklich ein biologisches Fundament? Der amerikanische Psychologe Daniel Batson erkundet seit vielen Jahren mit Experimenten das moralische Verhalten seiner Mitmenschen, um mehr über dessen Ursachen und Motive zu erfahren. Und seine Ergebnisse sprechen eine etwas andere Sprache: „Menschen verhalten sich weit häufiger, als sie selbst zugeben, wie moralische Heuchler. Sie wollen moralisch erscheinen, die Kosten moralischen Verhaltens aber vermeiden.“
Solche Schlüsse zieht Batson aus Experimenten, in denen beispielsweise eine Versuchsperson sich und einem Unbekannten je eine Aufgabe übertragen muss. Eine Aufgabe ist spannend und jeder erfolgreiche Schritt wird mit einem 30-Dollar-Los belohnt. Die andere ist langweilig und mit keinerlei Gewinn verbunden. Die Person wurde instruiert, dass man üblicherweise eine Münze wirft, um die Aufgaben fair zu verteilen. Tatsächlich behauptet jeweils über die Hälfte der Versuchspersonen in solchen Experimenten, sie hätten von diesem Verfahren Gebrauch gemacht – doch über 90% von ihnen haben sich selbst die spannende Aufgabe übertragen. Über ihre Motive befragt, meint die grosse Mehrzahl, sie hätten sich fair verhalten. Offensichtlich klaffen hier Sein und Schein auseinander.
Batson sieht in einer solchen Diskrepanz einen Selbstbetrug, dem offenbar viele Menschen unterliegen. Doch wie kann es zu einem solchen kommen, wenn Menschen über natürliche Fähigkeiten wie Empathie verfügen, die zahlreiche Forscher als einer der biologischen Bausteine von Moral ansehen? Überlistet sich der Moralinstinkt gleichsam selbst? „Wir müssen im Feld der Moralforschung sehr präzise klären, was genau wir untersuchen wollen“, meinte Batson kürzlich am Zürcher Symposium „Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens“ des gleichnamigen Forschungsschwerpunkts der Universität Zürich.
„Empathie“ als Baustein von Moral kann Unterschiedliches meinen, erläutert Bateson. Man kann fühlen, was der andere fühlt, oder man ist um den anderen besorgt. Für ersteres Verständnis von Empathie findet man durchaus eine biologische Basis – doch so verstandenes Einfühlungsvermögen kann in gewissen Situationen mit der Forderung nach Gerechtigkeit und damit mit der Moral in Konflikt geraten. „Biologische Dispositionen für Moralität sind keineswegs eine Garantie dafür, dass sich Menschen gemäss anerkannten moralischen Standards verhalten“, so Batson. Er vermutet aufgrund seiner Studien zwar schon, dass man bei Menschen eine biologisch fundierte Wertschätzung der Wohlfahrt des Anderen findet. Doch moralische Heuchler wissen es offenbar zu vermeiden, sich in andere einzufühlen.
Kulturelle Formung moralischer Gefühle
Nebst Empathie gelten bei Moralforschern Emotionen wie etwa Ekel als weiterer Baustein eines biologischen Fundaments von Moral. Doch auch hier gibt es Zweifler wie der amerikanische Philosoph Jesse Prinz, ebenfalls ein Referent am Zürcher Symposium. Er betont zwar die wichtige Rolle moralischer Emotionen bei ethischen Entscheidungen. Er verweist aber auf den entscheidenden Einfluss der Kultur bei der Formung und Ausprägung dieser Gefühle.
Emotionen, die bei bestimmten, üblicherweise moralisch bewerteten Handlungen auftreten, sind keine unveränderliche Naturtatsachen, schreibt Prinz in seinem neuen Buch „The Emotional Construction of Morals“. Ein gutes Beispiel dafür ist die moralische Bewertung des Kannibalismus. In unserem kulturellen Kontext weckt nur schon die Vorstellung, Menschenfleisch zu essen, Widerwillen und Ekel. Entsprechend ist Kannibalismus geradezu ein Paradebeispiel für Unmoral. Die ethnologische Forschung kennt aber zahlreiche Beispiele von gesellschaftlich akzeptierten Kannibalismus – ein vergleichender Überblick von über 100 gut untersuchten Gesellschaften aus 4'000 Jahre Menschheitsgeschichte belegt Kannibalismus in über einem Drittel dieser Kulturen, so Prinz.
Die teilweise detailreichen Schilderungen belegen dabei nicht nur die moralische Akzeptanz von Kannibalismus. Sie zeigen auch, dass diese Menschen damit keinerlei Ekelgefühle verbanden. Emotionen spielen demnach eine zentrale Rolle dabei, ob Handlungen als moralisch gut oder schlecht bewertet werden. Die Emotionen selbst aber sind selbst wieder Objekt einer kulturellen Formung. „Die heutige empirische Moralforschung vernachlässigt diese kulturelle Komponente“, so Prinz.
Die Forschungen von Batson und Prinz weisen darauf hin, dass „der gute Mensch“ keine Naturtatsache ist und dass das Böse nicht einfach als Resultat eines falsch verdrahteten Gehirns verstanden werden kann. Nicht ein „Moralinstinkt“ sichert uns vor dem Bösen. Vielmehr schafft sich der Mensch das kulturelle Umfeld, in welchem seine biologischen Dispositionen für Moral ins Gute oder ins Schlechte abgleiten können.